Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






Diagnose russischer Politik

Putins Verhalten ist nicht schwer zu verstehen. Die Ukraine ist für Russland ein Pufferstaat mit enormer strategischer Bedeutung. Kein russischer Staatschef würde es hinnehmen, dass eine Militärallianz, die noch bis vor kurzem Moskaus Erzfeind war, in die Ukraine vorstößt. Auch würde kein russischer Staatschef untätig dabei zusehen, wie sich der Westen für die Einsetzung einer Regierung stark macht, die die Einbindung der Ukraine in den Westen betreibt.

Washington mag von der Position Moskaus nicht angetan sein, müsste aber die Logik dahinter begreifen. Das ist Geopolitik für Anfänger: Auf eine mögliche Bedrohung vor ihrer Haustür reagiert jede Großmacht empfindlich. Die Vereinigten Staaten würden es ja auch nicht hinnehmen, wenn ferne Großmächte ihre Streitkräfte in der westlichen Hemisphäre stationierten, geschweige denn an ihrer Grenze. Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mächtiges Militärbündnis schmiedete und versuchte, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen.

Vertreter der USA und ihrer europäischen Verbündeten behaupten, sie hätten alles versucht, den Russen ihre Ängste zu nehmen; Moskau müsse doch begreifen, dass die NATO es nicht auf Russland abgesehen habe. Die Allianz hat in ihren neuen Mitgliedsstaaten nie dauerhaft Streitkräfte stationiert. Im Jahr 2002 gründete sie sogar den sogenannten NATO-Russland-Rat, um die Kooperation zu verbessern. In dem Bemühen, Russland weiter zu besänftigen, verkündeten die USA 2009, dass sie zumindest vorerst das neue Raketenabwehrsystem nicht auf tschechischem oder polnischem Gebiet, sondern auf Kriegsschiffen in europäischen Gewässern installieren würden. Doch keine dieser Maßnahmen fruchtete: Die Russen lehnten die NATO-Osterweiterung, insbesondere nach Georgien und in die Ukraine, weiter kategorisch ab. Aber schließlich entscheiden die Russen, nicht die westlichen Staaten, was Russland als Bedrohung wertet.

Um zu verstehen, warum der Westen und insbesondere die USA nicht merkten, dass ihre Ukraine-Politik den Boden für eine größere Kollision mit Russland bereitete, muss man in die Mitte der 1990er Jahre zurückgehen, als sich die Regierung Clinton erstmals für eine NATO-Osterweiterung aussprach. Experten trugen alle möglichen Argumente für und wider eine Erweiterung vor, doch gelangte man zu keinem Konsens. So sprachen sich in den USA beispielsweise die meisten europäischen Emigranten und ihre Familien nachdrücklich für eine Osterweiterung aus, damit die NATO Länder wie Ungarn und Polen beschützen konnte. Auch einige Vertreter des Realismus befürworteten sie, weil sie eine Eindämmungspolitik gegenüber Russland noch für nötig hielten.

Die meisten Realismus-Vertreter lehnten jedoch eine Osterweiterung ab, weil eine im Niedergang begriffene Großmacht mit einer alternden Bevölkerung und einer eindimensionalen Wirtschaft ihrer Ansicht nach nicht mehr eingedämmt werden muss. Eine Osterweiterung, so fürchteten sie, könnte Moskau nur dazu verleiten, in Osteuropa Unruhe zu stiften.



Vertreter des Liberalismus, darunter viele hochrangige Mitglieder der Regierung Clinton, waren dagegen überwiegend für eine Erweiterung. Das Ende des Kalten Krieges hatte in ihren Augen die internationale Politik grundlegend verändert, und eine neue postnationale Ordnung hatte die in Europa bis dahin vorherrschende Logik des Realismus abgelöst. Die USA waren nicht nur eine „unentbehrliche Nation“, wie Außenministerin Madeleine Albright es formulierte; sie waren, so hieß es, auch ein gütiger Hegemon, den man in Moskau eher nicht als Bedrohung wahrnahm. Das Ziel war im Wesentlichen eine Angleichung des gesamten Kontinents an Westeuropa.

Im Grunde agieren die beiden Seiten nach unterschiedlichen Skripten: Putin und seine Landsleute orientieren sich in ihrem Denken und Handeln an den Geboten des politischen Realismus, während ihre westlichen Gegenspieler den Ideen des Liberalismus zur internationalen Politik anhängen.

Daher förderten die USA und ihre Verbündeten nach Kräften die Demokratie in den osteuropäischen Ländern, eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung und eine Verankerung dieser Länder in internationalen Institutionen. Nachdem der Liberalismus in der US-Debatte den Sieg davongetragen hatte, konnten die Amerikaner ihre europäischen Verbündeten ohne größere Schwierigkeiten von einer Unterstützung der NATO-Osterweiterung überzeugen. Angesichts der Errungenschaften der EU hingen die Europäer ja noch stärker als die Amerikaner der Vorstellung an, Geopolitik spiele keine Rolle mehr und eine allumfassende liberale Ordnung könne den Frieden in Europa sichern.

Die liberale Weltsicht ist in der US-Politik heute ein anerkanntes Dogma. So sprach Präsident Barack Obama im März in einer Rede über die Ukraine wiederholt von den „Idealen“, die hinter der Politik des Westens stünden und die „schon oft von einem älteren, eher traditionellen Machtverständnis bedroht wurden“.

Im Grunde agieren die beiden Seiten nach unterschiedlichen Skripten: Putin und seine Landsleute orientieren sich in ihrem Denken und Handeln an den Geboten des politischen Realismus, während ihre westlichen Gegenspieler den Ideen des Liberalismus zur internationalen Politik anhängen. Die Folge ist, dass die USA und ihre Verbündeten unwissentlich eine schwerwiegende Krise um die Ukraine provoziert haben.

 


Date: 2016-01-14; view: 558


<== previous page | next page ==>
Der Affront durch den Westen | Ausweg aus dem Dilemma
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.007 sec.)