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Opicina, 16. November 1992 2 page

Du drohtest mir dann, du würdest fortgehen, aus meinem Leben verschwinden, ohne je wieder von dir hören zu lassen. Vielleicht hofftest du auf die Verzweiflung, die demütigen Bitten einer alten Frau. Als ich dir sagte, eine Reise wäre eine ausgezeichnete Idee, kamst du ins Schleudern, du wirktest wie eine Schlange, die mit aufgesperrtem Rachen, zum Zubeißen bereit, ruckartig den Kopf hebt und auf einmal das Opfer, auf das sie sich stürzen wollte, nicht mehr vor sich sieht. Also hast du angefangen zu handeln, Vorschläge zu machen, verschiedene unausgegorene Vorschläge, bis zu dem Tag, an dem du mir mit einer neuen Sicherheit über die Kaffeetasse hinweg verkündet hast: »Ich gehe nach Amerika.«

Ich habe diesen Plan wie die vorherigen mit freundlichem Interesse aufgenommen. Ich wollte dich nicht durch meine Zustimmung dazu verleiten, übereilte Entscheidungen zu treffen, hinter denen du nicht wirklich standest. In den folgenden Wochen hast du immer weiter von dieser Idee gesprochen. »Wenn ich ein Jahr nach Amerika gehe«, wiederholtest du beinahe zwanghaft, »lerne ich wenigstens eine Sprache und vertrödle keine Zeit.« Du hast dich schrecklich aufgeregt, als ich dich darauf aufmerksam machte, daß Zeit vertrödeln nichts Schlimmes sei. Am allerwütendsten bist du jedoch geworden, als ich zu dir sagte, das Leben sei kein Wettlauf, sondern eher wie Schei- benschießen: Nicht die Zeitersparnis zähle, sondern die Fähigkeit, eine Mitte zu finden. Es standen zwei Tassen auf dem Tisch, die du mit deinem Arm weggefegt hast, bevor du zu weinen anfingst. »Du bist dumm«, hast du ge-
sagt und dein Gesicht in den Händen verborgen. »Du bist dumm. Verstehst du nicht, daß ich genau das will?« Wo-chenlang hatten wir uns benommen wie zwei Soldaten, die, nachdem sie in einem Feld eine Mine vergraben haben, aufpassen, daß sie nicht darauf treten. Wir wußten, wo sie lag, was es war, und hielten uns fern, wobei wir so taten, als sei das, wovor wir uns fürchteten, etwas ganz anderes. Als sie schließlich explodierte und du schluchzend zu mir sagtest: »Du verstehst nichts und wirst auch nie etwas verstehen«, mußte ich mich unglaublich anstrengen, um dich nichts von meiner Ratlosigkeit ahnen zu lassen. Deine Mutter, die Art und Weise, wie sie dich empfangen hat, ihr Tod, über all das habe ich nie mit dir gesprochen, und der Umstand, daß ich darüber schwieg, hat dazu geführt, daß du glaubtest, die Sache sei für mich nicht vorhanden, sei nicht wichtig. Doch deine Mutter war meine Tochter, das hast du vielleicht übersehen. Oder vielleicht auch nicht, aber anstatt darüber zu sprechen, brütest du finstere Ge- danken aus, anders kann ich mir manche Blicke, manche haßerfüllten Worte von dir nicht erklären. Du hast keine Erinnerung an sie außer der Leere: An dem Tag, als sie starb, warst du noch zu klein. Ich dagegen bewahre in meinem Gedächtnis dreiunddreißig Jahre Erinnerungen, dreiunddreißig Jahre plus die neun Monate, die ich sie im Bauch getragen habe.



Wie kannst du denken, die Frage ließe mich gleichgültig?

Daß ich das Thema nicht früher angeschnitten habe, beruhte meinerseits nur auf Schamgefühl und auf einer guten
Portion Egoismus. Schamgefühl, weil ich unweigerlich, wenn ich von ihr sprach, auch über mich und meine wirk-liche oder angebliche Schuld hätte sprechen müssen; Egoismus, weil ich hoffte, meine Liebe sei so groß, daß sie das Fehlen ihrer Liebe wettmachen und dich daran hindern könnte, eines Tages Sehnsucht nach ihr zu bekommen und mich zu fragen: »Wer war meine Mutter? Warum ist sie tot?«

Solange du klein warst, waren wir glücklich miteinander. Du warst ein fröhliches Kind, aber in deiner Freude lag nichts Oberflächliches, Selbstverständliches. Es war eine Freude, hinter der immer der Schatten der Überlegung lauerte, mit überraschender Leichtigkeit gingst du vom Lachen zum Schweigen über. »Was ist los, was denkst du?« fragte ich dich dann, und du, als wäre von deinem Nachmittagsbrot die Rede, gabst mir zur Antwort: »Ich denke, ob der Himmel ein Ende hat oder immer weitergeht.« Ich war stolz darauf, daß du so warst, deine Empfindsamkeit glich meiner, ich fühlte mich nicht groß oder weit weg, sondern wie eine zärtliche Komplizin. Ich tat so, ich wollte so tun, als würde es für immer so bleiben. Doch leider sind wir keine Wesen, die in Seifenblasen glücklich durch die Luft schweben; in unserem Leben gibt es ein Vorher und ein Nachher, und dieses Vorher und Nachher holt uns ein, legt sich über uns wie das Netz über die Beute. Man sagt, die Schuld der Väter falle auf die Söhne zurück. Das ist wahr, sehr wahr, die Schuld der Väter fällt auf die Söhne zurück, die der Großväter auf die Enkel, die der Urgroßeltern auf die Urenkel. Es gibt Wahrheiten, die ein Gefühl von Befreiung in sich tragen, und andere, die einem ein Gefühl des Grauens aufzwingen. Diese gehört zur zweiten Sorte. Wo hört die Schuldkette auf? Bei Kain? Muß denn wirklich alles so weit gehen? Steht hinter all dem etwas? In einem indischen Buch habe ich einmal gelesen, daß das Schicksal alle Macht besitzt, während die Willensanstrengung nur ein Vorwand ist. Nachdem ich das gelesen hatte, breitete sich großer Friede in mir aus. Schon am nächsten Tag jedoch, wenige Seiten weiter, hieß es, das Schicksal sei nichts anderes als das Ergebnis unserer früheren Handlungen, wir selbst seien unseres Glückes Schmied. So war ich wieder beim Ausgangspunkt angelangt. Wo fängt das alles an, habe ich mich gefragt. An welchem Faden muß man ziehen? Ist es ein Faden oder eine Kette? Kann man ihn durchschneiden, zerreißen, oder wickelt er uns für immer ein?

Ich muß jetzt eine Pause machen. Mein Kopf funktioniert nicht mehr so wie früher, die Ideen sind natürlich noch da, die Art zu denken hat sich nicht geändert, aber die Fähigkeit, eine längere Anstrengung durchzustehen, hat abgenommen. Jetzt bin ich müde, alles dreht sich in meinem Kopf wie früher, wenn ich als junges Mädchen versuchte, ein Philosophiebuch zu lesen. Sein, Nichtsein, Immanenz... nach wenigen Seiten empfand ich die gleiche Benommenheit, die einen überkommt, wenn man mit dem Autobus über Bergstraßen fährt. Vorerst verlasse ich dich und setze mich ein bißchen vor den geliebt-gehaßten Flimmerkasten, der im Wohnzimmer steht.

 

November

 

Hier bin ich wieder, dritter Tag unserer Begegnung. Oder besser gesagt, fünfter Tag und dritte Begegnung. Gestern war ich so müde, daß ich es nicht geschafft habe, etwas zu schreiben oder zu lesen. Da ich unruhig war und nicht wußte, was ich tun sollte, bin ich den ganzen Tag zwischen Haus und Garten hin und her gewandert. Die Luft war recht mild, und in den wärmsten Stunden habe ich mich auf die Bank neben der Forsythie gesetzt. Die Wiese und die Beete rund um mich waren in größter Unordnung. Während ich sie betrachtete, fiel mir der Streit wegen der
welken Blätter wieder ein. Wann war das? Voriges Jahr? Vor zwei Jahren? Ich hatte eine Bronchitis gehabt, die nur sehr langsam ausheilte, die Blätter waren schon alle ins Gras gefallen und der Wind wirbelte sie durch die Gegend. Als ich aus dem Fenster sah, hatte mich große Traurigkeit überkommen, der Himmel war düster, alles wirkte sehr vernachlässigt dort draußen. Ich bin zu dir ins Zimmer gegangen, du lagst mit Kopfhörern über den Ohren auf dem Bett. Ich habe dich gebeten, ob du bitte die Blätter zusammenrechen könntest. Ich mußte den Satz mehrmals wiederholen, mit immer lauterer Stimme, bis du mich überhaupt hörtest. Du hast mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Wieso denn? In der Natur räumt sie auch niemand weg, sie bleiben liegen und verfaulen, und so muß es sein.« Die Natur war damals dein großer Verbündeter, mit ihren unerschütterlichen Gesetzen konntest du alles recht- fertigen. Anstatt dir zu erklären, daß ein Garten gezähmte Natur ist, so wie ein Hund, und seinem Herrn jedes Jahr ähnlicher wird, daß er, eben genau wie ein Hund, ständig Aufmerksamkeit braucht, habe ich mich wortlos ins Wohnzimmer zurückgezogen. Kurz darauf, als du vorbeigegangen bist, um dir aus dem Kühlschrank etwas zu essen zu holen, hast du gesehen, daß ich weinte, aber nicht weiter darauf geachtet. Erst zur Abendessenszeit, als du wieder aus deinem Zimmer aufgetaucht bist und gefragt hast: »Was gibt's zu essen?«, hast du gemerkt, daß ich immer noch dort saß und immer noch weinte. Daraufhin bist du in die Küche gegangen und hast angefangen, am Herd zu hantieren. »Was willst du lieber«, hast du zu mir herübergerufen, »Schokoladenpudding oder Omelette?« – du hattest verstanden, daß mein Schmerz echt war, und versuchtest, nett zu sein, mir irgendwie einen Gefallen zu tun. Am nächsten Morgen, als ich die Fensterläden aufstieß, sah ich dich auf der Wiese: Du hattest deinen gelben Wachstuchmantel an und warst im strömenden Regen dabei, die Blätter zusammenzurechen. Als du gegen neun wieder hereinkamst, habe ich getan, als wäre nichts, ich wußte, daß du jenen Teil von dir, der dich dazu brachte, gut und freundlich zu sein, mehr haßtest als alles andere.

Heute früh, während ich betrübt die Beete im Garten betrachtete, dachte ich, daß ich wirklich jemand kommen lassen müßte, der ihn in Ordnung bringt, da der Garten seit meiner Krankheit sehr verwildert ist. Ich denke es, seit ich aus dem Krankenhaus zurück bin, und doch entschließe ich mich nie, etwas zu tun. Mit den Jahren habe ich eine eifersüchtige Liebe zu dem Garten entwickelt, um nichts in der Welt würde ich darauf verzichten, die Dahlien zu gießen, ein welkes Blatt von einem Ast zu zupfen. Das ist seltsam, denn als junges Mädchen war es mir sehr lästig, mich darum zu kümmern: Einen Garten zu haben, schien mir weniger ein Privileg als vielmehr eine Last zu sein. Tatsächlich genügte es, nur ein, zwei Tage etwas nachlässiger zu sein, und schon legte sich über die so mühsam erreichte Ordnung wieder die Unordnung, und Unordnung störte mich mehr als alles andere. Ich hatte innerlich keine Mitte, folglich ertrug ich es nicht, außen das widergespiegelt zu sehen, was in mir war. Daran hätte ich mich erinnern sollen, als ich dich bat, die Blätter zusammenzurechen!

Es gibt Dinge, die kann man erst in einem gewissen Alter verstehen und nicht vorher: Dazu gehört auch das Ver-hältnis zum Haus, zu allem, was darin und rundherum ist. Mit sechzig, siebzig Jahren verstehst du plötzlich, daß der Garten und das Haus nicht mehr Orte sind, wo du aus Bequemlichkeit oder aus Zufall oder wegen ihrer Schönheit lebst, sondern daß sie dein Garten und dein Haus sind, daß sie zu dir gehören wie die Muschelschalen zu dem Weichtier, das in ihnen wohnt. Du hast mit deinen Absonderungen die Muschel gebildet, in ihre Windungen ist deine Geschichte eingegraben, das schützende Haus hüllt dich ein, ist über dir, um dich herum, vielleicht wird nicht einmal der Tod es von deiner Gegenwart befreien, von den Freuden und Eeiden, die du in ihm empfunden hast.

Gestern abend hatte ich keine Eust zu lesen, daher habe ich ferngesehen. Ehrlich gesagt, habe ich mehr zugehört als zugesehen, weil ich nach kaum einer halben Stunde eingenickt bin. In Abständen hörte ich die Worte, ein bißchen, wie wenn man im Zug in Halbschlaf versinkt und die Unterhaltungen der anderen Reisenden nur bruch- stückweise und ohne einen Sinn zu einem durchdringen. Die Sendung handelte von einer Umfrage, die Journalisten über die Sekten des Jahrtausendendes veranstaltet hatten. Es gab mehrere Interviews mit echten und vermeintlichen Gurus, und aus dem Strom ihrer Worte drang mehrmals der Ausdruck Karma an mein Ohr. Kaum hörte ich das Wort, fiel mir das Gesicht meines Philosophieprofessors im Gymnasium wieder ein.

Er war jung und für die damalige Zeit sehr aufgeschlossen. Als er über Schopenhauer sprach, hatte er uns auch et- was über die östlichen Philosophien erzählt und uns dabei den Begriff Karma erklärt. Ich hatte damals nicht weiter darauf geachtet, das Wort und das, was es ausdrückte, waren mir zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgegangen. Viele Jahre lang ist mir untergründig der Eindruck geblieben, es handle sich um eine Art Gesetz der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, so etwa wie Auge um Auge, Zahn um Zahn oder wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Erst als die Kindergartenleiterin mich dann zu sich bestellte, um mit mir über dein sonder- bares Verhalten zu reden, fiel mir das Karma – und was damit verbunden ist – wieder ein. Du hattest die gesamte Einrichtung in Aufregung versetzt. In der Stunde, in der frei erzählt werden durfte, hattest du aus heiterem Himmel angefangen, von deinem früheren Leben zu sprechen. Zuerst hatten die Kindergärtnerinnen es für eine kindliche Überspanntheit gehalten. Sie hatten versucht, die Geschichte herunterzuspielen, dich in Widersprüche zu ver- wickeln. Doch du warst ihnen nicht auf den Leim gegangen, sondern hattest sogar einige Worte in einer Sprache gesagt, die niemandem bekannt war. Als sich die Sache zum dritten Mal wiederholte, wurde ich zur Leiterin des Kindergartens gerufen. Zu deinem und deiner Zukunft Bestem legte man mir nahe, dich von einem Psychologen untersuchen zu lassen. »Bei dem Trauma, das die Kleine erlebt hat«, sagte sie, »ist es normal, daß sie sich so verhält, daß sie versucht, aus der Realität zu flüchten.« Natürlich habe ich dich nie zum Psychologen gebracht, du schienst mir ein glückliches Kind zu sein, und ich war eher geneigt zu glauben, daß diese Phantasie von dir nicht einem vor- handenen Unwohlsein, sondern einer anderen Ordnung der Dinge zuzuschreiben sei. Ich habe dich nach dieser Be- gebenheit nie gedrängt, mit mir darüber zu sprechen, und auch du hast aus eigenem Antrieb kein Bedürfnis ver- spürt, es zu tun. Vielleicht hast du alles noch am selben Tag, an dem du es vor den entsetzten Kindergärtnerinnen ausgesprochen hast, wieder vergessen.

Ich habe den Eindruck, daß es in den letzten Jahren immer mehr zur Mode geworden ist, über solche Dinge zu sprechen: Früher waren diese Themen wenigen Auserwählten vorbehalten, jetzt dagegen sind sie in aller Munde. Vor einiger Zeit habe ich in einer Zeitung gelesen, in Amerika gebe es sogar Selbsterfahrungsgruppen über Re- inkarnation. Die Leute treffen sich und reden über ihr früheres Leben. Die Hausfrau sagt etwa: »Im neunzehnten Jahrhundert in New Orleans war ich eine Dirne, deswegen kann ich jetzt meinem Mann nicht treu sein«, während der rassistische Tankwart den Grund für seinen Haß in der Tatsache findet, daß er im sechzehnten Jahrhundert auf einer Expedition von den Bantus verschlungen wurde. Was für traurige Dummheiten. Hat man die Wurzeln der eigenen Kultur verloren, versucht man, das Grau und die Unsicherheit der Gegenwart mit den früheren Leben aufzubessern. Wenn die Seelenwanderung einen Sinn hat, so ist es, glaube ich, ein ganz anderer.

Zur Zeit des Vorfalls im Kindergarten hatte ich mir einige Bücher besorgt; um dich besser zu verstehen, hatte ich versucht, etwas mehr über diese Dinge zu erfahren. Und tatsächlich stand in einem dieser Aufsätze, daß die Kinder, die sich genau an ihr Vorleben erinnern, solche sind, die zu früh und gewaltsam zu Tode kamen. Einige angesichts deiner Erfahrungen als Kind unerklärliche Wahnvorstellungen – das Gas, das aus Leitungen kam, die Furcht, alles könne von einem Augenblick zum anderen in die Luft gehen – machten mich geneigt, an diese Art von Erklärung zu glauben. Wenn du müde warst oder in Angst, oder auch im Schlaf, wurdest du von irrationalem Grauen erfaßt. Du hattest keine Angst vorm schwarzen Mann, vor Hexen oder vor dem Werwolf, sondern dich plagte mit einemmal die Furcht, die Welt der Dinge würde von einem Augenblick zum anderen von einem Vernichtungsbrand heimgesucht. Die ersten Male erhob ich mich, wenn du schreckerfüllt mitten in der Nacht in meinem Zimmer erschienst, und begleitete dich mit sanften Worten wieder in deines zurück. Dort wolltest du, wieder im Bett, meine Hand haltend, daß ich dir Geschichten erzählte, die gut ausgingen. Aus Furcht, ich könnte etwas Beunruhigendes sagen, beschriebst du mir die Handlung vorher in allen Einzelheiten, ich tat nichts weiter, als haarklein deine Anweisungen zu befolgen. Ich wiederholte das Märchen ein-, zwei-, dreimal: Wenn ich aufstand, um wieder in mein Zimmer zu gehen, überzeugt, daß du dich beruhigt hättest, erreichte mich an der Tür dein dünnes Stimmchen: »Geht es so aus?« fragtest du, »ist es wahr, geht es wirklich immer so aus?« Daraufhin machte ich noch einmal kehrt, küßte dich auf die Stirn und sagte dabei: »Es kann gar nicht anders ausgehen, mein Schatz, ich schwor’s dir.«

In anderen Nächten jedoch hatte ich, obwohl ich dagegen war, dich bei mir schlafen zu lassen – es tut Kindern nicht gut, bei alten Leuten zu schlafen –, nicht den Mut, dich in dein Bett zurückzuschicken. Kaum fühlte ich deine Anwesenheit neben dem Nachttisch, beruhigte ich dich, ohne mich umzudrehen: »Es ist alles unter Kontrolle, nichts kann explodieren, geh ruhig wieder in dein Zimmer.« Dann tat ich, als fiele ich sofort wieder in tiefen Schlaf. Und ich hörte deinen leichten Atem kurz innehalten, nach einigen Sekunden knarrte leise der Bettrand, mit vorsichtigen Bewegungen schlüpftest du neben mich und schliefst erschöpft ein, wie ein Mäuschen, das nach einem großen Schrecken endlich die Wärme des Nests erreicht. Im Morgengrauen nahm ich dich, während du, noch ganz warm und entspannt, schliefst, in die Arme und trug dich in dein Zimmer zurück, um unser Spiel nicht zu verderben. Nur ganz selten konntest du dich beim Aufwachen an etwas erinnern, fast immer warst du überzeugt, die ganze Nacht in deinem Bett verbracht zu haben.

Wenn diese Anfälle von Panik dich tagsüber erfaßten, sprach ich beruhigend auf dich ein. »Siehst du nicht, wie fest das Haus ist«, sagte ich, »schau nur, wie dick die Mauern sind, wie sollen die in die Luft fliegen können?« Aber meine Bemühungen waren vollkommen vergeblich, mit geweiteten Augen starrtest du weiter vor dich hin ins Leere und sagtest immer wieder: »Alles kann in die Luft fliegen.« Ich habe nie aufgehört, mich zu fragen, woher diese Angst kommt. Was bedeutete die Explosion für dich? Konnte es die Erinnerung an deine Mutter sein, an ihr tragisches, plötzliches Ende? Oder war sie Teil jenes Lebens, von dem du mit außergewöhnlicher Unbefangenheit den Kindergärtnerinnen erzählt hattest? Oder waren diese beiden Dinge an einem unerreichbaren Ort deines Gedächtnisses miteinander vermischt? Wer weiß. Trotz allem, was gesagt wird, glaube ich, daß es im Kopf der Men-schen immer noch mehr Schatten als Licht gibt. In dem Buch, das ich damals gekauft hatte, stand jedenfalls auch, daß die Kinder, die sich an vorherige Leben erinnern, viel häufiger in Indien und östlichen Ländern anzutreffen sind, wo diese Vorstellung seit jeher allgemein anerkannt ist. Das glaube ich wohl! Stell dir mal vor, ich wäre eines Tages zu meiner Mutter gegangen und hätte ohne jede Vorwarnung angefangen, in einer anderen Sprache zu reden, oder zu ihr gesagt: »Ich kann dich nicht ausstehen, bei meiner Mama im anderen Leben ist es mir viel besser ergangen.« Du kannst sicher sein, daß sie keinen Tag lang gezögert hätte, mich in eine Irrenanstalt zu sperren.

Gibt es die geringste Aussicht, sich von dem Schicksal zu befreien, das einem durch die Herkunft auferlegt wird, von dem, was die Vorfahren auf dem Weg des Blutes an uns weitergeben? Wer weiß. Vielleicht gelingt es in der klaustrophobischen Generationenabfolge irgendwann jemandem, eine höhere Stufe zu sehen, die er dann mit aller Kraft zu erreichen versucht. Einen Kreislauf zu durchbrechen, frische Luft in ein Zimmer hereinkommen zu lassen, das ist, glaube ich, das winzige Geheimnis der Seelenwanderung. Ein winziger Schritt, aber überaus mühsam, beängstigend in seiner Ungewißheit.

Meine Mutter hat mit sechzehn geheiratet, mit siebzehn hat sie mich geboren. In meiner ganzen Kindheit, nein, in meinem ganzen Leben habe ich sie nie eine einzige liebevolle Geste machen sehen. Ihre Ehe war keine Liebesheirat gewesen. Niemand hatte sie dazu gezwungen, sie hatte sich ganz allein dazu gezwungen, weil sie, reich, aber Jüdin, und noch dazu konvertiert, nichts mehr anstrebte, als einen Adelstitel zu besitzen. Mein Vater, älter als sie, Baron und Musikbesessener, hatte sich in ihre Begabung als Sängerin verliebt. Nachdem sie den Erben hervorgebracht hatten, den der gute Name verlangte, lebten sie bis ans Ende ihrer Tage in rachsüchtige gegenseitige Mißgunst verstrickt. Meine Mutter starb unbefriedigt und voller Groll, ohne daß sie je der Zweifel gestreift hätte, daß sie sich wenigstens einen Teil der Schuld selbst zuzuschreiben hatte. Es war die Welt, die grausam war, weil sie ihr keine bessere Wahl gelassen hatte. Ich war ganz anders als sie und konnte sie schon mit sieben Jahren, als die Abhängig- keit der frühen Kindheit vorbei war, nicht mehr ausstehen.

Ich habe ihretwegen viel gelitten. Sie regte sich ununterbrochen und immer nur über Äußerlichkeiten auf. Ihre angebliche »Vollkommenheit« führte dazu, daß ich mir schlecht vorkam, und der Preis für meine Schlechtigkeit war die Einsamkeit. Anfangs machte ich noch einige Versuche, so zu sein wie sie, aber es waren ungeschickte Ver- suche, die immer sofort scheiterten. Je mehr ich mich bemühte, um so unwohler fühlte ich mich. Selbstaufgabe führt zu Verachtung. Und von der Verachtung zur Wut ist es nicht weit. Als ich begriff, daß die Liebe meiner Mutter etwas war, das nur auf Schein beruhte, darauf, wie ich sein sollte und nicht darauf, wie ich wirklich war, begann ich, sie hinter verschlossener Tür und in meinem Herzen insgeheim zu hassen.

Um diesem Gefühl zu entgehen, flüchtete ich mich in meine ganz eigene Welt. Abends im Bett legte ich ein Tuch über die Nachttischlampe und las Abenteuerromane bis in die frühen Morgenstunden. Ich phantasierte sehr gern. Eine Zeitlang träumte ich davon, Piratin zu werden, ich lebte im Chinesischen Meer und war eine ganz besondere Piratin, weil ich nicht für mich selbst stahl, sondern alles den Armen gab. Von den Räuberphantasien ging ich zu philanthropischen Vorstellungen über und dachte, nach einem Medizinstudium würde ich nach Afrika gehen, um die Negerkinder zu behandeln. Mit vierzehn habe ich die Biographie von Schliemann gelesen, und dabei ist mir klargeworden, daß ich niemals Arzt werden und Menschen behandeln könnte, weil meine einzige Leidenschaft die Archäologie war. Ich glaube, von all den unzähligen Tätigkeiten, die auszuüben ich mir vorstellte, war sie die einzige, die mir wirklich etwas bedeutete.

Und tatsächlich habe ich, um diesen Traum zu verwirkliehen, zum ersten und einzigen Mal mit meinem Vater gekämpft: um aufs humanistische Gymnasium zu gehen. Er wollte nichts davon hören, sagte, es sei zu gar nichts nütze und wenn ich unbedingt auf die höhere Schule wolle, solle ich lieber lebendige Sprachen lernen. Zum Schluß setzte ich jedoch meinen Kopf durch. Als ich über die Schwelle des Gymnasiums schritt, war ich fest überzeugt, gewonnen zu haben. Ich machte mir Illusionen. Als ich ihm am Ende der Schulzeit meine Absicht mitteilte, in Rom an der Universität zu studieren, war seine Antwort endgültig: »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Und ich, wie es damals üblich war, gehorchte ohne den geringsten Widerspruch. Man darf nicht glauben, eine Schlacht gewonnen zu haben bedeute, den Krieg gewonnen zu haben. Das ist ein Fehler, den man in der Jugend macht. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich, daß mein Vater am Ende nachgegeben hätte, wenn ich noch weiter gekämpft und an meiner Ansicht festgehalten hätte. Seine kategorische Weigerung war einfach Teil des Erziehungssystems jener Zeit. Im Grunde hielt man die jungen Eeute keiner eigenen Entscheidung fähig. Folglich versuchte man, wenn sie einen anderen Willen kundtaten, sie auf die Probe zu stellen. Da ich schon bei der ersten Klippe aufgegeben hatte, war es für sie mehr als offensichtlich, daß es sich nicht um eine echte Berufung, sondern um vorübergehende Flausen handelte.

Für meinen Vater wie für meine Mutter waren die Kinder vor allem anderen eine von der Außenwelt auferlegte Pflicht. Unsere innere Entwicklung vernachlässigten sie ebenso vollkommen, wie sie sich mit äußerster Strenge um die banalsten Seiten der Erziehung kümmerten. Mit geradem Rücken, die Ellbogen am Körper angelegt, mußte ich mich zu Tisch setzen. Ob ich, während ich so dasaß, nur daran dachte, wie ich mir am besten den Tod geben könnte, war einerlei. Der äußere Schein war alles, jenseits davon gab es nur unschickliche Dinge.

So bin ich in dem Gefühl aufgewachsen, so etwas wie ein Affe zu sein, der gut dressiert werden muß, und nicht ein Mensch, eine Person mit ihren Freuden, ihren Augenblicken der Entmutigung, ihrem Bedürfnis, geliebt zu werden. Aus diesem Unbehagen ist mir innerlich bald eine große Einsamkeit erwachsen, eine Einsamkeit, die mit den Jahren immer riesiger wurde, eine Art luftleerer Raum, in dem ich mich mit den langen, plumpen Bewegungen eines Tauchers vorwärtstastete. Die Einsamkeit entstand auch durch die Fragen, Fragen, die ich mir stellte und auf die ich keine Antwort wußte. Schon mit vier, fünf Jahren sah ich mich um und fragte: »Warum bin ich hier? Woher komme ich, woher kommen all die Dinge, die ich rund um mich sehe, was steckt dahinter, sind sie immer da gewesen, auch als es mich noch nicht gab, werden sie immer da sein?« Ich stellte mir alle Fragen, die empfindsame Kinder sich stellen, wenn sie beginnen, die Vielschichtigkeit der Welt wahrzunehmen. Ich war überzeugt, daß auch die Großen sich diese Fragen stellten, daß sie fähig wären, sie zu beantworten, aber nach zwei oder drei Versuchen mit meiner Mutter und dem Kindermädchen habe ich nicht nur geahnt, daß sie ebensowenig eine Antwort wußten, sondern daß sie sich auch nie danach gefragt hatten.

So wuchs das Gefühl von Einsamkeit noch, verstehst du, ich war gezwungen, jedes Rätsel aus eigener Kraft zu lösen: Je mehr Zeit verging, um so mehr Fragen stellte ich mir zu allem, es waren immer größere, immer schreckli-chere Fragen, die angst machten, wenn man nur daran dachte.

Die erste Begegnung mit dem Tod hatte ich mit etwa sechs Jahren. Mein Vater besaß einen Jagdhund, Argo; er war von sanftem, freundlichem Wesen und mein liebster Spielgefährte. Ganze Nachmittage fütterte ich ihn mit Breichen aus Schlamm und Gras, oder ich zwang ihn, sich von mir frisieren zu lassen, und er trottete, ohne sich auf- zulehnen, mit clipsgeschmückten Ohren durch den Garten. Eines Tages jedoch, als ich wieder einmal eine neue Frisur an ihm ausprobierte, bemerkte ich eine Schwellung an seinem Hals. Schon seit einigen Wochen hatte er keine Lust mehr zu laufen und zu springen wie früher, und wenn ich mich in eine Ecke setzte, um mein Nachmittagsbrot zu essen, baute er sich nicht mehr hoffnungsvoll seufzend vor mir auf.

Eines Mittags erwartete Argo mich nicht am Gartentor, als ich aus der Schule kam. Zuerst dachte ich, er sei mit meinem Vater unterwegs. Als ich aber meinen Vater, ohne Argo zu seinen Füßen, ruhig in seinem Arbeitszimmer sitzen sah, geriet ich in große innere Erregung. Ich ging hinaus und rief laut schreiend überall im Garten nach ihm, kehrte auch zwei- oder dreimal ins Haus zurück und durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden. Am Abend, als ich meinen Eltern den obligatorischen Gutenachtkuß geben sollte, nahm ich meinen ganzen Mut zu- sammen und fragte meinen Vater: »Wo ist Argo?« – »Argo«, erwiderte er, ohne den Blick von der Zeitung zu heben, »Argo ist weggegangen.« – »Warum denn?« fragte ich. »Weil er deine Quälereien satt hatte.«

Taktlosigkeit? Oberflächlichkeit? Sadismus? Was lag in dieser Antwort? Genau in dem Augenblick, in dem ich die Worte hörte, zerbrach etwas in mir. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, und tagsüber brach ich bei der geringsten Nichtigkeit in Tränen aus. Nach ein bis zwei Monaten wurde ein Kinderarzt zu Rate gezogen. »Die Kleine ist erschöpft«, sagte er und verordnete mir Lebertran. Warum ich nicht schlief, warum ich immer Argos zernagten Ball mit mir herumtrug, hat mich nie jemand gefragt.


Date: 2016-01-14; view: 489


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