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Fünftes Kapitel 1 page

Der Morgen kam. Franz hatte eine Gesellschaft gefunden, die auf dem Kanal mit einem Schiffe nach Rotterdam fahren wollte, dort wollten sie dann ein größeres nehmen, um vollends nach Antwerpen zu kommen.

Es war helles Wetter, als sie in das Boot stiegen; die Gesellschaft schien bei guter Laune. Franz betrachtete sie nach der Reihe, und keiner darunter fiel ihm besonders auf, außer ein junger Mensch, der einige zwanzig Jahr alt zu sein schien, und ungemein schön von Gesicht und sehr anmutig in seinen Gebärden war. Franz fühlte sich immer mehr zu den jüngern als zu den ältern Leuten hingezogen; er sprach mit den letztern ungern, weil er nur selten in ihre Empfindungen einstimmen konnte. Bei alten Leuten empfand er seine Beschränkung noch quälender, und er merkte es immer, daß er ihnen zu lebhaft, zu jugendlich war, daß er sich gemeiniglich an Dingen entzückte, die jenen immer fremd geblieben, und daß sie doch zuweilen mit einem gewissen Mitleiden, mit einer hoffärtigen Duldung auf ihn hinabblickten, als wenn er endlich allen diesen Gefühlen und Stürmen vorüberschiffen würde, um in ihr ruhiges kaltes Land festen Fuß zu fassen. Vollends demütigte es ihn oft, wenn sie dieselben Gegenstände liebten, die er verehrte; Lob und Tadel, Anpreisung und Nachsicht aber mit so scheinbarer Gerechtigkeit austeilten, daß von ihrer Liebe fast nichts übrigblieb. Er dagegen war gewohnt aus vollem Herzen zu zahlen, seine Liebe nicht zu messen und einzuschränken, sondern es zu dulden, daß sie sich in vollen Strömen durch das Land der Kunst, sein Land der Verheißung ergoß; je mehr er liebte, je wohler ward ihm. – Er konnte sein Auge von dem Jünglinge nicht zurückziehn, die lustigen hellen braunen Augen und das gelockte Haar, eine freie Stirn, und dazu eine bunte, fremdartige Tracht machten ihn zum Gegenstand seiner Neugier.

Das Schiff fuhr fort, und man sah links weit in das ebene Land hinein. Die Gesellschaft schien nachdenkend, oder vielleicht müde, weil sie alle früh aufgestanden waren; nur der Jüngling schaute unbefangen mit seinen großen Augen umher. Ein ältlicher Mann zog ein Buch hervor und fing an zu lesen; doch es währte nicht lange, so schlummerte er. Die übrigen schienen ein Gespräch zu wünschen.

»Der Herr Vansen schläft«, sagte der eine zu seinem Nachbar, »das Lesen ist ihm nicht bekommen.«

»Er schläft nicht so, Nachbar Peters, daß er Euch nicht hören sollte«, sagte Vansen, indem er sich ermunterte. »Ihr solltet nur etwas erzählen, oder ein lustiges Lied singen.«

»Ich bin heiser«, sagte jener, »Ihr wißt es selber; auch hab ich eigentlich seit Jahr und Tag das Singen schon aufgegeben.«

Der fremde Jüngling sagte: »Ich will mich wohl anbieten, ein Lied zu singen, wenn ich nur wüßte, daß die Herren es mit der Poesie nicht so genau nehmen wollen.«



Sie versicherten ihn alle, daß es nicht geschehn würde, und jener sprach weiter: »Es ist auch nur, daß man sich das bißchen Freude verbittert; alle Lieder, die ich gern singe, müssen sich hübsch geradezu, und ohne Umschweife ausdrücken. Ich will also mit eurer Erlaubnis anfangen.

Über Reisen kein Vergnügen, Wenn Gesundheit mit uns geht: Hinter uns die Städte liegen, Berg und Waldung vor mir steht. Jenseit, jenseit, ist der Himmel heiter, Treibt mich rege Sehnsucht weiter. Schau dich um, und laß die trüben Blicke, Sieh, da liegt die große weite Welt, In der Stadt blieb alles Graun zurücke, Das den Sinn gefangenhält. Endlich wieder Himmel, grüne Flur, Groß und lieblich die Natur. Auch ein Mädchen muß dich nimmer quälen, Kömmst ja doch zu Menschen wieder hin, Nirgend wird es dir an Liebe fehlen, Ist dir Lieben ein Gewinn: Darum laß die trüben Blicke, Allenthalben blüht dein Glücke. Immer munter, Freunde, munter, Denn mein Mädchen wartet schon; Treibt den Fluß nur rasch hinunter, Denn mich dünkt, mich lockt ihr Ton. Günstig sind uns alle Winde, Stürme schweigen, Lüfte säuseln linde. Siehst du die Sonne nicht Glänzen im Bach? Wo du bist, spielt das Licht Freundlich dir nach. Durch den Wald Funkelschein, Sieht in den Quell; Kuckt in die Flut hinein, Lacht drum so hell. So auch der Liebe Licht Wandelt mit dir, Löschet wohl nimmer nicht. Ist dorten bald hier. Liebst du die Morgenpracht, Wenn nach der schwarzen Nacht Auf diamantner Bahn Die Sonne ihren Weg begann? Wenn alle Vögel jubeln laut, Begrüßen fröhlich des Tages Braut, Wenn Wolken sich zu Füßen schmiegen, In Brand und goldnem Feuer fliegen? Auch wenn die Sonne nun den Wagen lenkt, Und hinter ihr das Morgenrot erbleicht, Lust, Heiterkeit durch alle Welt hin fleugt, Bis sich zum Meer die Göttin senkt. Und dann funkeln neue Schimmer Über See und über Land, Erd und Himmel im Geflimmer Sich zu einem Glanz verband. Prächtig mit Rubinen und Saphiren, Siehst du dann den Abendhimmel prangen, Goldenes Geschmeide um ihn hangen, Edelsteine Hals und Nacken zieren, Und in holder Glut die schönen Wangen. Drängt sich nicht mit stillem Licht der Chor Aller Sterne, ihn zu sehen, vor? Jubeln nicht die Lerchen ihre Lieder, Tönt nicht Fels und Meer Gesänge wider? – Also wenn die erste Liebe dir entschwunden, Mußt du weibisch nicht verzagen, Sondern dreist dein Glücke wagen, Bald hast du die zweite aufgefunden, Und kannst du im Rausche dann noch klagen: ›Nie empfand ich was ich vor empfunden?‹ Nie vergißt der Frühling wiederzukommen, Wenn Störche ziehn, wenn Schwalben auf der Wiese sind. Kaum ist dem Winter die Herrschaft genommen, So erwacht und lächelt das goldene Kind. Dann sucht er sein Spielzeug wieder zusammen, Das der alte Winter verlegt und verstört, Er putzt den Wald mit grünen Flammen, Der Nachtigall er die Lieder lehrt. Er rührt den Obstbaum mit rötlicher Hand, Er klettert hinauf die Aprikosen-Wand, Wie Schnee die Blüte rot unter die Blätter dringt, Er schüttelt froh das Köpfchen, daß ihm die Arbeit gelingt. Dann geht er und schläft im waldigen Grund, Und haucht den Atem aus, den süßen, Um seinen zarten roten Mund Im Grase Viol' und Erdbeer sprießen: Wie rötlich und bläulich lacht Das Tal, wann er erwacht! In den verschloßnen Garten Steigt er übers Gitter in Eil, Mag auf den Schlüssel nicht warten, Ihm ist keine Wand zu steil. Er räumt den Schnee aus dem Wege, Er schneidet das Buchsbaumgehege, Und friert auch am Abend nicht, Er schaufelt und arbeitet im Mondenlicht. Dann ruft er: ›Wo säumen die Spielkameraden Daß sie so lange in der Erde bleiben? Ich habe sie alle eingeladen, Mit ihnen die fröhliche Zeit zu vertreiben.‹ Die Lilie kommt und reicht die weißen Finger, Die Tulpe steht mit dickem Kopfputz da, Die Rose tritt bescheiden nah, Aurikelchen und alle Blumen, vornehm und geringer. Der bunte Teppich ist nun gestickt, Die Liebe tritt aus Jasminlauben hervor. Da danken die Menschen, da jauchzet der Vögel ganzes Chor, Denn alle fühlen sich beglückt. Dann küßt der Frühling die zarten Blumenwangen, Und scheidet und spricht: ›Ich muß nun gehn.‹ Da sterben sie alle am süßen Verlangen, Daß sie mit welken Häuptern stehn. Der Frühling spricht: ›Vollendet ist mein Tun, Ich habe schon die Schwalben herbestellt. Sie tragen mich in eine andre Welt, Ich will in Indiens duftenden Gefilden ruhn. Ich bin zu klein, das Obst zu pflücken, Den Stock der schweren Traube zu entkleiden, Mit der Sense das goldene Korn zu schneiden, Dazu will ich den Herbst euch schicken. Ich liebe das Spielen, bin nur ein Kind, Und nicht zur ernsten Arbeit gesinnt. Doch seid ihr satt der Winterleiden, Komm ich zurück zu andern Freuden, Die Blumen, die Vögel nehm ich mit mir, Wenn ihr erntet und keltert, was sollen sie hier? Ade! Ade! ist die Liebe nur da, So bleibt euch der Frühling ewiglich nah!‹«

»Ihr habt das Lied sehr schön gesungen«, sagte Vansen, »aber es ist wahr, daß man es mit dem Texte nicht so genau nehmen muß, denn das letzte hängt gar nicht mit dem ersten zusammen.«

»Ihr habt sehr recht«, sagte der Fremde, »indessen Ihr kennt das Sprichwort: Ein Schelm gibt's besser, als er es hat.«

»Ich habe einen guten und schönen Zusammenhang darin gefunden«, sagte Franz. »Der Hauptgedanke ist der fröhliche Anblick der Welt, das Lied will uns von trüben Gedanken und Melancholie abziehen, und so kömmt es von einer Vorstellung auf die andre. Zwar ist nicht der Zusammenhang einer Rede darin, aber es wandelt gerade so fort, wie sich unsre Gedanken in einer schönen heitern Stunde bilden.«

»Ihr seid wohl selber ein Poet?« rief der Fremde aus.

Franz errötete und sagte, daß er ein Maler sei, der vor jetzt nach Antwerpen, und dann nach Italien zu gehen gesonnen sei.

»Ein Maler?« schrie Vansen auf, indem er Sternbald genau betrachtete. »O so gebt mir Eure Hand! dann müssen wir näher miteinander bekannt werden!«

Franz war in Verlegenheit, er wußte nichts zu erwidern; der Niederländer fuhr fort: »Vor allen Künsten in der Welt ergötzt mich immer die Kunst der Malerei am meisten, und ich begreife nicht, wie viele Menschen so kalt dagegen sein können. Denn was ist Poesie und Musik, die so flüchtig vorüberrauschen, und uns kaum anrühren? Jetzt vernehme ich die Töne, und dann sind sie vergessen – sie waren und waren auch nicht; Klänge, Worte, von denen ich niemals recht weiß, was sie mir sollen; sie sind nur Spielwerk, das ein jeder anders handhabt. Dagegen verstehn es die edlen Malerkünstler, mir Sachen und Personen unmittelbar vor die Augen zu stellen, mit ihren freundlichen Farben, mit aller Wirklichkeit und Lebendigkeit, so daß das Auge, der klügste und edelste Sinn des Menschen, gleich ohne Verzögern alles auffaßt und versteht. Je öfter ich die Figuren wiedersehe, je bekannter sind sie mir, ja ich kann sagen, daß sie meine Freunde werden, daß sie für mich ebensogut leben und da sind, als die übrigen Menschen. Darum liebe ich die Maler so ungemein, denn sie sind gleichsam Schöpfer, und können schaffen und darstellen, was ihnen gelüstet.«

Von diesem Augenblicke bemühte sich Vansen sehr um Sternbald; dieser nannte ihm seinen Namen, und ward von jenem dringend gebeten, ihn in Antwerpen in seinem Hause zu besuchen und etwas für ihn zu malen. Auf der fortgesetzten Reise geriet Franz mit dem unbekannten Jünglinge in ein näheres Gespräch, und erfuhr von ihm, daß er sich Rudolph Florestan nenne, daß er aus Italien sei, jetzt England besucht habe, und nach seiner Heimat zurückzukehren denke. Die Jünglinge beschlossen, die Reise in Gesellschaft zu machen, denn sie fühlten beide einen Zug der Freundschaft zueinander, der sie schnell vereinigte. »Wir wollen recht vergnügt mitsammen sein«, sagte Rudolph; »ich bin schon mehr als einmal in Deutschland gewesen, und habe lange unter Euren Landsleuten gelebt, ich bin selbst ein halber Deutscher und liebe Eure Nation.«

Franz war erfreut, diese Bekanntschaft gemacht zu haben. Er äußerte seine Verwunderung, daß Rudolph in so früher Jugend schon von der Welt so viel gesehn habe. »Das muß Euch nicht erstaunen«, sagte jener, »mein unruhiger Geist treibt mich immer umher, und wenn ich eine Weile still in meiner Heimat gesessen habe, muß ich wieder reisen, wenn ich nicht krank werden will. Wenn ich auf der Reise bin, geschieht es mir wohl, daß ich mich nach meinem Hause sehne, und mir vornehme, nie wieder in der Ferne herumzustreifen; indessen dauern dergleichen Vorsätze niemals lange, ich darf nur von fremden Ländern hören oder lesen, gleich ist die alte Lust in mir wieder aufgewacht. So bin ich auch schon Spanien durchstreift, ich habe Valencia und das wundersame Granada gesehn, mit seinem herrlichen Schlosse, den fremden, seltsamen Sitten und Trachten, ich habe die Luft der elysischen Gefilde von Malaga eingeatmet, und kenne den Manserrate mit seinen Klöstern und grünbewachsenen Klippen.«

Ein großer Teil der Gesellschaft kam jetzt darauf, man solle, um die Zeit der Fahrt zu verkürzen, Geschichten oder Märchen erzählen. Alle trauten dem Rudolph zu, daß er am besten imstande sei, ihr Begehren zu erfüllen; sie ersuchten ihn daher alle und auch Franz vereinigte sich mit ihren Bitten. »Ich will es gern tun«, antwortete Rudolph, »allein es geht mir mit meiner Geschichte, wie mit meinem Liede, sie wird keinem recht gefallen.« Alle behaupteten, daß er sie gewiß unterhalten werde, er solle nur getrost anfangen. Rudolph sagte: »Ich liebe keine Geschichte, und mag sie gar nicht erzählen, in der nicht von Liebe die Rede ist. Die alten Herren aber kümmern sich um dergleichen Neuigkeiten nicht viel.«

»O doch«, sagte Vansen; »nur finde ich es in vielen Geschichten der Art unnatürlich, wie die ganze Erzählung vorgetragen wird; gewöhnlich macht man doch zu viel Aufhebens davon, und das ist, was mir mißfällt. Wenn es aber alles so recht natürlich und wahr fortgeht, so kann ich mich sehr daran ergötzen.«

»Das ist es gerade«, rief Rudolph aus, »was ich sagte! Die meisten Menschen wollen alles gar zu natürlich haben, und wissen doch eigentlich nicht, was sie sich darunter vorstellen; sie fühlen den Hang zum Seltsamen und Wunderbaren, aber doch soll das alles wieder alltäglich werden: sie wollen wohl von Liebe und Entzücken reden hören, aber alles soll sich in den Schranken der Billigkeit halten. Doch, ich will nur meine Geschichte anfangen, weil ich sonst selber die Schuld trage, wenn ihr zu viel erwartet. – –

Die Sonne ging eben auf, als ein junger Edelmann, den ich Ferdinand nennen will, auf dem freien Felde spazierte. Er war damit beschäftigt, die Pracht des Morgens zu beschauen, wie sich nach und nach das Morgenrot und das lichte Gold des Himmels immer brennender zusammendrängten und immer höher leuchteten. Er verließ gewöhnlich an jedem Morgen sein Schloß, auf dem er unverheiratet und einsam lebte, seine Eltern waren vor einiger Zeit gestorben. Dann setzte er sich gewöhnlich in dem benachbarten Wäldchen nieder, und las einen der italienischen Dichter, die er sehr liebte.

Jetzt war die Sonne heraufgestiegen, und er wollte sich eben nach dem einsamen Waldplatze begeben, als er aus der Ferne einen Reuter heransprengen sah. Auf dem Hute und Kleide des Reitenden glänzten Gold und Edelgesteine im Schein des Morgens, und als er näher kam, glaubte Ferdinand einen vornehmen Ritter vor sich zu sehn. Der Fremde ritt eiligst vorüber und verschwand im Walde; kein Diener folgte ihm.

Ferdinand wunderte sich noch über diese Eile, als er zu seinen Füßen im Grase etwas Glänzendes wahrnahm. Er ging hinzu und hob das Bildnis einer Dame auf, das mit kostbaren Diamanten eingefaßt war. Er ging damit nach dem Walde, indem er es aufmerksam betrachtete; er setzte sich an der gewohnten Stelle nieder, und vergaß sein Buch herauszuziehen, so sehr war er mit dem Bilde beschäftigt.«

»Wie ich gesagt habe«, fiel Vansen ein, »die Malerei hat eine wunderbare Kraft über uns: das Bild wird gewiß trefflich gemalt gewesen sein. Aber sagt mir doch: was war dieser Edelmann für ein Landsmann?«

»Je nun, ich denke«, antwortete Rudolph, »er wird wohl ein Deutscher gewesen sein, und jetzt erinnere ich mich deutlich, er war aus Franken.«

»Nun so seid so gut, und fahrt fort.«

»Er kam nach Hause und aß nicht. Leopold, sein vertrautester Freund, besuchte ihn, aber er sprach nur wenig mit diesem. ›Warum bist du so in Gedanken?‹ fragte Leopold. ›Mir ist nicht wohl‹, antwortete jener, und mit dieser Antwort mußte der Freund zufrieden sein.

So verstrichen einige Wochen und Ferdinand ward mit seinen Worten immer sparsamer. Sein Freund wurde besorgt, denn er bemerkte, daß Ferdinand alle Gesellschaften vermied, daß er fast beständig im Walde oder auf der Wiese lebte, daß er jedem Gespräche aus dem Wege ging. An einem Abende hörte Leopold folgendes Lied singen. Ihr habt wohl nichts dagegen, daß ich es gleich selbst absinge, es nimmt sich dadurch besser aus.

Soll ich harren? Soll mein Herz Endlich brechen? Soll ich niemals von dem Schmerz Meines Busens sprechen? Warum Zittern? Warum Zagen? Träges Weilen? Auf, dein höchstes Glück zu wagen! Flügle deine Eile! Suchen werd ich: werd ich finden? Nach der Ferne Treibt das Herz; durch blühnde Linden Lächeln dir die Sterne.

Leopold hörte aufmerksam dem rätselhaften Liede zu; dann ging er in den Wald hinein, und traf seinen Freund in Tränen. Er ward bei diesem Anblick erschüttert und redete ihn so an: ›Liebster, warum willst du mich so bekümmern, daß du mir kein Wort von deinem Leiden anvertraust? Ich sehe es täglich, wie dein Leben sich aufzehrt, und unwissend muß ich mit dir leiden, ohne daß ich raten und trösten könnte. Warum nennst du mich deinen Freund? Ich bin es nicht, wenn du mich nicht deines Vertrauens würdig achtest. Jetzt gilt es, daß ich deine Liebe zu mir auf die Probe stelle, und was fürchtest du, dich mir zu entdecken? Wenn du unglücklich bist, wo findest du sichern Trost, als im Busen eines Freundes? Bist du dich einer Schuld bewußt, wer verzeiht dir williger, als die Liebe?‹

Ferdinand sah ihn eine Weile an, dann sagte er: ›Keines von beiden, mein lieber Freund, ist bei mir der Fall; sondern eine wunderseltsame Sache belastet mein Herz so gewaltsam, die ich dir noch nicht habe anvertrauen wollen, weil ich mich vor dir schäme. Ich fürchte deine Vernunft, ich fürchte, daß du mir das sagst, was ich mir selber täglich und stündlich sage; ich fürchte, daß du zwar deinen Freund, aber nicht seine unbegreifliche Torheit liebst. Doch will ich dir alles gestehen, und nun erfahren, welchen Rat, welchen Trost du mir geben kannst. Sieh dieses Gemälde, das ich vor einigen Wochen fand, und das seitdem meinen Sinn so gänzlich umgewandelt hat. Mit ihm habe ich mein höchstes Glück, ja mich selber gefunden, denn ich lebte vorher ohne Seele, ich kannte mich und die Seligkeit der Welt nicht, denn ich wurde ohne alles Glück in der Welt fertig. Seitdem ist mir, als wenn ein unbekanntes Wesen mir aus den Morgenwolken die Hand gereicht, und mich mit süßer Stimme bei meinem Namen genannt hätte. Aber zugleich habe ich in diesem Bilde meinen größten Feind gefunden, der mir keine Minute Ruhe läßt, der mich auf jeden Schritt verfolgt, der mir alle übrigen Freuden dieser Erde als etwas Armseliges und Verächtliches darstellt. Ich darf mein Auge nicht davon hinwegwenden, so befällt mich eine marternde Sehnsucht, und wenn ich nun daraufblicke, und diesen süßen Mund, und diese schönen Augen antreffe, so ergreift eine schreckliche Beklemmung mein Herz, so daß ich in unnützen Kämpfen, in Streben und Wünschen vergehe, und mein Leben sich verzehrt, wie du richtig gesagt hast. Aber es muß sich nun endigen; mit dem kommenden Morgen will ich mich aufmachen und das Land durchziehen, um diejenige wirklich aufzufinden, von der ich bis jetzt nur den Schatten besitze. Sie muß irgendwo sein, sie muß meine Liebe kennenlernen, und ich sterbe dann entweder in öder Einsamkeit, oder sie erwidert diese Liebe.‹

Leopold stand lange staunend und betrachtete seinen Freund, endlich rief er aus: ›Unglücklicher! Wohin hast du dich verirrt? An diesen Schmerzen hat sich vielleicht bisher noch keiner der Sterblichen verblutet. Was soll ich dir sagen? Wie soll ich dir raten? Der Wahnsinn hat sich deiner schon bemeistert und alle Hülfe kömmt zu spät. Wenn nun das Original dieses Bildes auf der ganzen Erde nicht zu finden ist! und wie leicht kann es bloß die Imagination eines Malers sein, die dieses zierliche Köpfchen hervorgebracht hat! Oder sie kann auch gelebt haben, und ist nun schon gestorben, oder sie ist die Gattin eines andern, und Mutter vieler Kinder und Enkel, so daß du sie, vom Alter entstellt, nicht einmal kennst, wenn du sie auch wirklich finden solltest. Glaubst du, daß sich dir zu Gefallen das Wunder des Pygmalion erneuern werde? Ist es nicht ebenso gut, als wenn du die Helena von Griechenland, oder die ägyptische Kleopatra lieben wolltest? Bedenke dein Wohl, und laß dich nicht von einer Leidenschaft unterjochen, die offenbar aberwitzig ist. Deine Empfindung ist so widersinnig, daß hier oder nirgend deine Vernunft auftreten und dich aus dem Labyrinthe erretten muß, und mich wundert nur, wie du sie schon so hast unterdrücken können, daß es so weit mit dir gekommen ist.‹«

»Nun, der Mann hat doch wahrlich völlig recht«, rief Vansen aus, »und ich bin neugierig, was der verliebte Schwärmer wohl darauf wird antworten können.«

»Gewiß gar nichts«, sagte Herr Peters, »er wird einsehen, wie gut es sein Freund mit ihm meint, und das wunderliche Abenteuer fahrenlassen.«

»Einiges getraute ich mir wohl zu sagen«, versetzte Sternbald, »wenn ich nicht die Geschichte zu unterbrechen fürchtete.«

Rudolph sah ihn lächelnd an, und fuhr fort: »Ferdinand schwieg eine Weile still, dann sagte er: ›Liebster Freund, deine Worte können mich auf keine Weise beruhigen, und wenn du mich und mein Herz kenntest, so würdest du auch darauf gar nicht ausgehen wollen. Ich gebe dir recht, du hast vollkommen vernünftig gesprochen; allein was ist mir damit geholfen? Ich kann dir nichts antworten, ich fühle nur, daß ich elend bin, wenn ich nicht gehe und jenes Bild aufsuche, das meine Seele ganz regiert. Denn könnte ich vernünftig sein, so würde ich gewiß nicht einen Traum lieben; könnt ich auf deinen Rat hören, so würde ich mich nicht in der Nacht schlaflos auf meinem Lager wälzen. Denn wenn ich nun auch wirklich die Helena, oder die ägyptische Kleopatra liebte, mit dieser heißen brennenden Liebe des Herzens, wenn ich nun auch ginge, und sie in der weiten Welt aufsuchte, so wie ich jetzt ein Bild suche, daß vielleicht nirgendwo ist: was könnte mir auch dann all dein Reden nützen? Doch nein, sie lebt, mein Herz sagt es mir, daß sie für mich lebt, und daß sie mich mit stiller Ahndung erwartet. Und wenn ich sie nun gefunden habe, wenn die Sterne günstig auf mein Tun herunterscheinen, wenn ich sie in meinen Armen zurückbringe, dann wirst du mein Glück preisen, und mein jetziges Beginnen nicht mehr unvernünftig schelten. So hängt es also bloß von Glück und Zufall ab, ob ich vernünftig oder unvernünftig handle, ob die Menschen mich schelten oder loben; wie kann also dein Rat gut sein? Wie könnte ich vernünftig handeln, wenn ich ihm folgte? Wer nie wagt, kann nie gewinnen, wer nie den ersten Schritt tut, kann keine Reise vollbringen, wer das Glück nicht auf die Probe stellt, kann nicht erfahren, ob es ihm günstig ist. Ich will also getrost diesen Weg einschlagen, und sehn, wohin er mich führt. Ich komme entweder vergnügt, oder nicht zurück. – Hast du nie die wunderbare Geschichte von Gottfried Rudell gehört?‹

›Nein‹, sagte Leopold verwirrt. ›So will ich sie dir erzählen‹, sprach der Liebende, ›denn sie bestätigt mein Gefühl, das dir so einzig und widersinnig erscheint.‹«

»Halt!« rief Vansen, »die Sache neigt sich zum Verwirrten, daß hier eine neue Erzählung in die vorige eingeflochten wird.«

»Und was schadet es«, sagte Florestan, »wenn es Euch nur unterhält und die Zeit vergeht?«

»Es steht nur zu besorgen«, sagte Peters bedächtlich, »daß es uns nicht unterhalten werde, denn man wird gar leicht konfuse, und da die Sache an sich selbst schon nicht sehr interessiert, so wird diese Episode das Übel nur ärger machen.«

»Was kann ich denn aber dafür«, erwiderte Rudolph, »daß der verliebte Schwärmer seinem Freunde damals diese Historie wirklich erzählt hat? Ich muß doch der Wahrheit getreu bleiben.«

»Nun so erzählt wie Ihr wollt«, sagte Vansen, »tragt die neue Geschichte vor, aber nur unter der Bedingung, daß in dieser Historie sich nicht wieder eine neue entspinnt, denn das könnte sonst bis ins Unendliche fortgesetzt werden.«

»Also denn«, nahm Florestan wieder das Wort, »fing der schwärmende Ferdinand seinem vernünftigen Freunde Leopold mit diesen Worten die Geschichte des Gottfried Rudell zu erzählen an: ›Dieser Rudell, mein teurer Freund, war einer von den Dichtern in der Provence, in jener schönen Zeit, als die Welt durch Lieder und süße Sprache, die Menschen durch Sehnsucht, die Länder durch Ritterschaft und der Orient mit Europa durch die heiligen Kriege verbunden waren. Dieser Sänger Gottfried, aus adelichem Geschlecht, machte sich durch seine lieblichen Weisen so berühmt, daß ihm Herren und Grafen gewogen waren und ein großer Fürst sich um seine Freundschaft bewarb, und ihn niemals von seiner Seite lassen wollte. Da fügte es sich, daß Pilger, die aus dem Heiligen Lande zurückkehrten, ihm unter den Wundern der fremden Länder auch die Gräfin von Tripolis nannten, und ihm ihre hohe Tugend, ihre Schönheit und ihren Reiz beschrieben. Er sah andre Reisende, die aus der Gegend zurückwanderten, und wieder fragte er, und wieder rühmten sie entzückt die überirdische Schönheit des Frauenbildes. Seine Imagination ward von diesen Schilderungen so ergriffen, daß er begeistert das Lob der Dame in die Töne seiner Laute sang. Ein Freund sagte einmal scherzend, indem er seinen Gesang bewunderte: ›Du bist entzückt, Dichter, kannst du denn so über Meere hinüber vielleicht lieben, ohne den Gegenstand deiner Leidenschaft zu kennen, oder je mit irdischen Augen gesehn zu haben?‹ ›Wie, wenn sie mir nun selbst im Gemüte, in meinem Innern wohnt, besitze ich sie dann nicht näher, als jeder andre Sterbliche?‹ antwortete der Sänger mit einer andern Scherzrede: ›glaubt mir, Freunde‹, fuhr er fort, ›von ähnlichen seltsamen Erscheinungen könnte ich euch Wunder erzählen.‹‹«

Vansen räusperte sich, Sternbald nickte dem Erzähler lächelnd zu, der, ohne sich stören zu lassen, so fortfuhr: »›Nur zu bald wurde ernste Wahrheit aus diesen Reden. Eine unbegreifliche Sehnsucht nach dem fernen niegesehenen Wesen faßte und durchströmte die Brust des Dichters; wie alle Quellen zu den Strömen, wie alle Ströme zum Meere unaufhaltsam fluten, so zogen alle Kräfte seiner Seele nur ihr, der Einzigen, Ungekannten zu. Er konnte nicht mehr zurückbleiben, er mußte die weite Reise unternehmen. Seine Freunde baten, der Fürst, sein Beschützer, beschwur ihn, aber umsonst; wollten sie ihn nicht sterben sehn, so müssen sie ihn gewähren lassen. Er stieg zu Schiffe. Die Winde waren ihm zu langsam, mit den Liedern seiner Sehnsucht wollte er die Segel füllen, und den Lauf des Fahrzeuges mit Gedankenschnelle beflügeln. Unendlich schöne Lieder sang er von ihr, er verglich und pries ihre Schönheit gegen alles was Himmel und Erde, Meer und Luft Reizendes und Liebliches umfängt. Aber sein Herz brach; er sank schwerkrank darnieder, als die Schiffer vom Mast schon fern, ganz fern das ersehnte Ufer wie eine Nebelwolke erspähten. Er raffte sich auf, er spannte sein Auge an, seine Seele flog schon an das Gestade. Das Schiff lief in den Hafen ein, das fremde Volk strömte herzu, um Nachrichten aus der Christenheit zu erfahren. Auch die Prinzessin wandelte in der Nähe der Kühlung der Palmen. Sie hörte von dem Sterbenden, sie stieg zum Schiff hernieder. Da saß er, an die Schultern eines Freundes gelehnt und sahe nun den Glanz der Augen, die Schönheit der Wangen, die Frische der Lippe, die Fülle des Busens, die er so oft in seinen Liedern gepriesen hatte. ›O wie beglückt bin ich!‹ rief er aus, ›daß doch mein brechendes Auge noch wahrhaft sieht, was ich ahndete, und daß die Wahrheit meine Ahndung übertrifft. Ja, so wird es mit aller Schönheit sein, wenn sie sich einst schleierlos unserm entkörperten Auge zeigt.‹ Der weinende Freund sagte ihr, wer sich anbetend zu ihren Füßen niedergeworfen hatte, sie kannte seinen Namen und manche seiner geflügelten Töne waren schon über das Meer zu ihrem Ohre gekommen; sie beugte sich nieder und hob ihn auf, er lag in ihren Armen, das süßeste Lächeln schwebte im Andenken seiner Wonne auf seinem bleichen Antlitz, denn er war schon verschieden. ›So liebt mich niemand mehr, so liebt auf Erden niemand‹, seufzte die Fürstin, küßte zum ersten- und letztenmal den stummen, sonst so gesangreichen Mund, und nahm den Nonnenschleier.‹ –


Date: 2016-01-14; view: 429


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