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Opicina, 16. November 1992 7 page

 

Am Tag, an dem Augusto zum ersten Mal zu uns nach Hause kam, hatte es geschneit. Ich weiß es noch, weil hier in der Gegend selten Schnee fällt, und weil unser Gast, eben wegen des Schnees, zu spät zum Mittagessen gekommen war. Augusto befaßte sich, genau wie mein Vater, mit Kaffeeimport. Er war nach Triest gekommen, um über den Verkauf unserer Firma zu verhandeln. Nach dem Schlaganfall hatte mein Vater, da er keine männlichen Erben hatte, beschlossen, die Firma abzugeben, um seine letzten Jahre in Frieden zu verbringen. Bei dieser ersten Begegnung war mir Augusto sehr unsympathisch erschienen. Er kam aus Italien, wie man bei uns sagte, und wie alle Italiener hatte er etwas Geziertes, das ich störend fand. Es ist seltsam, kommt aber häufig vor, daß für unser Leben wichtige Menschen uns im ersten Augenblick überhaupt nicht gefallen. Nach dem Essen hatte sich mein Vater zur Mittagsruhe zurückgezogen, und ich war im Wohnzimmer zurückgelassen worden, um ihm Gesellschaft zu leisten, bis es Zeit für ihn würde, den Zug zu nehmen. Ich war überaus verärgert. In dieser einen Stunde oder etwas mehr, die wir zusammensaßen, behandelte ich ihn sehr schnippisch. Auf seine Fragen antwortete ich einsilbig, wenn er schwieg, schwieg ich ebenfalls. Als er an der Tür zu mir sagte: »Also dann, auf Wiedersehen, Signorina«, streckte ich ihm mit der gleichen Herablassung die Hand hin, mit der eine Edelfrau die ihre einem Mann niedrigeren Ranges gewährt.

»Dafür, daß er Italiener ist, ist er recht nett, der Signor Augusto«, sagte meine Mutter am Abend beim Essen. »Er ist ein anständiger Mensch«, erwiderte mein Vater. »Und er versteht sein Geschäft.« Rate mal, was an der Stelle ge- schah? Meine Zunge ging von alleine los: »Und er trägt keinen Ehering am Finger«, rief ich mit plötzlicher Eeb- haftigkeit. Als mein Vater antwortete: »Er ist ja auch Witwer, der Ärmste«, war ich schon rot wie eine Pfefferschote und mir selbst gegenüber in tiefer Verlegenheit.

Zwei Tage später fand ich, als ich von einer Nachhilfestunde heimkam, im Eingang ein in Silberpapier gewickel-tes Paket vor. Es war das erste Paket, das ich in meinem Leben erhielt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer es mir
geschickt hatte. Unter dem Papier steckte ein Kärtchen: Kennen Sie diese Süßigkeiten? Darunter stand Augustos Unterschrift.

Am Abend, mit dem Konfekt auf meinem Nachttisch, konnte ich nicht einschlafen. Er wird es aus Höflichkeit gegenüber meinem Vater geschickt haben, sagte ich mir, und aß unterdessen ein Stück Marzipan nach dem anderen. Drei Wochen später kam er wieder nach Triest, »aus geschäftlichen Gründen«, sagte er beim Mittagessen, aber anstatt gleich wieder abzureisen wie beim letzten Mal, blieb er eine Weile in der Stadt. Bevor er sich verabschiedete, bat er meinen Vater um Erlaubnis, eine Rundfahrt im Auto mit mir machen zu dürfen, und mein Vater willigte ein, ohne mich überhaupt zu fragen. Den ganzen Nachmittag fuhren wir durch die Straßen der Stadt, er sprach wenig, fragte mich nach den Baudenkmälern, und dann schwieg er und hörte mir zu. Er hörte mir zu, das war ein wahres Wunder für mich.



Am Morgen seiner Abreise ließ er mir einen Strauß roter Rosen bringen. Meine Mutter war ganz aufgeregt, ich tat so, als berührte es mich gar nicht, aber bevor ich das Briefchen öffnete und las, wartete ich viele Stunden. Bald besuchte er uns einmal die Woche. Jeden Samstag kam er nach Triest, und jeden Sonntag fuhr er wieder zurück in seine Stadt. Weißt du noch, was der Kleine Prinz machte, um den Fuchs zu zähmen? Er ging jeden Tag zu seiner Höhle und wartete, bis er herauskam. So lernte der Fuchs allmählich, ihn zu erkennen und keine Angst zu haben. Ja, nicht nur, er lernte auch, gerührt zu sein beim Anblick all dessen, was ihn an seinen kleinen Freund erinnerte. Von der gleichen Taktik verführt, begann auch ich, schon am Donnerstag unruhig zu werden und auf ihn zu warten. Die Zähmung hatte begonnen. Nach einem Monat drehte sich mein ganzes Leben um das Warten auf das Wochenende. In kurzer Zeit war eine große Vertrautheit zwischen uns aufgekommen. Mit ihm konnte ich endlich reden, er schätzte meine Intelligenz und meinen Wissensdurst; ich schätzte an ihm die Gelassenheit, die Bereitschaft zuzuhören, das Gefühl von Schutz und Sicherheit, das ältere Männer einer jungen Frau geben können.

Wir heirateten mit einer schlichten Zeremonie am ersten Juni 1940. Zehn Tage später trat Italien in den Krieg ein. Aus Sicherheitsgründen übersiedelte meine Mutter in ein kleines Bergdorf in Venetien, während ich mit meinem Mann nach Aquila ging.

Du hast die Geschichte jener Jahre nur in Büchern gelesen, hast sie studiert, anstatt sie zu erleben, daher mag es dir seltsam erscheinen, daß ich kein einziges Mal auf die tragischen Ereignisse jener Zeit angespielt habe. Es gab den Faschismus, die Rassengesetze, der Krieg war ausgebrochen, und ich befaßte mich immer weiter nur mit
meinem kleinen persönlichen Unglück, mit den winzigsten Regungen meiner Seele. Glaub aber nicht, daß meine
Haltung die Ausnahme war, im Gegenteil. Abgesehen von einer kleinen politisierten Minderheit, verhielten sich in unserer Stadt alle so. Mein Vater, zum Beispiel, hielt den Faschismus für eine Farce. Wenn er zu Hause war, bezeichnete er den Duce als »diesen Melonenverkäufer«. Dann jedoch ging er mit den Parteibonzen zum Abendes-sen und unterhielt sich bis spät in die Nacht mit ihnen. Auf die gleiche Weise fand ich es vollkommen lächerlich und lästig, zum »Italienischen Samstag« zu gehen, in die Farben einer Witwe gekleidet an den Aufmärschen teilzuneh-men und zu singen. Trotzdem ging ich hin, dachte, es sei nur eine Unannehmlichkeit, der man sich beugen mußte, um in Ruhe zu leben. Natürlich ist so ein Verhalten nicht großartig, aber doch sehr verbreitet. Ruhig zu leben ist ei-nes der höchsten Ziele des Menschen, das war damals so und hat sich wahrscheinlich bis heute nicht geändert.

In Aquila zogen wir in die Wohnung von Augustos Eltern, eine geräumige Etage im ersten Stock eines Adelspa-lasts im Zentrum. Sie war mit düsteren, schweren Möbeln eingerichtet, es gab wenig Licht, der Anblick war finster. Beim Eintreten fühlte ich, wie sich mein Herz zusammenzog. Und hier soll ich leben, fragte ich mich, mit einem Mann, den ich kaum sechs Monate kenne, in einer Stadt, in der ich keinen einzigen Freund habe? Mein Mann begriff sofort, in welchem Zustand der Verlorenheit ich mich befand, und die ersten beiden Wochen tat er alles Menschen-mögliche, um mich zu zerstreuen. Jeden zweiten Tag fuhren wir mit dem Auto in die Berge der Umgebung. Wir wanderten beide leidenschaftlich gern. Als ich diese herrlichen Berge sah, die Dörfer, die sich wie in den Weih-nachtskrippen oben auf die Kuppen duckten, fühlte ich mich etwas erleichtert, mir war, als hätte ich den Norden und mein Geburtshaus doch nicht ganz verlassen. Wir sprachen weiterhin viel miteinander. Augusto liebte die Natur, besonders Insekten, und während wir gingen, erklärte er mir eine Menge. Einen großen Teil meines Wissens auf dem Gebiet der Naturwissenschaften verdanke ich ihm.

Am Ende jener beiden Wochen, die unsere Hochzeitsreise gewesen waren, fing er wieder zu arbeiten an, und ich begann mein Leben allein in der großen Wohnung. Außer mir gab es noch eine alte Haushälterin, die sich um alles kümmerte. Wie alle bürgerlichen Ehefrauen mußte ich nur das Mittagessen und das Abendessen planen, sonst hatte ich nichts zu tun. Ich nahm die Gewohnheit an, jeden Tag allein lange Spaziergänge zu machen. Mit stürmischem Schritt lief ich die Straßen hinauf und hinunter, viele Gedanken gingen mir durch den Kopf, und es gelang mir nicht, Klarheit in all diese Gedanken zu bringen. Liebe ich ihn, fragte ich mich, plötzlich innehaltend, oder war alles nur eine große Täuschung? Wenn wir bei Tisch oder abends im Wohnzimmer saßen, betrachtete ich ihn und fragte mich dabei: Was empfinde ich? Ich empfand Zärtlichkeit, das war sicher, und bestimmt empfand er auch Zärtlichkeit für mich. Aber war das Liebe? War das alles? Da ich nie etwas anderes empfunden hatte, wußte ich keine Antwort.

Nach einem Monat kamen meinem Mann die ersten Gerüchte zu Ohren. »Die Deutsche«, hatten anonyme Stimmen behauptet, »läuft zu jeder Tages- und Nachtzeit allein in der Gegend herum.« Ich war entsetzt. Da ich mit anderen Gewohnheiten aufgewachsen war, hätte ich es nie für möglich gehalten, daß unschuldige Spaziergänge Anstoß erregen könnten. Augusto tat es leid, er begriff, daß mir die Sache unverständlich war, dennoch bat er mich um des Friedens in der Stadt und um seines guten Namens willen, meine einsamen Streifzüge aufzugeben. Nach sechs Monaten dieses Lebens fühlte ich mich vollkommen abgestumpft. Der kleine Tote in mir war zu einem riesigen Toten geworden, ich handelte wie ein Automat, mein Blick war erloschen. Wenn ich sprach, hörte ich meine Worte von ferne, als kämen sie aus dem Mund eines anderen.

Unterdessen hatte ich auch die Frauen von Augustos Kollegen kennengelernt und traf mich donnerstags mit ihnen in einem Cafe im Zentrum. Obwohl wir ungefähr gleichaltrig waren, hatten wir uns wahrhaftig wenig zu sagen. Wir sprachen dieselbe Sprache, aber das war unsere einzige Gemeinsamkeit.

In sein Milieu zurückgekehrt, begann Augusto in kurzer Zeit, sich wieder genauso zu benehmen wie ein Mann seiner Gegend. Beim Essen schwiegen wir nun fast immer; wenn ich mich bemühte, ihm etwas zu erzählen, antwor-tete er einsilbig ja oder nein. Abends ging er häufig noch in den Klub, und wenn er zu Hause blieb, schloß er sich in seinem Arbeitszimmer ein, um seine Käfersammlung zu ordnen. Sein großer Traum war, ein Insekt zu entdecken, das noch niemandem bekannt war, so würde sein Name für immer in den wissenschaftlichen Büchern stehen. Ich hätte den Namen gern auf andere Weise weitergegeben, nämlich mit einem Kind, ich war nun dreißig Jahre alt und fühlte, daß die Zeit immer schneller an mir vorbeiglitt. Doch in dieser Hinsicht standen die Dinge sehr schlecht. Nach einer ersten recht enttäuschenden Nacht war nicht mehr viel passiert. Ich hatte das Gefühl, daß Augusto mehr als alles andere zu den Essenszeiten jemanden zu Hause vorfinden wollte, jemanden, den er am Sonntag stolz im Dom zur Schau stellen konnte; an der Person, die hinter diesem beruhigenden Bild stand, schien ihm nicht sonderlich viel zu liegen. Wo war der angenehme und zugewandte Mann hingekommen, der mich umworben hatte? War es möglich, daß die Eiebe so enden mußte? Augusto hatte mir erzählt, daß die Vogelmännchen im Frühling lauter singen, um den Weibchen zu gefallen und sie zu bewegen, ihr Nest mit ihnen zu bauen. Er hatte es genauso gemacht, und als ich sicher im Nest saß, hatte er aufgehört, sich für mein Vorhandensein zu interessieren. Ich war da, wärmte ihn und fertig.

Ob ich ihn haßte? Nein, es wird dir seltsam vorkommen, aber ich konnte ihn nicht hassen. Um jemanden zu hassen, muß er dich verletzen, dir weh tun. Augusto tat gar nichts, das war das Schlimme. An nichts stirbt man eher, als man an Schmerz stirbt, denn gegen den Schmerz kann man sich auflehnen, gegen das Nichts nicht.

Wenn ich mit meinen Eltern telefonierte, sagte ich natürlich, daß alles gutgehe, achtete darauf, daß meine Stimme so klang wie die einer glücklichen jungen Ehefrau. Sie glaubten mich in besten Händen, und ich wollte ihnen diese Gewißheit nicht nehmen. Meine Mutter lebte immer noch im Gebirge versteckt, und mein Vater wohnte allein in der Villa unserer Familie, mit einer entfernten Verwandten, die ihn versorgte. »Irgendwelche Neuigkeiten?« fragte er mich einmal im Monat, und ich antwortete regelmäßig nein, noch nicht. Er legte großen Wert auf einen Enkel, im Alter war eine Weichheit in ihm aufgekommen, die er früher nie gehabt hatte. Durch diese Veränderung fühlte ich mich ihm ein wenig näher, und es tat mir leid, seine Erwartungen zu enttäuschen. Gleichzeitig jedoch hatte ich nicht genug Zutrauen, um ihm die Gründe für diese anhaltende Unfruchtbarkeit zu erzählen. Meine Mutter schickte mir lange, vor Rhetorik triefende Briefe. Meine geliebte Tochter, schrieb sie oben auf das Blatt, und darunter zählte sie in allen Einzelheiten die wenigen Dinge auf, die ihr an jenem Tag zugestoßen waren. Am Ende teilte sie mir immer mit, das soundsovielte Strampelhöschen für das zukünftige Enkelkind fertiggestrickt zu haben. Ich schrumpfte unterdessen immer mehr zusammen, jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel sah, fand ich mich häßlicher. Ab und zu sagte ich abends zu Augusto: »Warum reden wir nicht ein wenig?« – »Worüber denn?« erwiderte er, ohne die Augen von der Lupe zu heben, mit der er gerade ein Insekt untersuchte. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »wir könnten uns doch was erzählen.« Daraufhin schüttelte er den Kopf: »Olga«, sagte er, »du hast wirklich eine kranke Phantasie.«

Es ist ein Gemeinplatz, daß Hunde nach einem langen Zusammenleben mit ihrem Herrn diesem schließlich im-mer ähnlicher werden. Ich hatte den Eindruck, daß meinem Mann das gleiche passierte, je mehr Zeit verging, um so mehr glich er ganz und gar einem Käfer. Seine Bewegungen hatten nichts Menschliches mehr, sie waren nicht fließend, sondern abgezirkelt, jede Geste ging ruckhaft vonstatten. Und auch die Stimme war tonlos, kam mit metallischem Schnarren von irgendwo aus dem Hals. Von den Insekten und seiner Arbeit war er wie besessen, doch außer diesen beiden Dingen gab es nichts, was auch nur im mindesten seine Begeisterung hervorrief. Einmal hatte er mir, es mit der Pinzette hochhaltend, ein Insekt gezeigt, ich glaube, es hieß Maulwurfsgrille. »Sieh nur, was für Kiefer die hat«, sagte er zu mir, »damit kann sie wirklich alles fressen.« In derselben Nacht träumte ich von ihm in dieser Form, er war riesig und verschlang mein Brautkleid, als wäre es Pappe.

Nach einem Jahr begannen wir, in getrennten Zimmern zu schlafen; er blieb bis spätnachts mit seinen Käfern auf und wollte mich nicht stören, das sagte er jedenfalls. Wenn ich so erzähle, wird dir meine Ehe als etwas außerge- wöhnlich Schreckliches erscheinen, aber außergewöhnlich war daran einfach gar nichts. Fast alle Ehen waren damals so, kleine häusliche Höllen, in denen einer von beiden früher oder später untergehen mußte.

Warum ich mich nicht auflehnte, warum ich nicht meinen Koffer nahm und nach Triest zurückkehrte?

Weil es damals weder offizielles Getrenntleben noch Scheidung gab. Um eine Ehe zu beenden, mußten schwere Mißhandlungen vorliegen, oder man mußte ein aufrührerisches Temperament haben, davonlaufen, für immer ru-helos durch die Welt ziehen. Aber Auflehnung gehört, wie du weißt, nicht zu meinem Charakter, und Augusto hat nie auch nur die Stimme gegen mich erhoben, geschweige denn die Hand. Er hat es nie an etwas fehlen lassen. Sonn- tags nach der Messe gingen wir in der Konditorei der Gebrüder Nurzia vorbei, und er ließ mich alles kaufen, worauf ich Lust hatte. Du wirst dir unschwer vorstellen können, mit welchen Empfindungen ich jeden Morgen aufwachte. Nach drei Ehejahren hatte ich nur noch einen Gedanken im Sinn, und das war der Gedanke an den Tod.

Über seine vorherige Frau sprach Augusto nie mit mir, und die wenigen Male, als ich ihn, sehr zurückhaltend, da- nach gefragt hatte, hatte er das Thema gewechselt. Mit der Zeit, während ich an den Winternachmittagen in den ge- spenstischen Zimmern umherwanderte, war ich zu der Überzeugung gelangt, daß Ada – so hieß Augustos erste Frau – nicht an einer Krankheit oder einem Unfall gestorben war, sondern sich umgebracht hatte. Wenn die Haushälterin fort war, verbrachte ich meine Zeit damit, Bohlen loszuschrauben, Schubladen auseinanderzumontieren, voller Raserei nach einer Spur zu suchen, einem Zeichen, das meinen Verdacht bestätigte. An einem Regentag fand ich unten in einem Schrank Frauenkleider, es waren ihre. Ich nahm ein dunkles heraus und zog es an, wir hatten die gleiche Größe. Als ich mich im Spiegel betrachtete, begann ich zu weinen. Ich weinte verhalten, ohne Schluchzen, wie jemand, der schon weiß, daß sein Schicksal besiegelt ist. In einem Winkel der Wohnung stand ein hölzernes Betpult, das Augustos Mutter, einer sehr frommen Frau, gehört hatte. Wenn ich nicht wußte, was ich tun sollte, schloß ich mich in jenem Zimmer ein und kniete mich stundenlang darauf, mit gefalteten Händen. Ob ich betete? Ich weiß nicht. Ich sprach, oder versuchte, mit jemandem zu sprechen, von dem ich annahm, er stehe über mir. Herr, sagte ich, laß mich meinen Weg finden, und wenn das mein Weg ist, so hilf mir, ihn zu ertragen. Der regelmäßige Kirchgang – zu dem ich durch meinen Status als Ehefrau gezwungen war – hatte mich veranlaßt, mir erneut viele Fragen zu stellen, Fragen, die ich seit meiner Kindheit in mir begraben hatte. Der Weihrauch machte mich benommen, die Orgelmusik ebenso. Wenn ich die Worte der Heiligen Schrift hörte, regte sich schwach etwas in mir. Wenn ich den Pfarrer aber ohne Paramente auf der Straße traf, wenn ich seine Kartoffelnase und seine Schweinsäuglein betrachtete, wenn ich mir seine banalen und unweigerlich falschen Fragen anhörte, regte sich nichts mehr, und ich sagte mir, es ist eben doch ein Betrug, ein Mittel, damit schwache Geister die Unterdrückung besser aushalten, in der sie leben. Dennoch liebte ich es, zu Hause in der Stille im Evangelium zu lesen. Viele Worte Jesu fand ich außerordentlich, sie beflügelten mich so, daß ich sie mehrmals laut wiederholte.

Meine Familie war gar nicht religiös, mein Vater betrachtete sich als Freidenker, und meine Mutter – wie ich dir schon sagte, seit zwei Generationen konvertiert – ging einzig und allein aus gesellschaftlichem Konformismus zur Messe. Die seltenen Male, die ich sie über Glaubensdinge befragt hatte, hatte sie gesagt: »Ich weiß nicht, in unserer Familie gibt es keine Religion.« Keine Religion. Diese Worte lasteten wie ein Mühlstein auf der empfindsamsten Phase meiner Kindheit, der, in der ich mich nach den größten Dingen fragte. Wie eine Art Schandmal kam es mir vor, wir hatten eine Religion aufgegeben, um eine andere anzunehmen, vor der wir nicht die mindeste Achtung hatten. Wir waren Verräter, und als Verräter war nirgends Platz für uns, weder im Himmel noch auf der Erde.

So war ich, abgesehen von den wenigen Anekdoten, die ich bei den Nonnen gelernt hatte, nie weiter mit religiö-sem Wissen in Berührung gekommen. Das Reich Gottes ist in euch, wiederholte ich mir immer wieder, während ich durch die leere Wohnung ging, und versuchte dabei, mir vorzustellen, wo es denn sei. Ich sah mein Auge wie ein Periskop in mich eintauchen, die Körperhöhlen erforschen, die geheimsten Windungen meines Geistes. Wo war das Reich Gottes? Es gelang mir nicht, es auszumachen, Nebel umgab mein Herz, ein dichter Nebel und nicht die lichten grünen Hügel, von denen ich annahm, sie seien das Paradies. In Augenblicken der Klarheit sagte ich mir, ich werde verrückt, wie alle alten Jungfern und Witwen bin ich langsam, unmerklich einem mystischen Wahn verfallen. Nach vier Jahren dieses Lebens hatte ich immer mehr Mühe, das Eingebildete vom Wahren zu unterscheiden. Die Glocken des nahen Domes schlugen alle Viertelstunde, und um sie nicht oder weniger laut zu hören, stopfte ich mir Watte in die Ohren.

Nach und nach hatte die Vorstellung von mir Besitz ergriffen, daß Augustos Insekten keineswegs tot seien, nachts hörte ich das Knistern ihrer Beine, sie liefen überall in der Wohnung herum, krabbelten die Tapeten hinauf, kratzten auf den Küchenfliesen, streiften über die Teppiche im Wohnzimmer. Ich lag im Bett und hielt den Atem an, während ich darauf wartete, daß sie dort unter der Türritze durch in mein Zimmer kommen würden. Vor Augusto versuchte ich meinen Zustand zu verbergen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verkündete ich ihm morgens, was es zum Mittagessen geben würde, und lächelte weiter, bis er zur Tür hinaus war. Mit dem gleichen stereotypen Lächeln empfing ich ihn bei seiner Rückkehr.

Ebenso wie meine Ehe war auch der Krieg in seinem fünften Jahr, und im Februar waren auch auf Triest Bom-ben gefallen. Beim letzten Angriff war das Haus meiner Kindheit völlig zerstört worden. Das einzige Opfer war das Kutschpferd meines Vaters gewesen, es wurde im Garten gefunden, zwei Beine fehlten.

Damals gab es noch kein Fernsehen, die Nachrichten verbreiteten sich langsamer. Daß wir das Haus verloren hatten, erfuhr ich am darauffolgenden Tag, mein Vater rief mich an. Schon daran, wie er sich meldete, merkte ich, daß etwas Schwerwiegendes geschehen war, er hatte die Stimme eines Menschen, der schon vor langer Zeit aufge- hört hat zu leben. Ohne einen Ort, an den ich zurückkehren konnte, fühlte ich mich nun wirklich verloren. Zwei oder drei Tage lang irrte ich wie in Trance durch die Wohnung. Es gab nichts, das mich aus meiner Benommenheit aufrütteln konnte, in einer einzigen, einförmigen und farblosen Abfolge sah ich meine Jahre eines nach dem anderen verstreichen bis zum Tod.

Weißt du, welchen Fehler man immer wieder macht? Den, zu glauben, das Leben sei unwandelbar, und wenn man einmal einen Weg eingeschlagen habe, müsse man ihn auch bis zum Ende gehen. Das Schicksal hat viel mehr Phantasie als wir. Gerade wenn du glaubst, du befändest dich in einer ausweglosen Situation, wenn du den Gipfel höchster Verzweiflung erreichst, verändert sich mit der Geschwindigkeit eines Windstoßes alles, dreht sich, und plötzlich lebst du unvermutet ein neues Eeben.

Zwei Monate nach der Bombardierung des Hauses war der Krieg vorbei. Ich fuhr sofort nach Triest, wo mein Vater und meine Mutter schon übergangsweise in eine Wohnung mit anderen Leuten gezogen waren. Es gab so viele praktische Dinge zu erledigen, daß ich nach kaum einer Woche die in Aquila verbrachten Jahre schon fast vergessen hatte. Einen Monat später kam auch Augusto nach. Er mußte die von meinem Vater gekaufte Firma wieder selbst in die Hand nehmen, all die Kriegsjahre hatte er anderen die Leitung überlassen und fast gar nicht gearbeitet. Und außerdem hatten mein Vater und meine Mutter kein Haus mehr und waren nun wirklich alt. Mit einer Schnelligkeit, die mich überraschte, beschloß Augusto, seine Heimatstadt zu verlassen und nach Triest zu übersiedeln; er kaufte diese kleine Villa auf der Hochebene, und noch vor dem Herbst zogen wir alle zusammen dort ein.

Entgegen aller Voraussicht war meine Mutter die, die zuerst ging, sie starb kurz nach Sommeranfang. Jene Zeit der Einsamkeit und Angst hatte ihre unerschütterliche Gesundheit ausgehöhlt. Mit ihrem Tod erwachte in mir wieder übermächtig der Wunsch nach einem Kind. Ich schlief wieder mit Augusto in einem Zimmer, aber trotzdem passierte nachts zwischen uns wenig oder nichts. Ich verbrachte viel Zeit damit, in Gesellschaft meines Vaters im Garten zu sitzen. Und an einem sonnigen Nachmittag sagte er zu mir: »An der Leber und an den Frauen können Heilquellen manchmal Wunder vollbringen.«

Zwei Wochen später begleitete Augusto mich zum Zug nach Venedig. Dort sollte ich am späten Vormittag einen anderen Zug nach Bologna nehmen und nach nochmaligem Umsteigen gegen Abend in Porretta Terme eintreffen. Ehrlich gesagt glaubte ich kaum an die Wirkung von Badekuren, mein Entschluß zu reisen beruhte vor allem auf einem großen Wunsch nach Alleinsein, ich fühlte das Bedürfnis, anders als in den vergangenen Jahren mit mir selbst umzugehen. Ich hatte gelitten. Fast alles in mir war abgestorben, ich war wie eine Wiese nach einem Brand, alles war schwarz, verkohlt. Nur durch Regen, durch Sonne und Luft würde das wenige, das geblieben war, ganz allmählich die Kraft finden, wieder zu wachsen.

Dezember

 

Seit du weggefahren bist, lese ich keine Zeitung mehr, du hast sie ja immer gekauft, jetzt bringt sie mir keiner mehr. Zuerst fühlte ich mich ohne Zeitung etwas unwohl, doch dann hat sich das Unbehagen nach und nach in Erleichte-rung verwandelt. Daraufhin habe ich mich an Isaac Singers Vater erinnert. Von allen Gewohnheiten des modernen Menschen, sagte er, ist das Lesen von Tageszeitungen eine der schlechtesten. Morgens, in dem Augenblick, in dem die Seele am offensten ist, ergießt sich so das ganze Übel, das die Welt am Tag zuvor hervorgebracht hat, in sie hinein. Zu seiner Zeit genügte es, keine Zeitungen zu lesen, um sich zu retten, heute ist es nicht mehr möglich; da ist das Radio, das Fernsehen, es reicht, sie eine Sekunde lang einzuschalten, und schon hat das Übel uns erreicht, dringt in uns ein.

So ging es mir heute morgen. Während ich mich anzog, hörte ich in den Regionalnachrichten, daß man den Flüchtlingskonvois die Erlaubnis erteilt hat, die Grenze zu überschreiten. Seit vier Tagen warteten sie schon dort, man ließ sie nicht hinein, und sie konnten auch nicht zurück. Alte, Kranke, alleinstehende Frauen mit ihren Kindern waren dabei. Das erste Kontingent, sagte der Sprecher, ist schon im Lager des Roten Kreuzes eingetroffen und mit ersten Hilfsgütern versorgt worden. Daß dieser Krieg so nah und so grausam ist, verstört mich tief. Seit er ausgebrochen ist, lebe ich wie mit einem Stachel im Herzen. Das ist ein banales Bild, gibt aber in seiner Banalität die Empfindung gut wieder. Nach einem Jahr kam zu dem Schmerz die Empörung hinzu, es schien mir unglaublich zu sein, daß niemand eingriff, um diesem Gemetzel ein Ende zu setzen. Dann mußte ich mich fügen: Dort gibt es keine Erdölquellen, sondern nur steinige Berge. Die Empörung hat sich mit der Zeit in Wut verwandelt, und diese Wut nagt weiter an mir wie ein hartnäckiger Holzwurm.

Es ist lächerlich, daß ich in meinem Alter von einem Krieg noch so betroffen bin. Im Grunde werden überall auf der Erde Dutzende von Kriegen am selben Tag geführt, in achtzig Jahren hätte ich mich eigentlich daran gewöhnen müssen. Seit ich geboren bin, zogen Flüchtlinge und siegreiche oder zerschlagene Heere durch das hohe gelbe Gras des Karsts: Zuerst kamen die durchreitenden Infanterieregimenter des Ersten Weltkriegs mit Bombenexplosionen auf der Hochebene; dann die Heimkehrer aus dem Rußlandfeldzug und aus Griechenland, die faschistischen und nazistischen Gemetzel, die Blutbäder in den Dolinen; und jetzt noch einmal das Getöse von Kanonen an der Grenzlinie, dieser Exodus von Unschuldigen, die vor dem großen Schlachten auf dem Balkan fliehen.

Als ich vor einigen Jahren im Zug von Triest nach Venedig fuhr, saß ein Medium im selben Abteil. Eine Frau, et- was jünger als ich, mit einem fladenförmigen Hütchen auf dem Kopf. Ich wußte natürlich nicht, daß sie ein Medium war, sie selbst hat es im Gespräch ihrer Nachbarin erzählt. »Wissen Sie«, sagte sie, während wir die Karsthoch- ebene überquerten, »wenn ich hier vorbeikomme, höre ich überall die Stimmen der Toten, ich kann keinen Schritt
weit gehen, ohne ganz taub davon zu werden. Alle schreien schrecklich, je jünger sie gestorben sind, um so lauter schreien sie.« Dann erklärte sie ihr, daß dort, wo es eine Gewalttat gegeben habe, etwas für immer Entstelltes in der Atmosphäre hängenbleibe: Die Luft werde zersetzt, sei nicht mehr kompakt, und diese Zersetzung löse zum Ausgleich nicht etwa milde Gefühle aus, sondern fördere weitere Exzesse. Wo Blut geflossen sei, werde also noch weiteres vergossen werden, und darauf wieder weiteres. »Die Erde«, hatte das Medium abschließend gesagt, »ist wie ein Vampir, kaum leckt sie Blut, will sie neues, frisches, immer noch mehr.«

Jahrelang habe ich mich gefragt, ob über diesem Ort, an dem wir hier leben, nicht ein Fluch liegt, ich habe es mich gefragt und frage es mich immer noch, ohne daß es mir gelänge, eine Antwort zu finden. Weißt du noch, wie oft wir zusammen zur Burg von Monrupino gegangen sind? Wenn die Bora wehte, verbrachten wir Stunden damit, die Landschaft zu betrachten, es war ein bißchen so, als säße man in einem Flugzeug und schaute hinunter. Der Rundblick umfaßte dreihundertsechzig Grad, wir wetteiferten darin, wer zuerst einen Gipfel der Dolomiten ausmachen oder Grado von Venedig unterscheiden konnte. Jetzt, da es mir körperlich nicht mehr möglich ist, dort hinaufzugehen, muß ich nur die Augen schließen, um die gleiche Landschaft zu sehen.


Date: 2016-01-14; view: 471


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