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Fünftes Kapitel 6 page

»Du bist ein Prophet geworden«, sagte Roderigo, »seht, meine Freunde, er hat die ägyptische Weisheit heimgebracht.«

»Wie könnt Ihr nur«, sagte der Pilgrim, »so weise und so törichte Dinge in einem Atem sprechen und verrichten? Sollte man Euch diese frommen Gemütsbewegungen zutrauen?« –

Rudolph stand auf und gab dem Ludovico die Hand, und sagte: »Wollt Ihr mein Freund sein, oder mich fürs erste nur um Euch dulden, so will ich Euch begleiten, wohin Ihr auch geht, seid Ihr mein Meister, ich will Euer Schüler werden. Ich opfere Euch jetzt alles auf, Braut und Vater und Geschwister.«

»Habt Ihr Geschwister?« fragte Ludovico.

»Zwei Brüder«, antwortete Rudolph, »wir lieben uns von Kindesbeinen, aber seitdem ich Euch gesehn habe, fühle ich gar keine Sehnsucht mehr, Italien wiederzusehn.«

Ludovico sagte: »Wenn ich über irgend etwas in der Welt traurig werden könnte, so wäre es darüber, daß ich nie eine Schwester, einen Bruder gekannt habe. Mir ist das Glück versagt, in die Welt zu treten, und Geschwister anzutreffen, die gleich dem Herzen am nächsten zugehören. Wie wollte ich einen Bruder lieben, wie hätte ich ihm mit voller Freude begegnen, meine Seele in die seinige fest hineinwachsen wollen, wenn er schon meine Kinderspiele geteilt hätte! Aber ich habe mich immer einsam gefunden, mein tolles Glück, mein wunderliches Landschwärmen sind mir nur ein geringer Ersatz für die Bruderliebe, die ich immer gesucht habe. Zürne mir nicht, Roderigo, denn du bist mein bester Freund. Aber wenn ich ein Wesen fände, in dem ich den Vater, sein Temperament, seine Launen wahrnähme, mit welchem Erschrecken der Freude und des Entzückens würde ich darauf zueilen und es in meine brüderlichen Arme schließen! Mich selbst, im wahrsten Sinn, fände ich in einem solchen wieder. – Aber ich habe eine einsame Kindheit verlebt, ich habe niemand weiter gekannt, der sich um mein Herz beworben hätte, und darum kann es wohl sein, daß ich keinen Menschen auf die wahre Art zu lieben verstehe, denn durch Geschwister lernen wir die Liebe, und in der Kindheit liebt das Herz am schönsten. – So bin ich hartherzig geworden und muß mich nun selber dem Zufalle verspielen, um die Zeit nur hinzubringen. Die schönste Sehnsucht ist mir unbekannt geblieben, kein brüderliches Herz weiß von mir und schmachtet nach mir, ich darf meine Arme nicht in die weite Welt hineinstrecken, denn es kommt doch keiner meinem schlagenden Herzen entgegen.«

Franz trocknete sich die Tränen ab, er unterdrückte sein Schluchzen. Es war ihm, als drängte ihn eine unsichtbare Gewalt aufzustehn, die Hand des Unbekannten zu fassen, ihm in die Arme zu stürzen und auszurufen: »Nimm mich zu deinem Bruder an!« Er fühlte die Einsamkeit, die Leere in seinem eignen Herzen, Ludovico sprach die Wünsche aus, die ihn so oft in stillen Stunden geängstigt hatten, er wollte seinen Klagen, seinem Jammer den freien Lauf lassen, als er wieder innerlich fühlte: Nein, alle diese Menschen sind mir doch fremd, er kann ja doch nicht mein Bruder werden, und vielleicht würde er nur meine Liebe verspotten.



Unter allerhand Liedern, gegen die der andächtige Gesang des Pilgers wunderlich abstach, gingen sie weiter. Roderigo sagte: »Mein Freund, du hast nun ein paarmal deines Vaters erwähnt, willst du mir nicht endlich einmal seinen Namen sagen?«

»Und wißt Ihr denn nicht«, fiel Rudolph hastig ein, »daß Euer Freund dergleichen Fragen nicht liebt? Wie könnt Ihr ihn nur damit quälen?«

»Du kennst mich schon besser, als jener«, sagte Ludovico, »ich denke, wir sollen gute Kameraden werden. Aber warum ist dein Freund Sternbald so betrübt?«

Sternbald sagte: »Soll ich darüber nicht trauern, daß der Mensch mich nun verläßt, mit dem ich so lange gelebt habe? Denn ich muß nun doch meine Reise fortsetzen, ich habe mich nur zu lange aufhalten lassen. Ich weiß selbst nicht, wie es kömmt, daß ich meinen Zweck fast ganz und gar vergesse.«

»Man kann seinen Zweck nicht vergessen«, fiel Ludovico ein, »weil der vernünftige Mensch sich schon so einrichtet, daß er gar keinen Zweck hat. Ich muß nur lachen, wenn ich Leute so große Anstalten machen sehe, um ein Leben zu führen, das Leben ist dahin, noch ehe sie mit den Vorbereitungen fertig sind.«

Unter solchen Gesprächen zogen sie wie auf einem Marsche über Feld, Rudolph ging voran, indem er auf seiner Pfeife ein munteres Lied blies, seine Bänder flogen vom Hute in der spielenden Luft, in seiner Schärpe trug er einen kleinen Säbel. Ludovico war noch seltsamer gekleidet; sein Gewand war hellblau, ein schönes Schwert hing an einem zierlich gewirkten Bandelier über seine Schulter, eine goldene Kette trug er um den Hals, sein braunes Haar war lockig. Roderigo folgte in Rittertracht, neben dem der Pilgrim mit seinem Stabe und einfachen Anzuge gut kontrastierte. Sternbald glaubte oft einen seltsamen Zug auf einem alten Gemälde anzusehn.

Es war gegen Abend, als sie alle sehr ermüdet waren, und noch ließ sich keine Stadt, kein Dorf antreffen. Sie wünschten wieder einen gutmütigen stillen Einsiedel zu finden, der sie bewirtete, sie horchten, ob sie nicht Glockenschall vernähmen, aber ihre Bemühung war ohne Erfolg. Ludovico schlug vor, im Walde das Nachtlager aufzuschlagen, aber alle, außer Florestan, waren dagegen, der die größte Lust bezeigte, sein Handwerk als Abenteurer recht sonderbar und auffallend anzufangen. Der Pilgrim glaubte, daß sie sich verirrt hätten, und daß alles vergebens sein würde, bis sie den rechten Weg wieder angetroffen hätten. Rudolph wollte den längern Streit nicht mit anhören, sondern blies mit seiner Pfeife dazwischen: alle waren in Verwirrung, und sprachen durcheinander, jeder tat Vorschläge, und keiner ward gehört. Während des Streites zogen sie in der größten Eile fort, als wenn sie vor jemand flöhen, so daß sie in weniger Zeit eine große Strecke Weges zurücklegten. Der Pilgrim sank endlich fast atemlos nieder, und nötigte sie auf diese Weise, stillezuhalten.

Als sie sich ein wenig erholt hatten, glänzten die Wolken schon vom Abendrot; sie gingen langsam weiter. – Sie zogen durch ein kleines, angenehmes Gehölz, und fanden sich auf einem runden, grünen Rasenplatz, vor ihnen lag ein Garten, mit einem Stakete umgeben, durch dessen Stäbe und Verzierungen man hindurchblicken konnte. Alles war artig eingerichtet, das Geländer war allenthalben durchbrochen gearbeitet, eiserne Türen zeigten sich an etlichen Stellen, kein Palast war sichtbar. Dichte Baumgänge lagen vor ihnen, kühle Felsengrotten, Springbrunnen hörte man aus der Ferne plätschern. Alle standen still, in dem zauberischen Anblicke verloren, den niemand erwartet hatte: späte Rosen glühten ihnen von schlanken, erhabenen Stämmen entgegen, weiter ab standen dunkelrote Malven, die wie krause gewundene Säulen die dämmerndgrünen Gänge zu stützen schienen. Alles umher war still, keine Menschenstimme war zu vernehmen.

»Ist dieser Feengarten«, rief Roderigo aus, »nicht wie durch Zauberei hierhergekommen? Wenn wir mit dem Besitzer des Hauses bekannt wären, wie erquicklich müßte es sein, in diesen anmutigen Grotten auszuruhen, in diesen dunkeln Gängen zu spazieren, und sich mit süßen Früchten abzukühlen? Wenn wir nur einen Menschen wahrnähmen, der uns die Erlaubnis erteilen könnte!«

Indem wurde Ludovico einige Bäume mit sehr schönen Früchten gewahr, die im Garten standen, große saftige Birnen und hochrote Pflaumen. Er hatte einen schnellen Entschluß gefaßt. »Laßt uns, meine guten Freunde«, rief er aus, »ohne Zeremonien über das Spalier dieses Gartens steigen, uns in jener Grotte ausruhen, mit Früchten sättigen, und dann den Mondschein abwarten, um unsre Reise fortzusetzen.«

Alle waren über seine Verwegenheit in Verwunderung gesetzt, aber Rudolph ging sogleich zu seiner Meinung über. Sternbald und der Pilgrim widersetzten sich am längsten, aber indem sie noch sprachen, war Ludovico, ohne danach hinzuhören, schon in den Garten geklettert und gesprungen, er half Florestan nach, Roderigo rief den Rückbleibenden ebenfalls zu, Sternbald bequemte sich, und der Pilgrim, den auch nach dem Obste gelüstete, fand es bedenklich, ganz ohne Gesellschaft seine Reise fortzusetzen. Er machte nachher noch viele Einwendungen, auf die niemand hörte, denn Ludovico fing an aus allen Kräften die Bäume zu schütteln, die auch reichlich Obst hergaben, das die übrigen mit vieler Emsigkeit aufsammelten.

Dann setzten sie sich in der kühlen Grotte zum Essen nieder und Ludovico sagte: »Wenn uns nun auch jemand antrifft, was ist es denn mehr? Er müßte sehr ungesittet sein, wenn er auf unsre Bitte um Verzeihung nicht hören wollte, und sehr stark, wenn wir ihm nicht vereinigt widerstehen sollten.«

Als der Pilger eine Weile gegessen hatte, fing er an, große Reue zu fühlen, aber Florestan sagte im lustigen Mute: »Seht, Freunde, so leben wir im eigentlichen Stande der Unschuld, im goldenen Zeitalter, das wir so oft zurückwünschen, und das wir uns eigenmächtig, wenigstens auf einige Stunden erschaffen haben. O wahrlich, das freie Leben, das ein Räuber führt, der jeden Tag erobert, ist nicht so gänzlich zu verachten: wir verwöhnen uns in unsrer Sicherheit und Ruhe zu sehr. Was kann es geben, als höchstens einen kleinen Kampf? Wir sind gut bewaffnet, wir fürchten uns nicht, wir sind durch uns selbst gesichert.«

Sie horchten auf, es war, als wenn sie ganz in der Ferne Töne von Waldhörnern vernähmen, aber der Klang verstummte wieder. »Seid unverzagt«, rief Ludovico aus, »und tut, als wenn ihr hier zu Hause wäret, ich stehe euch für alles.«

Der Pilgrim mußte nach dem Springbrunnen, um seine Flasche mit Wasser zu füllen, sie tranken alle nach der Reihe mit großem Wohlbehagen. Der Abend ward immer kühler, die Blumen dufteten süßer, alle Erinnerungen wurden im Herzen geweckt. »Du weißt nicht, mein lieber Roderigo«, fing Ludovico von neuem an, »daß ich jetzt in Italien, in Rom wieder eine Liebe habe, die mir mehr ist, als mir je eine gewesen war. Ich verließ das schöne Land mit einem gewissen Widerstreben, ich sah mit unaussprechlicher Sehnsucht nach der Stadt zurück, weil Marie dort zurückblieb. Ich habe sie erst seit kurzem kennengelernt, und ich möchte dir fast vorschlagen, gleich mit mir zurückzureisen, dann blieben wir alle, so wie wir hier sind, in einer Gesellschaft. O Roderigo, du hast die Vollendung des Weibes noch nicht gesehn, denn du hast sie nicht gesehn! all der süße, geheime Zauber, der die Gestalt umschwebt, das Heilige, das dir aus blauen verklärten Augen entgegenblickt: die Unschuld, der lockende Mutwille, der sich auf Wange, in den liebreizenden Lippen abbildet; – ich kann es dir nicht schildern. In ihrer Gegenwart empfand ich die ersten Jugendgefühle wieder, es war mir wieder, als wenn ich mit dem ersten Mädchen spräche, da mir die andern alle als meinesgleichen vorkommen. Es ist ein Zug zwischen den glatten schönen Augenbraunen, der die Phantasie in Ehrfurcht hält, und doch stehn die Braunen, die langen Wimpern wie goldene Netze des Liebesgottes da, um alle Seele, alle Wünsche, alle fremde Augen wegzufangen. Hat man sie einmal gesehn, so sieht man keinem andern Mädchen mehr nach, kein Blick, kein verstohlenes Lächeln lockt dich mehr, sie wohnt mit aller ihrer Holdseligkeit in deiner Brust, dein Herz ist wie eine treibende Feder, die dich ihr, nur ihr durch alle Gassen, durch alle Gärten nachdrängt; und wenn dann ihr himmelsüßer Blick dich nur im Vorübergehn streift, so zittert die Seele in dir, so schwindelt dein Auge von dem Blick in das rote Lächeln der Lippen hinunter, in die Lieblichkeit der Wangen verirrt, gern und ungern auf dem schönsten Busen festgehalten, den du nur erraten darfst. O Himmel, gib mir nur dies Mädchen in meine Arme, und ich will deine ganze übrige Welt, mit allem, allem was sie Köstliches hat, ohne Neid jedem andern überlassen!«

»Du schwärmst«, sagte Roderigo, »in dieser Sprache habe ich dich noch niemals sprechen hören.«

»Ich habe die Sprache noch nicht gekannt«, fuhr Ludovico fort, »ich habe noch nichts gekannt, ich bin bis dahin taub und blind gewesen. Was fehlt uns hier, als daß Rudolph nur noch ein Lied sänge? Eins von jenen leichten, scherzenden Liedern, die die Erde nicht berühren, die mit luftigem Schritt über den goldenen Fußboden des Abendrots gehn, und von dort in die Welt hineingrüßen. Laß einmal alle Liebe, die du je empfandest, in deinem Herzen aufzittern, und dann sprich die Rätselsprache, die nur der Eingeweihte versteht.«

»So gut ich kann, will ich Euch dienen«, sagte Rudolph, »mir fällt soeben ein Lied von der Sehnsucht ein, das Euch vielleicht gefallen wird.

Warum die Blume das Köpfchen senkt, Warum die Rosen so blaß? Ach! die Träne am Blatt der Lilie hängt, Vergangen das schön frische Gras. Die Blumen erbleichen, Die Farben entweichen, Denn sie, denn sie ist weit Die allerholdseligste Maid. Keine Anmut auf dem Feld, Keine süße Blüte am Baume mehr, Die Farben, die Töne durchstreifen die Welt Und suchen die Schönste weit umher. Unser Tal ist leer Bis zur Wiederkehr, Ach! bringt sie gefesselt in Schöne Zurücke ihr Farben, ihr Töne. Regenbogen leuchtet voran Und Blumen folgen ihm nach, Nachtgall singt auf der Bahn, Rieselt der silberne Bach: Tun als wäre der Frühling vergangen, Doch bringen sie sie nur gefangen, Wird Frühling aus dem Herbst alsbald, Herrscht über uns kein Winter kalt. Ach! ihr findet sie nicht, ihr findet sie nicht, Habt kein Auge, die Schönste zu suchen, Euch mangelt der Liebe Augenlicht, Ihr ermüdet über dem Suchen. Treibt wie Blumen die Sache als fröhlichen Scherz, Ach! nehmet mein Herz, Damit nach dem holden Engelskinde Der Frühling den Weg gewißlich finde. Und habt ihr Kinder entdeckt die Spur, Oh, so hört, oh, so hört mein ängstlich Flehn, Müßt nicht zu tief in die Augen ihr sehn, Ihre Blicke bezaubern, verblenden euch nur. Kein Wesen vor ihr besteht, All's in Liebe vergeht, Mag nichts anders mehr sein Als ihre Lieb allein. Bedenkt, daß Frühling und Blumenglanz Wo ihr Fuß wandelt, immer schon ist, Kommt zu mir zurück mit leichtem Tanz, Daß Frühling und Nachtgall doch um mich ist; Muß dann spät und früh Mich behelfen ohne sie, Mit bittersüßen Liebestränen Mich einsam nach der Schönsten sehnen. Aber bleibt, aber bleibt nur wo ihr seid, Mag euch auch ohne sie nicht wiedersehn, Blumen und Frühlingston wird Herzeleid, Will indes hier im bittersten Tode vergehn. Mich selber zu strafen, Im Grabe tief schlafen, Fern von Lied, fern von Sonnenschein Lieber gar ein Toter sein. Ach! es bricht in der Sehnsucht schon Heimlich mein Herz in der treusten Brust, Hat die Treu so schwer bittern Lohn? Bin keiner Sünde mir innig bewußt. Muß die Liebste alles erfreun, Mir nur die quälendste Pein? Treulose Hoffnung, du lächelst mich an: Nein, ich bin ein verlorner Mann!«

Es war lieblich, wie die Gebüsche umher von diesen Tönen gleichsam erregt wurden, einige verspäteten Vögel erinnerten sich ihrer Frühlingslieder, und wiederholten sie jetzt wie in einer schönen Schläfrigkeit. Roderigo war durch seinen Freund beherzt geworden, er erzählte nun auch sein Abenteuer mit der schönen Gräfin, und seine Freunde hörten ihn die Geschichte gern noch einmal erzählen. »Und nun, was soll ich euch sagen?« so schloß Roderigo, »ich habe sie verlassen, und denke jetzt nichts, als sie; immer sehe ich sie vor meinen Augen schweben, und ich weiß mich in mancher Stunde vor peinigender Angst nicht zu lassen. Ihr edler Anstand, ihr munteres Auge, ihr braunes Haar, alles, alle ihre Züge sah ich in meiner Einbildung. So oft bin ich in den Nächten unter dem hellgestirnten Himmel gewandelt, von meinem Glücke voll, zauberte ich mir dann ihre Gestalt vor meine Augen, und es war mir dann, als wenn die Sterne noch heller funkelten, als wenn das Dach des Himmels nur mit Freude ausgelegt sei. Ich sage dir, Freund Ludovico, alle Sinne werden ihr wie dienstbare Sklaven nachgezogen, wenn das Auge sie nur erblickt hat: jede ihrer sanften, reizenden Bewegungen beschreibt in Linien eine schöne Musik, wenn sie durch den Wald geht, und das leichte Gewand sich dem Fuße, der Lende geschmeidig anlegt, wenn sie zu Pferde steigt und im Galopp die Kleider auf- und niederwogen, oder wenn sie im Tanz wie eine Göttin schwebt, alles ist Wohllaut in ihr, wie man sie sieht, mag man sie nie anders sehn, und doch vergißt man in jeder neuen Bewegung die vorige. Es ist mehr Wollust, sie mit den Augen zu verfolgen, als in den Armen einer andern zu ruhn.«

»Nur Wein fehlt uns«, rief Florestan aus, »die Liebe ist wenigstens im Bilde zugegen.«

»Wenn ich mir denke«, sprach Roderigo erhitzt weiter, »daß sich ein andrer jetzt um ihre Liebe bewirbt, daß sie ihn mit freundlichen Augen anblickt, ich könnte unsinnig werden. Ich bin auf jedermann böse, der ihr nur vorübergeht: ich beneide das Gewand, das ihren zarten Körper berührt und umschließt. Ich bin lauter Eifersucht, und dennoch habe ich sie verlassen können.«

Ludovico sagte: »Du darfst dich darüber nicht verwundern. Ich bin nicht nur bei jedem Mädchen, das ich liebte, eifersüchtig gewesen, sondern auch bei jeder andern, wenn sie nur hübsch war. Hatte ich ein artiges Mädchen bemerkt, das ich weiter gar nicht kannte, das von mir gar nichts wußte, so stand meine Begier vor ihrem Bilde gleichsam Wache, ich war auf jedermann neidisch und böse, der nur durch den Zufall zu ihr ins Haus ging, der sie grüßte und dem sie höflich dankte. – Sprach einer freundlich mit ihr, so konnte ich mir diesen Unbekannten auf mehrere Tage auszeichnen und merken, um ihn zu hassen. Oh, diese Eifersucht ist noch viel unbegreiflicher als unsre Liebe, denn wir können doch nicht alle Weiber und Mädchen zu unserm Eigentum machen; aber das lüsterne Auge läßt sich keine Schranken setzen, unsre Phantasie ist wie das Faß der Danaiden, unser Sehnen umfängt und umarmt jeglichen Busen.«

Indem war es ganz finster geworden, der müde Pilgrim war eingeschlafen, einige Hörnertöne erschallten, aber fast ganz nahe an den Sprechenden, dann sang eine angenehme Stimme:

»Treulieb ist nimmer weit, Nach Kummer und nach Leid Kehrt wieder Lieb und Freud, Dann kehrt der holde Gruß, Händedrücken, Zärtlich Blicken, Liebeskuß.«

»Nun werden die Obstdiebe ertappt werden«, rief Ludovico aus.

»Ich kenne diese Melodie, ich kenne diese Worte«, sagte Sternbald, »und wenn ich mich recht erinnere – –«

Wieder einige Töne, dann fuhr die Stimme fort zu singen:

»Treulieb ist nimmer weit, Ihr Gang durch Einsamkeit Ist dir, nur dir geweiht. Bald kömmt der Morgen schön, Ihn begrüßet Wie er küsset Freudenträn'.«

Jetzt kamen durchs Gebüsch Gestalten, zwei Damen gingen voran, mehrere Diener folgten. Die fremde Gesellschaft war indes aufgestanden, Roderigo trat vor, und mit einem Ausruf des Entzückens lag er in den Armen der Unbekannten. Die Gräfin war es, die vor Freude erst nicht die Sprache wiederfinden konnte. »Ich habe dich wieder!« rief sie dann aus, »o gütiges Schicksal, sei gedankt!«

Man konnte sich anfangs wenig erzählen. Sie hatte, um sich zu zerstreuen, eine Freundin ihrer Jugend besucht, dieser gehörte Schloß und Garten. Von dem Unerlaubten des Übersteigens war gar die Rede nicht.

Die Abendmahlzeit stand bereit, der Pilgrim ließ sich nach seiner mühseligen Wanderschaft sehr wohl sein, Franz ward von der Freundin Adelheids (dies war der Name der Gräfin) sehr vorgezogen, da sie die Kunst vorzüglich liebte. Auch ihr Gemahl sprach viel über Malerei, und lobte den Albrecht Dürer vorzüglich, von dem er selbst einige schöne Stücke besaß.

Alle waren wie berauscht, sie legten sich früh schlafen, nur Roderigo und die Gräfin blieben länger munter.

Franz konnte nicht bemerken, ob Roderigo und die Gräfin sich so völlig ausgesöhnt hatten, um sich zu vermählen, er wollte nicht länger als noch einen Tag zögern, um seine Reise fortzusetzen, er machte sich Vorwürfe, daß er schon zu lange gesäumt habe. Er hätte gern von Roderigo sich die Erzählung fortsetzen lassen, die beim Eremiten in ihrem Anfange abgebrochen wurde, aber es fand sich keine Gelegenheit dazu. Der Herr des Schlosses nötigte ihn zu bleiben, aber Franz fürchtete, daß das Jahr zu Ende laufen, und er noch immer nicht in Italien sein möchte.

Nach zweien Tagen nahm er von allen Abschied, Ludovico wollte bei seinem Freunde bleiben, auch Florestan blieb bei den beiden zurück. Jetzt fühlte Sternbald erst, wie lieb ihm Rudolph sei, auch ergriff ihn eine unerklärliche Wehmut, als er dem Ludovico die Hand zum Abschiede reichte. Florestan war auf seine Weise recht gerührt, er versprach unserm Freunde, ihm bald nach Italien zu folgen, ihn binnen kurzem gewiß in Rom anzutreffen. Sternbald konnte seine Tränen nicht zurückhalten, als er zur Tür hinausging, den Garten noch einmal mit einem flüchtigen Blicke durchirrte. Der Pilgrim war sein Gefährte.

Draußen in der freien Landschaft, als er nach und nach das Schloß verschwinden sah, fühlte er sich erst recht einsam. Der Morgen war frisch, er ging stumm neben dem Pilger hin, erinnerte sich aller Gespräche, die sie miteinander geführt, aller kleinen Begebenheiten, die er in Rudolphs Gesellschaft erlebt hatte. Sein Kopf wurde wüst, ihm war, als habe er die Freude seines Lebens verloren. Der Pilgrim verrichtete seine Gebete, ohne sich sonderlich um Sternbald zu kümmern.

Nachher gerieten sie in ein Gespräch, worin der Pilger ihm den genauen Zustand seiner Haushaltung erzählte. Sternbald erfuhr alle die Armseligkeiten des gewöhnlichen Lebens, wie jener ein Kaufmann von mittelmäßigen Glücksumständen sei, wie er darnach trachte, mehr zu gewinnen und seine Lage zu verbessern. Franz, dem die Empfindung drückend war, aus seinem leichten poetischen Leben so in das wirkliche zurückgeführt zu werden, antwortete nicht, und gab sich Mühe, gar nicht darnach hinzuhören. Jeder Schritt seines Weges ward ihm sauer, er kam sich ganz einsam vor, es war ihm wieder, als wenn ihn seine Freunde verlassen hätten und sich nicht um ihn kümmerten.

Sie kamen in eine Stadt, wo Franz einen Brief von seinem Sebastian zu finden hoffte, von dem er seit lange nichts gehört hatte. Er trennte sich hier von dem Pilgrim und eilte nach dem bezeichneten Mann. Es war wirklich ein Brief für ihn da, er erbrach ihn begierig, und las:

 

Liebster Franz!

Wie Du glücklich bist, daß Du in freier, schöner Welt herumwanderst, daß Dir nun das alles in Erfüllung geht, was Du sonst nur in Entfernung dachtest, dieses Dein großes Glück sehe ich nun erst vollkommen ein. Ach, lieber Bruder, es will mir manchmal vorkommen, als sei mein Lebenslauf durchaus verloren: aller Mut entgeht mir, so in der Kunst, als im Leben fortzufahren. Jetzt ist es dahin gekommen, daß Du mich trösten könntest, wie ich Dir sonst wohl oft getan habe.

Unser Meister fängt an, oft zu kränkeln, er kam damals so gesund von seiner Reise zurück, aber diese schöne Zeit hat sich nun schon verloren. Er ist in manchen Stunden recht melancholisch: dann wird er es nicht müde, von Dir zu sprechen, und Dir das beste Schicksal zu wünschen.

Ich bin fleißig, aber meine Arbeit will nicht auf die wahre Art aus der Stelle rücken, mir fehlt der Mut, der die Hand beleben muß, ein wehmütiges Gefühl zieht mich von der Staffelei zurück. – Du schreibst mir von Deiner seltsamen Liebe, von Deiner fröhlichen Gesellschaft: ach, Franz, ich bin hier verlassen, arm, vergessen oder verachtet, ich habe die Kühnheit nicht, Liebe in mein trauriges Leben hineinzuwünschen. Ich spreche zur Freude: was machst du? und zum Lachen: du bist toll! – Ich kann es mir nicht vorstellen, daß mich einst ein Wesen liebte, daß ich es lieben dürfte. Ich gehe oft im trüben Wetter durch die Stadt, und betrachte Gebäude und Türme, die mühselige Arbeit, das künstliche Schnitzwerk, die gemalten Wände, und frage dann: Wozu soll es? Der Anblick eines Armen kann mich so betrübt machen, daß ich die Augen nicht wieder aufheben mag.

Meine Mutter ist gestorben, mein Vater liegt in der Vorstadt krank. Sein Handwerk kann ihn jetzt nicht nähren, ich kann nur wenig für ihn tun. Meister Dürer ist gut, er hilft ihm und auf die beste Art, so daß er mich nichts davon fühlen läßt, ich werde es ihm zeitlebens nicht vergessen. Aber warum kann ich nicht mehr für ihn tun? Warum fiel es mir noch im sechszehnten Jahre ein, ein Maler zu werden? Wenn ich ein ordentliches Handwerk ergriffen hätte, so könnte ich vielleicht jetzt selber meinen Vater ernähren. Es dünkt mir töricht, daß ich an der Ausarbeitung einer Geschichte arbeite, und indessen alles wirkliche Leben um mich her vergesse.

Lebe wohl, bleibe gesund. Sei in allen Dingen glücklich. Liebe immer noch

Deinen Sebastian.

 

Franz ließ das Blatt sinken und sah den Himmel an. Sein Freund, Dürer, Nürnberg und alle ehemaligen bekannten Gegenstände kamen mit frischer Kraft in sein Gedächtnis. »Ja, ich bin glücklich«, rief er aus, »ich fühle es jetzt, wie glücklich ich bin! Mein Leben spinnt sich wie ein goldener Faden auseinander: ich bin auf der Reise, ich finde Freunde, die sich meiner annehmen, die mich lieben, meine Kunst hat mich wider Erwarten fortgeholfen, was will ich denn mehr? Und vielleicht lebt sie doch noch, vielleicht hat sich die Gräfin geirrt. – Leben nicht Rudolph und Sebastian noch? Wer weiß, wo ich meine Eltern finde. O Sebastian, wärst du zugegen, daß ich dir die Hälfte meines Mutes geben könnte!«

Zweites Kapitel

Als Sternbald durch die Stadt streifte, glaubte er einmal in der Ferne den Bildhauer Bolz zu bemerken, aber die Person, die er dafür hielt, verlor sich wieder aus den Augen. Franz ergötzte sich, wieder in einem Gewühl von unbekannten Menschen herumzuirren. Es war Jahrmarkt, und aus den benachbarten kleinen Städten und Dörfern hatten sich Menschen aller Art versammelt, um hier zu verkaufen und einzukaufen. Sternbald freute sich an der allgemeinen Fröhlichkeit, die alle Gesichter beherrschte, die so viele verworrene Töne laut durcheinander erregte.

Er stellte sich etwas abseits, und sah nun die Ankommenden, oder die schon mit ihren eingekauften Waren zurückgingen. Alle Fenster am Markte waren mit Menschen angefüllt, die auf das verworrene Getümmel heruntersahen. Franz sagte zu sich selbst: »Welch ein schönes Gemälde! und wie wäre es möglich, es darzustellen? Welche angenehme Unordnung, die sich aber auf keinem Bilde nachahmen läßt! Dieser ewige Wechsel der Gestalten, dies mannigfaltige, sich durchkreuzende Interesse, daß diese Figuren nie auch nur auf einen Augenblick in Stillstand geraten, ist es gerade, was es so wunderbar schön macht. Alle Arten von Kleidungen und Farben verirren sich durcheinander, alle Geschlechter und Alter, Menschen, dicht zusammengedrängt, von denen keiner am Nächststehenden Teil nimmt, sondern nur für sich selber sorgt. Jeder sucht und holt das Gut, das er sich wünscht, mit lachendem Mute, als wenn die Götter plötzlich ein großes Füllhorn auf den Boden ausgeschüttet hätten, und emsig nun diese Tausende herausraffen, was ein jeder bedarf.«

Leute zogen mit Bildern umher, die sie erklärten, und zu denen sich eine Menge Volks versammelte. Es waren schlechte, grobe Figuren auf Leinwand gemalt. Das eine war die Geschichte eines Handwerkers, der auf seiner Wanderschaft den Seeräubern in die Hände geraten war, und in Algier schmähliche Sklavendienste hatte tun müssen. Er war dargestellt, wie er mit andern Christen im Garten den Pflug ziehen mußte, und sein Aufseher ihn mit einer fürchterlichen Geißel dazu antrieb. Eine zweite Vorstellung war das Bild eines seltsamlichen Ungeheuers, von dem der Erklärer behauptete, daß es jüngst in der mittelländischen See gefangen sei. Es hatte einen Menschenkopf und einen Panzer auf der Brust, seine Füße waren wie Hände gebildet und große Floßfedern hingen herunter, hinten war es Pferd.


Date: 2016-01-14; view: 449


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