Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Kapitalismus verträgt sich mit autoritären Strukturen

Innerhalb der letzten Monate leitete die Führung der Republik Belarus einen radikalen, wirtschaftlichen Kurswechsel ein. Das autoritär und zentralistisch von Präsident Alexander Lukaschenko regierte östliche Nachbarland der Europäischen Union wird von westlichen Politikern gerne als "Europas letzte Diktatur" bezeichnet. Weißrussland ist aber auch – noch - das einzige postsowjetische Land, in dem Staatsbesitz die dominierende wirtschaftliche Eigentumsform darstellt und eine aus wilden Privatisierungen hervorgegangene Oligarchie nach russischem Vorbild schlichtweg nicht existiert. Der Anteil des privaten Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des osteuropäischen Landes macht gerade mal 25 Prozent aus, während das Vermögen der reichsten Weißrussen nur in die Millionen, nicht aber in die Milliarden geht.

Doch diese Zeiten, in denen die Eigentumsverhältnisse in der belarussischen Ökonomie einer Miniaturausgabe derer der untergegangenen Sowjetunion glichen, scheinen sich endgültig ihremEnde entgegen zu neigen. Kürzlich beschloss der belarusische Ministerrat ein ehrgeiziges Privatisierungsprogramm für die Periode 2008 bis 2010, während der insgesamt 519 Staatsunternehmen veräußert werden sollen. Bereits in diesem Jahr sollen 176 Betriebe unter den Hammer kommen, darunter regelrechte Juwelen der weißrussischen Industrie, wie der Industriekonzern "Minsker Motorenwerke", oder das "MAZ"-Autowerk, in dem LKWs und Busse hergestellt werden.

2009 will sich der belarussische Staat von 200 Produktionsstätten trennen, darunter dem im gesamten postsowjetischen Raum berühmten, Minsker Traktorenwerk oder den Fernsehgerätehersteller Vitsyaz. 2010 werden noch einmal 130 Betriebe abgestoßen. Bereits Mitte dieses Jahres wurde der belarussische Mobilfunkanbieter BeST an den türkischen Telekommunikationskonzern Turkcell für 500 Millionen US-Dollar verkauft. Auch Bankenprivatisierungen stehen auf der Tagesordnung. Die deutsche Commerzbank soll das fünftgrößte belarussische Bankhaus Belinvestbank übernehmen, die österreichische Raiffeisen International erwarb bereits die drittgrößte weißrussische Prior Bank.

Die weißrussischen Behörden versichern, dass der Privatisierungsprozess geordnet und stufenweise verlaufen werde, wodurch "wilde", unkontrollierte Privatisierungen verhindert würden. "Die meisten Betriebsdirektoren haben Angst, die Kapitalisten aus Russland würden alles aufkaufen. Doch wir werden so was bestimmt nicht zulassen", zitierte die Nachrichtenagentur "BelTa" die beim weißrussischen Staatseigentumsfonds tätige Beamtin Irina Barkowskaja. Demnach würden in einer ersten Phase nur 25-prozentige Aktienpakete vom Staat feilgeboten und frei gehandelt. Ab dem 1. Januar 2009 können dann die Aktien von den Unternehmen frei gehandelt werden, in denen der Staat nur noch 50 Prozent der Anteile hält. Erst ab dem 1. Januar 2011 sollen alle diese Restriktionen gänzlich wegfallen.



Parallel zu dieser massiven Privatisierungsoffensive bemüht sich die belarussische Regierung um ein besseres "Investitionsklima" in dem knapp zehn Millionen Einwohner zählenden Land. Neben der obig erwähnten stufenweisen Abschaffung der Einschränkungen beim Umlauf der Aktien, verwies der belarussische Ministerpräsident Sergei Sidorski in einer Presseerklärung auf ein ganzes Maßnahmenbündel: So wurde die Grundstücksvergabe an Investoren vereinfacht, die Registrierung und Lizenzierung von Unternehmen wurden beschleunigt. "Wir gehen davon aus, dass der Anteil von ausländischen Investitionen am Gesamtvolumen der Stammkapitalanlagen bei 15-20 Prozent liegen wird. Dabei sind wir in erster Linie an der Heranziehung der Direktinvestitionen interessiert", fügte Sidorski hinzu.

Die Chancen hierfür stehen nicht mal so schlecht: Laut einem Präsidialerlass vom März dieses Jahres gab der weißrussische Staat überdies sein Recht auf die "Goldene Aktie" auf, mittels derer Behörden Einfluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen konnten. Dies würde "die Rechte der belarussischen und ausländischen Investoren stärkten", ließ die belarussische Botschaft in Washington verlautbaren. Schließlich werden auch in Belarus "freie Wirtschaftszonen" mit reduzierter Steuerbelastung für die dort tätigen Unternehmen eingerichtet.

Sollten in Weißrussland künftig tatsächlich die "Rechte von Investoren" geachtet werden, könnte die im Westen inflationär gebrauchte Formel von "Europas letzter Diktatur" schnell in Vergessenheit geraten. Schließlich scheuen weder Berlin, Brüssel noch Washington engste Kontakte zu solchen Regimes, sobald dies ihren Interessen dient. Tatsächlich stiegen – von einem bescheidenen Niveau aus - bereits im ersten Halbjahr 2008 die Ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in Belarus um 280 Prozent (gegenüber dem Vorjahreszeitraum) auf 233 Millionen US-Dollar. Mit 1,4 Prozent an der gesamten Investitionstätigkeit ist der Anteil der FDI noch gering, doch auch deutsche Wirtschaftsmagazine entdecken nun die "Terra Incognita" Belarus. So schrieb das Wirtschaftsmagazin Ost-West-Contact über die neuen "Chancen für deutsche Unternehmen" in Weißrussland, da laut Wladimir Augustinski, dem Leiter der Repräsentanz der Deutschen Wirtschaft in der Republik Belarus, der Investitionsstandort Belarus "besser als sein Ruf" sei:

Das Land blieb und bleibt mit dem Makel behaftet, dass es sich um eine der letzten Diktaturen in Europa handelt. Staatspräsident Alexandr Lukaschenko und sein protektionistischer Wirtschaftskurs mit schwierigen politischen und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen gelten als große Investitionsbarrieren. Dass sich dies nun möglicherweise ändern könnte, ist nicht nur dem neuen britischen PR-Berater Lukaschenkos zu verdanken, sondern auch einem wirtschaftsliberaleren Kurs der belarussischen Regierung. Diese hat zu Anfang des laufenden Jahres verschiedene Gesetze erlassen, die ein unternehmerisches Engagement für ausländische Investoren erleichtern.Ost-West-Contact

Hintergrund der Privatisierung ist der "Energieschock"

Der erwähnte "PR-Berater" ist übrigens Lord Tim Bell, der bereits den neoliberalen Pionieren Augusto Pinochet und Margaret Thatcher, sowie dem Oligarchen Boris Beresowsky ein freundliches "Image" verpasste. Ost-West-Contact benennt in dem Artikel auch die Ursachen für diesen radikalen Kurswechsel Lukaschenkos mit dem nun eingeleiteten Ausverkauf der belarussischen Wirtschaft. Es waren die "Energieschocks" vom Ende 2006 und Anfang 2007, als Russland die vormals subventionierten Öl- und Gaspreise für Belarus auf einen Schlag verdoppelte, die der Wirtschaft schwer zu schaffen machten. Nach heftigen Auseinandersetzungen um die Jahreswende 2006/2007, die zeitweilig den Erdgas-Transit nach Westeuropa zum Erliegen gebracht hatten, musste Minsk eine Anhebung des Preises für Erdgas von 46 auf 100 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter hinnehmen. Zudem musste Belarus dem Verkauf von 50 Prozent des landeseigenen Gasversorgers Beltransgas an Gasprom zustimmen – dieser soll nun gänzlich in russisches Eigentum übergehen.

Das beeindruckende Wirtschaftswachstum der Republik Belarus, das seit 2000 oftmals an die zehn Prozent erreichte und selbst 2007 noch 8,2 Prozent betrug, wurde durch die Einfuhr billiger russischer Energieträger gefördert. Russland bildet wiederum den wichtigen Exportmarkt für die belarussischen Industriegüter. Bei einem Verbrauch von 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich und 250.000 Barrel Erdöl täglich belief sich – in Relation zu den Weltmarktpreisen von 2006 – die jährliche Summe der russischen Subventionen auf 6,6 Milliarden US-Dollar. Hinzu kam, dass die täglichen Ölimporte aus Russland um etwa 100.000 Barrel über dem Konsum des Landes liegen. Dieses überschüssige Öl wurde in den Raffinerien des Landes weiterverarbeitet und mit Gewinn auf dem Weltmarkt verkauft.

Doch ab 2007 verdüsterten sich die wirtschaftlichen Aussichten des Landes rapide. Die mit diesen Preiserhöhungen einhergehenden Mehrbelastungen für die belarussische Ökonomie summierten sich auf 3,5 Milliarden Dollar in 2007. Schnell bildete sich ein enormes Handelsdefizit heraus, das allein zwischen Januar und Mai 2007 an die 1,45 Milliarden US-Dollar betrug. Inzwischen konnte das weitere Wachstum dieses vor allem gegenüber Russland entstandenen Handelsdefizits verlangsamtwerden, sodass es von Januar bis Mai 2008 nur noch 845 Millionen Dollar betrug. Im gesamten Jahr 2008 soll das Defizit 1,4 Milliarden Dollar erreichen.

Zur Finanzierung dieser mit dem Defizit einhergehenden Verschuldung musste die weitgehend isolierte belarussische Führung Kreditgeber suchen – und sie fand diese ausgerechnet in Kreml. Ende 2007 nahm Minsk einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar in Moskau auf, Anfang dieses Jahres stand eine erneute Kreditvergabe zwischen Russland und Belarus auf der Tagesordnung. Mit diesem Geld wurde auch das im gesamten postsowjetischen Raum vorbildliche Sozialsystem der Republik Belarus weiter am Leben gehalten, das zur Legitimation der Herrschaft Lukaschenkos maßgeblich beiträgt. Mit der wachsenden finanziellen Abhängigkeit der Republik Belarus von Russland hofft man im Kreml, endlich die ersehnte "Union" beider Länder erwirken zu können.

Moskau schwebt die Eingliederung Weißrusslands als eine weite Provinz in die Russische Föderation vor, während Alexander Lukaschenko genau dieses Szenario zu verhindert trachtet. Deswegen hat westliches Kapital auch ganz gute Chance bei der Erschließung dieser letzten postsozialistischen "Terra incognita" in Osteuropa. Die weißrussische Regierung will schlicht die westlichen Investitionen als Gegenbalance zum russischen Einfluss verstanden wissen.

Kapitalismus verträgt sich mit autoritären Strukturen

Als der große Verlierer dieser verspäteten osteuropäischen Systemtransformation dürfte einmal wieder die Bevölkerung hervorgehen, die sich auf einen massiven Verarmungsprozess gefasst machen darf. Wie in China und vielen anderen Ländern verträgt sich auch in Belarus die Einführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise hervorragend mit der Beibehaltung autoritärer Strukturen. Selbst die paar armseligen Bürgerrechte, die der aufziehende Polizeistaat den Bürgern Deutschlands und der EU noch zugesteht, werden den Weißrussen vorenthalten. Beispielsweise bei der anstehenden Parlamentswahl im September: Inzwischen steht fest, dass die prowestliche Opposition des Landes ihre Wahlbeobachter in höchstens einem Drittel aller Wahllokale wird platzieren dürfen. Deren vom Westen sorgsam geförderte Vertreter sind übrigens angesichts des Kurswechsels Lukaschenkos – der so ziemlich genau das macht, was sie beständig gefordert haben – ziemlich ratlos und flüchten sich in reichlich ungelenk klingende Oligarchenschelte. Auf der Webseite der Charta 97 heißt es, der weißrussische "Sommerschlussverkauf" sei eine:

... unrechtmäßige und großflächige Privatisierung, durchgeführt von Lukaschenkos "Familie" und seinem inneren Kreis. ... Er [Lukaschenko – J.N.] hofft auf eine unkontrollierte Privatisierung mit der Hilfe zynischer Geschäftsmänner aus dem Westen und dem Osten. Außerdem wird das belarusische Staatseigentum "unter Preis" verkauft, weil Lukaschenko das Geld braucht, um die ausländischen Kredite zurückzuzahlen, die er in letzter Zeit in großer Quantität aufnahm.

Charta 97

Sollte die belarussische Opposition weiterhin so gegen die "zynischen Geschäftsmänner aus dem Westen" agitieren, könnte sie bald ohne westliche Unterstützung dastehen – und Lukaschenkos Belarus in der öffentlichen europäischen Wahrnehmung einen ähnlichen Status erhalten wie all die anderen mit dem Westen kooperierenden autoritären Staaten, die außer einem sporadisch halbherzig erhobenen Zeigefinger kaum etwas zu befürchten haben.

Ironischer Weise muss Lukaschenko nun das vollführen, was zu verhindern er in den 90er Jahren antrat. Der ehemalige Kolchosendirektor kam als ein politischer Außenseiter mit einem erdrutschartigen Sieg 1994 an die Macht, als er die wilden Privatisierungen und den regelrechten Absturz der belarussischen Ökonomie zu beenden versprach, die im Verlauf des Zerfalls der Sowjetunion auch Weißrussland erschütterten. Lukaschenko hielt Wort und konnte sich trotz der zunehmend repressiven Regierungsform einer breiten Unterstützung sicher sein: Löhne und Renten wurden pünktlich ausgezahlt, die Privatisierungen gestoppt, ein umfassendes Sozialsystem verhindert (noch) die Verarmung der Bevölkerung. Der von Lukaschenko geformte "Marktsozialismus" wurde von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen, wie auch die New York Times eingestehen musste. Doch im Gegensatz zu 1994, wo sich die Mehrheit der Belarussen in freien Wahlen für ein Ende des kapitalistische Experiments aussprach, wird die Bevölkerung bei der nun eingeleiteten kapitalistischen Systemtransformation sicherlich nicht nach ihrer Meinung gefragt werden.

http://www.heise.de/tp/artikel/28/28458/1.html


Date: 2016-01-14; view: 867


<== previous page | next page ==>
La leyenda de los Reyes Magos | Worüber der Franz unzufrieden ist
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.009 sec.)