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für Bastian Guthmann

Kapitel 8

Martha Guthmann verreist ...

Und die Folgen dieser Reise

für Bastian Guthmann

Zwei Tage nach dem ersten Abend mit Kathinka Freude musste er seine Großmutter zum Hauptbahnhof fahren, denn sie begab sich auf eine längst geplante Verwandtentournee: Zuerst zu ihrer Tochter Hertha nach Lindau — Hertha wurde fünfundvierzig. Anschließend erwarteten sie diverse Kinder, Schwiegerkinder, Enkel und Urenkel im Räume Oberstdorf. Auf dem Rückweg wollte sie in Schongau Bastians Mutter und deren zwei­ten Mann besuchen. Für. jede vorgesehene Familie hatte sie drei Tage eingeplant. Das machte fünf verschiedene Betten in 15 Tagen, überall Kuchen und Schnäpschen und das Getratsche des einen über den anderen.

Martha Guthmann haßte giftigen Verwandtenklatsch — was sie nicht daran hinderte, demselben aufmerksam zuzuhören.

Sie eilte im grauen Reisekostüm mit rosa Aus­verkaufsbluse und einem Wetterfilz auf dem nach dem Friseur noch nicht ausgekämmten Haar den Bahnsteig entlang, in heller Aufregung über Bastian, der in größerem Abstand und ohne Eile mit ihrem Gepäck folgte.

"Nun komm schon, komm, du gehst wie hinterm Sarg! Ist das auch der richtige Zug? Sag mal!!!"

"Steht ja dran."

"Was heißt — steht dran! Was dransteht, muss noch längst nicht stimmen. — Auf keinen Fall Raucher, Bub. Da riechen die Kleider tagelang."

Sie blieb vor einem Wagon zweiter Klasse stehen und erklomm das Trittbrett mit Bastians Hilfe, der von hinten schob. "Kannst du mir mal sagen, warum sie so hohe Trittbretter herstellen, ja? Wie sollen denn da alte Leute hinein und wieder hinaus kommen?"

"Du kommst doch", sagte Bastian und stieg Ihr rasch nach.

"Ich schon. Aber stell dir vor, ich hätte ein lahmes Bein!"

"Du hast keins."

"Es stände mir altersmäßig aber eines zu."

Martha Guthmann eilte den Gang hinunter und entschloss sich für ein Abteil, in dem schon eine Dame am Fenster las. Vom Bahnsteig her hörte man Türen­knallen und die Aufforderung, von der Bahnsteigkante zurückzutreten.

"Siehst du, Bub. Wenn ich nicht so gedrängelt hätte - steig aus — schnell —" Sie schaute zum Gangfenster hinaus und entsetzte sich: "Er fährt ja schon."

"Das ist der andere, Martha", seufzte er, "der gegenüber. Deiner geht erst in einer halben Stunde."

"Dann bin ich vielleicht doch im falschen?"

Er sah sie verzweifelt an. Für so viel Altersstarrsinn war sie eigentlich noch nicht alt genug.

Bastian verließ den Wagon und baute sich vor dem Gangfenster auf, aus dem sie schaute, nun wieder zahm, weil überzeugt, im richtigen Zug zu sein.

"Du musst nicht warten, bis ich abfahr."

"Wann kommst du wieder?"



"Wenn ich mit allen Verwandten zerstritten bin."

"Also noch diese Woche."

"Das ist leicht möglich", sagte sie. "Um was ich dich bitten wollte — kümmere dich um die Susi und ihr Kind. Morgen werden sie entlassen."

"Jaja", sagte Bastian.

"Nicht 'jaja' — tu's wirklich. Sie braucht dich so sehr.

"Wieso immer mich — wieso nie die ändern!?"

"Du wirst sie nachher anrufen, hörst du, Bub? Sie ist ein liebes, nettes Mädchen. Sie mag dich sehr. Weißt du, was ich mir überlegt habe? Susi wäre die richtige Frau für dich."

Bastian warf ihr einen Blick an den Kopf und wollte wortlos scheiden, aber Großmutter rief ihn zurück.

"He — du! Wir haben uns noch nicht verabschiedet."

"Also schön. Gute Reise, Martha, und bleib sauber."

"Blöder Hund!" Sie lächelte zärtlich.

Bastian ging den Bahnsteig hinunter, wie kein er­wachsener Mensch zu gehen pflegt ein wenig schlenkernd, jeden Augenblick bereit, loszurasen, immer etwas findend, was er vor sich herballern konnte.

Einmal blieb er stehen und winkte zurück.

Im Ärztezimmer war nur der Oberarzt Weißbart, als Katharina hereinkam. Er kippelte mit dem Stuhl und spuckte Kirschkerne in den Papierkorb schräg gegenüber. Meistens traf er ihn.

Weißbart hielt Katharina seine Tüte hin. "Da ist ein Päckchen für Sie gekommen. Liegt auf dem Fensterbrett."

"Danke."

Sie öffnete das kleine Paket.

Es enthielt einen Karton mit einer Puppe in weißem Kittel. Drumherum waren eine Spritze, ein Stethoskop, Verbandmaterial und eine Haube sowie Arzneifläschchen am Kartonboden befestigt.

Dazu ein Zettel:

"Liebe Katharina, kaum sehe ich einen weißen Kittel, sehe ich Sie vor mir. Wann sehe ich Sie endlich wieder? Rufen Sie mich an?

Dies wünscht sich von Herzen

Guthmann, Bastian

PS. Statt Blumen."

Katharina nahm die Puppe heraus und zeigte sie ihrem Kollegen.

"Schaun Sie mal. Von einem sehr reizenden jungen Mann."

Weißbart sammelte gerade die herumliegenden Kirschkerne ein. Er richtete sich auf, guckte erst desin­teressiert die Puppe an — "Niedlich" — und dann um so interessierte Katharina selbst. "Sind Sie verknallt?"

Katharina überlegte einen Augenblick, der verträumt begann und sachlich-bedauernd endete.

"Ja. Bisschen schon. Aber es hat keinen Sinn. Er ist zu jung für mich — nicht nur altersmäßig. Was soll ich einem verspielten jungen Hund."

Weißbart dachte: "Und wegen einem Verspielten jungen Hund' dürfen wir seit Tagen unter der miserablen Laune des Chefs leiden."

Als Bastian die Wohnungstür aufschloss, klingelte das Telefon.. Er rannte, beladen mit Tüten, ins Zimmer. Die Tüten stellte er auf den Tisch, sie kippten um. Zit­ronen, Tomaten, Kirschen trudelten auf den Fußboden.

Erwartungsvoll riss er den Hörer hoch. Aber es war nicht Katharina, sondern Susis weinerliche Stimme, die fragte: "Bist du's Bastian? Ich muss dich sprechen! Es ist' was Schreckliches passiert. Ein Brief von meiner Wirtin. Sie kündigt mir das Zimmer. Fristlos."

"Kann sie doch gar nicht", sagte er.

"Wir haben ja keinen Vertrag", jammerte Susi. "Sie schreibt, Mutter mit Säugling wäre ihr zu viel. Außerdem braucht sie das Zimmer selbst." Geräuschvolles Schnauben. "Was soll ich denn jetzt machen, Bastian? Wir kom­men morgen hier heraus und wissen nicht, wohin."

"Scheiße."

'Wie?"

"Ruf sie an und quassel sie weich."

"Das kann ich nicht", schluchzte Susi. "Du musst uns helfen. Geh du zu ihr."

Bastian, den Hörer zwischen Ohr und Schulter ge­klemmt, suchte Früchte um Stuhl- und Tischbeine herum vom Boden auf. "Ich? Ich kenn' sie ja gar nicht." j

"Bittebitte, Bastian, du musst! Red mit ihr von. Mensch zu Mensch. Du kannst das bestimmt wunderbar. Sag ihr, wenn sie Kathrinchen und mich nicht aufnimmt! sitzen wir praktisch auf der Straße."

"Aber du hast doch die Miete für diesen Monat bezahlt. Da darf sie dich ja gar nicht 'rausschmeißen."

"Ich hab' sie eben noch nicht bezahlt", heulte Susi.

Bastian unterdrückte einen Fluch.

"Fährst du?"

"Also ja —"

Sofort fiel Sonnenschein auf Susis Tränen. "Wart, ich geb' dir die Adresse, hast du was zum Schreiben da? Und bitte, wenn du hingehst, zieh dir einen seriösen Anzug an. Sie mag das, Bastian, hörst du?"

Aber der Vater, der Urheber des ganzen Umstands, saß in Köln und brauchte sich um nichts zu kümmern.

Das wurmte Bastian am meisten.

Susis Zimmerwirtin hieß in den dreißiger Jahren Lita Novena und war als Vamp im Kino tätig gewesen. In Nebenrollen. Jetzt hieß sie Ruppel. Das lag an ihrem verstorbenen Mann. Lita Ruppel.

Sie rollte das R und hielt sich im Gespräch an einer superlangen Zigarettenspitze fest. Es gelang ihr, keinen natürlichen Ton aus ihrem Mund fallen zu lassen. Die Augenbrauen trüg sie wie in ihrer Glanzzeit ausrasiert und bis zu halber Stirnhöhe nachgezogen. Dazu Kirsch­mund. Und falsche Wimpern. Lita Klapperauge hieß sie unter Freunden.

Da die Mode aus Mangel an neuen Einfällen eine Vergangenheit nach der anderen kopiert und da gerade die späten dreißiger Jahre dran waren, wirkte Lita Ruppel fast aktuell. Nur eben alt und schlecht geliftet. Ein boshafter, spindeldürrer, dunkellila Typ mit großen Puffärmeln.

Bastian erinnerte sich bei ihrem Anblick daran, dass er Angst vor Spinnen hatte.

"Guthmann."

Und schon saß er auf ihrem Sofa.

Sie wusste noch nicht, was sie von ihm zu erwarten hatte. Investment? Lebensversicherung? Staubsauger? Zeitschriftenabonnement? Oder war er der Sohn des neuen Hauswirts? Auf alle Fälle war er süß in seinem gequälten Charme.

"Whisky?"

"Ja, bitte."

"Mit Eis? Soda? Wasser?"

"Eis und Soda, bitte.

Wie verklemmt er dasaß. Lita Ruppel hatte immer Männer mit kleinen Fehlern — egal wo — bevorzugt. Sie waren hinterher so dankbar.

Während sie das Getränk an einer neuspanischen Hausbar herstellte, sah er sich in ihrem Wohnraum um. Lauter Nippes und exotische Konfektion.

An der Tür kläffte es. Lita Kuppel öffnete. Ein Rehpin­scher schoss auf Bastians Sonntagshosenbeine zu und attackierte sie.

"Fiffi! Ruhig! Du bist ein ganz böser Bub! Fiffi! Er ver­trägt den Föhn nicht, wissen Sie, vertragen Sie ihn auch nicht?"

Lita fing den Minikläffer auf ihren Schoss und wech­selte ein Lächeln mit Bastian.

"Ist Ihr Gatte Seemann?" fragte er, sich umschauend.

"Nein, wieso? Ich bin Witwe."

"Wegen der vielen Reiseandenken hier."

"Ach die. Die hab' ich selbst zusammengetragen. Ich war schon überall — Fiffi, sei doch mal ruhig, Mutti möchte auch was sagen —, ich kenne die halbe Welt von Mallorca bis Thailand. Sie auch?"

"Leider nein." Außer 14 Tage Kreta (mit Juscha damals) war ihm so ziemlich alles fremd. (Und da hatten sie sich pausenlos verkracht. Weil Juscha sich was anderes unter Griechenland vorgestellt hatte als Kreta. Ihm gefiel's. Katharina hätte es auch gefallen ...)

"Gnä´ Frau, ich komme wegen Ihrer Untermieterin Schulz."

"Ach so —." Sie war ernüchtert. "Sind Sie der Vater?""

"Nein. Susi hat mich nur gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Ihre Kündigung kam sehr plötzlich."

"Herr — wie war doch der Name?"

"Guthmann."

"Herr Guthmann!" Lita lehnte sich in einen Haufen verschiedenfarbiger Kleinkissen und pfiff durch die Nüstern — die ganze Person war eine schreckliche Übertreibung. "Es gibt Grenzen. Auch im Untervermietung­swesen. Ich hielt Fräulein Schulz für ein anständiges ruhiges Wesen — und dann, kaum in den Ferien, lernt siel einen Mann kennen — lässt sich mit ihm ein —. Ich hätte sie nicht für so töricht gehalten."

"Anner Leuts Töchter tuns immer — unser Marile emol — batsch", sagte Bastian.

Sie sah ihn an. "Wieso 'batsch'?"

'Weil es meistens den Anständigen passiert."

"Und warum hat sie ihn nicht geheiratet? Schließlich ist er Referendar."

Bastian suchte zum letzten Mal das Gemüt in Lita Ruppels grellem Blick — fand keins, sprach trotzdem auf gut Glück von Mensch zu Mensch, wie Susi gefordert hatte. Er sagte: "Gnädige Frau. Eine so charmante, mo­derne, aufgeschlossene Dame wie Sie —" Die Wirkung sei­ner Worte war sekundenlang spürbar. Sie ließ Aggressio­nen schmelzen. Erweckte weibliche Hoffnungen. "Behal­ten Sie die Susi wenigstens so lange, bis sie eine neue Bleibe gefunden hat."

Das machte alles wieder kaputt.

"Nein, Herr Guthmann."

"Aber Sie können doch nicht Mutter und Säugling auf die Straße setzen."

"Was heißt, ich kann nicht? Wollen Sie mir Vorschriften machen, ja? Zeigen Sie mir das Gesetz, das mich zwingt, einen schreienden Säugling aufzunehmen — dieser käsige Geruch in der Wohnung — die viele Wascherei — nein, Herr Guthmann, nein."

Sie stand auf und schoss fünf abwehrend gespreizte Finger gegen Bastian ab, der sich den verdammten Schlips lockerte.

Er sah Frau Ruppel sehnsüchtig an. Er hätte sie zu gern verhauen.

"Sparen Sie sich Ihren Schmus, Herr Guthmann. Gekündigt ist gekündigt. Fräulein Schulzes Sachen kön­nen Sie gleich mitnehmen. Bitte sehr."

Sie ging voran in Susis Zimmer.

Bastian ging ihr nach.

"Also gut", sagte er. "Sogar besser so. Im Grunde kann die Susi froh sein, dass sie aus diesem Muff her­auskommt."

Der Rest dieser von Bastian so zierlich begonnenen Unterhaltung mit Frau Lita Ruppel explodierte in einem lauthalsen Austausch geradezu spitzfindiger Sottisen, die durch die weit geöffneten Fenster den Nachbarn in ihren Gärten und den übrigen Hausbewohnern viel Freude bereiteten, bis Fiffis schrilles Gekläffe wie ein Störsender dazwischenfuhr.

Das Ganze endete in einem Rausschmiss.

Zuerst ging die Haustür auf, und Frau Lita keifte: "Rausrausraus!"

Dann stürmte Bastian vor — soweit zwei schwere Koffer, ein Ölbild mit Rahmen und eine Stehlampe ihn nicht am Stürmen hinderten.

Dann flog ihm ein Sofakissen nach, das Susi gehörte.

Dann erschien der Minipinscher und dann Frau Lita persönlich.

"Flegel", schrie sie, "Terrorist! Die Schulz wird mal schlimm enden, wenn sie sich mit solchen wie Ihnen ein­lässt!"

"Zimtziege!" schmiss Bastian um den seine Schulter wie ein Gewehr überragenden Stiel der Stehlampe zurück. "Gewitterhexe, vertrocknete! Sie rascheln ja schon!"

Frau Litas Stimme überschlug sich, während sie ihren Pinscher antrieb: "Fass, Fiffi, fass!"

Es war wie bei einem Feuerwerk. Nach dem großen Schlussgeknatter bricht es plötzlich ab, bricht Stille aus, erschöpftes Dunkel am Himmel, aus dem noch ein paar rote Tropfen rinnen und dann verlöschen.

Während Bastian in diplomatischer Mission bei Lita Ruppel weilte, hatte Susi ihre nervöse Spannung auf den Fluren der gynäkologischen Abteilung abgelaufen. Dabei begegnete sie Katharina Freude, die stehen blieb und sie prüfend ansah.

"Ist was? Ist Ihnen nicht gut?"

"Mir ist furchtbar", seufzte Susi. "Stellen Sie sich vor, meine Wirtin hat mir fristlos gekündigt. Per Einschreiben. Stellen Sie sich vor!"

"O weh", sagte Katharina. "Darf sie das überhaupt?"

"Was heißt dürfen! Selbst wenn ich mit Polizeigewalt bei ihr einziehen würde, sie fände schon ein Mittel, mich 'rauszuekeln. Sie kann wie ein Vampir sein!"

Katharina sah kurzfristig etwas mit steilen Vorderzähnen vor sich.

"Jetzt steh' ich da. Und mein Kathrinchen!" Susis Augen füllten sich.

Obgleich sich ihre äußerlichen Reize zur Zeit noch unter fettigen Haaren und einer Pummelfigur im nicht ganz sauberen Morgenrock verbargen, so war doch ihre weibliche Hilflosigkeit präsent. Susi fuhr sie wie ein Geschütz gegen jeden auf, der ihr begegnete und Anteil nahm an ihrem Schicksal: Wenn ihr mir und meinem Baby nicht helft, schadet es euch gar nichts, wenn ich aus lauter Verzweiflung was Schlimmes anstelle.

Katharina, die Tüchtige, Vernünftige, Verantwortungs­bewusste, beinah Emanzipierte, die sich täglich Mühe gab, ein wenig mehr von den Vorurteilen, Konventionen und tief eingestickten Lebensregeln ihrer gutbürgerlichen Erziehung loszukommen — Katharina begegnete staunend Susis Mutterreh-Blick. So also machte es ein hilfloses Weibchen. Es zwang seiner Umgebung die Verantwortung für seine eigenen Probleme auf: Nun sorgt mal schön für mich.

Katharina sagte: "Wenn Sie nicht wissen wohin, dann sagen Sie es mir. Meine Eltern haben ein Haus in Großmaul. Da stehen ein paar Zimmer leer, seitdem meine Schwestern und ich fort sind. Sie könnten sich dort erholen, Kathrinchen hätte es prächtig — allein die gute Luft —, und mein Vater ist Arzt." Um Susi das Dankesagen zu ersparen, fügte sie hinzu: "Ich fühl' mich schließlich verpflichtet für ein Baby, dem man meinen Namen aufgezwungen hat."

Ihre Sorge — den Dank betreffend — war überflüssig gewesen. Susi sagte: "Das ist nett von Ihnen, Fräulein Doktor, aber ich hab' ja den Bastian."

"Bastian?" Katharina begann nachzudenken.

"Frau Guthmanns Enkel, Sie wissen schon. Er ist gerade bei meiner Wirtin und versucht, sie umzustim­men. Er ist ja so diplomatisch, der wickelt jeden ein, wenn er will."

"Meinen Sie?“

"Und wenn es ihm nicht gelingt, wird er uns schon irgendwie unterbringen."

"Na fein." Katharina Freude wünschte Susi viel Glück und ging den Flur hinunter.

So bekam sie nicht mehr mit, wie Bastian Guthmann aus dem Fahrstuhl stieg mit einem so eindeutig bedep­perten Gesichtsausdruck, dass Susi bloß "Ach Gott" hauchte.

"Deine Sachen sind unten im Taxi", sagte er. "Sie hat mir alles nachgeschmissen. Der Lampenschirm hat ein Loch davon. Tut mir Leid."

Susi nickte und suchte in den Taschen ihres Morgenrocks. Sie sucht ein Taschentuch, ahnte er alar­miert, gleich gibt es einen Wolkenbruch, der mich am Fortgehen hindert. Ich muss aber weg. Ich fahr' schließlich Taxe, um Geld zu verdienen. Ich brauche Kundschaft, nicht schon wieder Probleme.

"Was soll nun werden?" In Susis Stimme fielen die ersten Tropfen. "Wo sollen wir morgen hin?"

"Hast du denn keine Freunde in München, bei denen du bleiben kannst, bis du was Neues hast?"

"Wer nimmt mich schon mit Baby!"

Bastian nagte an der Unterlippe.

"Wenn du Geld brauchst — ich hab' einen Bekannten, der schuldet mir seit Monaten siebzig Mark. Ich ruf ihn an, ja?"

"Ach Bastian, was soll ich mit ungewissen siebzig Mark!?"

"Nimm dir ein Zimmer in einer Pension."

"Das ist doch alles illusorisch!"

Er sah sich um.

"Kannst du nicht leiser heulen?"

"Wenn wenigstens deine Großmutter da wäre", schluchzte Susi. "Sie meint es so gut mit uns!"

"Von deinem Vater hast du dreihundert Mark gekriegt", erinnerte er sich.

"Du redest von Geld, wo ich menschliche Hilfe brauche!" Sie putzte ein Auge nach dem anderen und sah ihn an wie erdbebengeschädigt.

"Können wir nicht bei dir, Bastian —?"

Das war's, was er im Unterbewusstsein die ganze Zeit befürchtet hatte, er kannte ja sein Schicksal.

"Bei mir?. Du hast wohl 'n Kaiser gesehen! Mein großes Zimmer ist vermietet, das andere reicht gerade für mich. Und die Kammer —"

"Die Kammer würde völlig genügen", hakte Susi sofort ein. "Es ist ja nur für ein paar Tage — bis ich was Passendes gefunden habe."

"Es geht wirklich nicht", sagte Bastian und dachte an Katharina Freude. Wie sollte er mit ihr telefonieren, wenn Susi Schulz daneben saß? Wie sollte sie ihn je besuchen — denn, das wusste er aus Erfahrung, wer erst einmal bei ihm wohnte, zog so bald nicht wieder aus.

"Nein, Susi. Unmöglich."

"Ich ersetz' dir eine Putzfrau ... kochen, abwaschen, sauber machen ... Überleg mal, was du sparst, wenn du mich hast."

Bastian sparte nichts, weil er noch nie eine Putzfrau gehabt hatte.

"Susi, so Leid's mir tut, ich kann dir nicht helfen. Und ich muss jetzt auch weg. Deine Sachen gebe ich unten ab ..."

Susi sagte gar nichts. Weinte auch nicht mehr. Stand bloß da, und das war schlimmer.

Ein Lied fiel ihm bei ihrem Anblick ein.

"Mariechen" fiel ihm ein.

"Mariechen saß weinend im Garten,

im Grase lag schlummernd ihr Kind.

Mit ihren goldblondenen Locken

spielt säuselnd der Abendwind.

Sie war so müd und traurig,

so einsam, geisterbleich ..."

So einsam, geisterbleich stand Susi da. Eine echte Verantwortung für jeden, der ein Gewissen hatte. Wenn du mich nicht aufnimmst, dann —!

Aufgaben zum 8. Kapitel:

1. Vorlesen und übersetzen von „Während …“ bis „Meinen Sie?“

2. Fragen.

3. Wortschatz:

  • sich begeben
  • vorgesehen
  • einplanen
  • das Getratsche des einen über den anderen
  • hindern an Akk.
  • zahm
  • leiden unter Dat., an Dat.
  • die miserable Laune haben
  • trudeln
  • quasseln
  • einen Fluch unterdrücken
  • es wurmt mich
  • der Urheber
  • als … tätig sein
  • j-m das Zimmer kündigen

· Anteil nehmen an Dat.

· etwas Schlimmes anstellen

· überflüssig sein

· sich verpflichtet fühlen für etw., j-n

· j-n einwickeln

· unterbringen

· bedeppert

· schulden (j-m)

· schluchzen

· ein Gewissen haben

4. Welchen Sinnabschnitt hat Ihnen am besten gefallen? Warum? (äëÿ âñåõ)

Vergleichen Sie Susi und Katharina. Wer ist Ihnen sympathischer? Warum?

5. „Diplomatische“ Mission von Bastian hatte keinen Erfolg? Wie hätte er sich benehmen müssen, um sein Ziel zu erreichen? Beschreiben Sie alternative Handlungen und Haltungen. Welche Schlussfolgerung können Sie daraus für sich ziehen?

6. Welchen Brief hat Susi von ihrer Wirtin bekommen? Schreiben Sie einen Brief.

7. Erzählen Sie ausführlich über Katharinas persönliche Lebensumstände. Lassen Sie dabei auch Ihre Phantasie spielen.

8. Spielen Sie die Szene: Im Wagenabteil. Die handelnden Personen: Frau Guthmann und ihre Mitreisenden.

9. Kreuzworträtsel.

 

 


Date: 2016-01-14; view: 2106


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