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Die Reise nach Berlin kann beginnen

 

Emil nahm seine Schülermütze ab und sagte: «Guten Tag, meine Herrschaften! Ist vielleicht noch ein Plätzchen frei?»

Natürlich war noch ein Platz frei. Und eine dicke Dame sagte zu ihrem Nachbarn: «Solche höflichen Kinder sind heutzutage selten. Wenn ich da an meine Jugend zurückdenke, Gott! Damals herrschte ein anderer Geist!»

Daß es Leute gibt, die immer sagen: Gott, früher war alles besser, das wußte Emil schon lange. Und er hörte überhaupt nicht mehr zu, wenn jemand erklärte: Früher war die Luft gesünder! oder: Die Ochsen hatten früher größere Köpfe! Denn das war meistens nicht wahr.

Er tastete die rechte Jackentasche ab und beruhigte sich erst, als er hörte, wie das Kuvert knisterte. Die Mitreisenden sahen ganz vertrauenerweckend aus. Neben einem Mann, der schrecklich schnaufte, saß eine Frau, die einen Schal strickte. Am Fenster neben Emil las ein Herr im steifen Hut die Zeitung. Plötzlich legte er das Blatt beiseite, nahm aus seiner Tasche ein Stück Schokolade, reichte es Emil und sagte: «Na, junger Mann…?»

«Danke», antwortete Emil und nahm die Schokolade. Dann zog er hastig seine Mütze, verbeugte sich und sagte: «Emil Tischbein ist mein Name. Ich bin aus Neustadt.»

Die Mitreisenden lächelten. Der Herr zog den steifen Hut und sagte: «Sehr angenehm, ich heiße Grundeis.» Die dicke Dame zog ihren linken Schuh aus, weil er drückte. Dann fragte sie Emil: «Lebt denn in Neustadt der Kaufmann Kurzhals noch?»

«Ja, der Herr Kurzhals lebt noch», berichtete Emil. «Kennen Sie ihn denn?»

«Ja, ich kenne ihn gut. Grüß ihn von Frau Jakob aus Groß-Grünau.»

«Ich fahre aber doch nach Berlin.»

«Na, dann grüß ihn, wenn du zurückkommst.»

«So, so, nach Berlin fährst du?» fragte jetzt Herr Grundeis.

«Ja, und meine Großmutter wartet am Bahnhof Friedrichstraße am Blumenkiosk», antwortete Emil und faßte sich wieder an die Jacke. Und das Kuvert knisterte, Gott sei Dank, noch immer.

«Kennst du Berlin schon?»

«Nein.»

«Na, da wirst du staunen! In Berlin gibt es jetzt Häuser, die hundert Stockwerke hoch sind. Die Dächer mußte man am Himmel festbinden, damit sie nicht fortwehen. Und wenn man in Berlin kein Geld hat, so geht man auf die Bank und läßt sein Gehirn als Pfand dort, dafür bekommt man tausend Mark. Der Mensch kann nämlich zwei Tage ohne Gehirn leben. Man bekommt es von der Bank wieder, wenn man zwölfhundert Mark zurückzahlt. Es gibt jetzt sehr moderne medizinische Apparate...»

«Sie haben wohl Ihr Gehirn auch gerade auf der Bank», sagte der Mann, der so schrecklich schnaufte. «Lassen Sie doch den Blödsinn! »

Und nun begann ein langer Streit zwischen den beiden Herren.

Emil packte seine Wurstbrote aus, obwohl er eben erst zu Mittag gegessen hatte. Als er das dritte Brot aß, hielt der Zug an einem großen Bahnhof. Fast alle Reisenden stiegen aus: der Mann, der so schrecklich schnaufte, die Dame, die den Schal strickte, und auch die dicke Frau Jakob.



Im Coupe blieben nur Emil und der Herr mit dem steifen Hut. Das gefiel Emil nicht sehr. Emil wollte wieder einmal nach dem Kuvert fassen. Er wagte es aber nicht. Darum ging er, als der Zug weiterfuhr, auf die Toilette, nahm dort das Kuvert aus der Tasche und zählte das Geld. Es stimmte immer noch. Dann nahm er eine Nadel, steckte sie erst durch die drei Geldscheine, dann durch den Briefumschlag und schließlich durch das Anzugfutter. Er nagelte sozusagen sein Geld fest. So, dachte er, jetzt kann nichts mehr passieren. Und dann ging er wieder ins Coupe zurück.

Herr Grundeis saß gemütlich in einer Ecke und schlief. Emil blickte durchs Fenster. Bäume, Felder, Fabriken, Kuhherden zogen draußen vorbei. Und es war sehr interessant zu sehen, wie sich alles vorüberdrehte, fast wie auf einer Grammophonplatte. Aber schließlich kann man nicht stundenlang durchs Fenster schauen.

Herr Grundeis schlief immer weiter. Emil setzte sich in die entgegengesetzte Ecke des Coupes und betrachtete den Schläfer. Warum war der Mann immer im Hut? Und ein längliches Gesicht hatte er, einen ganz schmalen schwarzen Schnurrbart und hundert Falten um den Mund. Und die Ohren waren sehr dünn und standen weit ab.

Schwupp! - Emil erschrak. Beinahe wäre er eingeschlafen! Das durfte nicht sein! Er war mit diesem Herrn Grundeis ganz allein im Coupe! Der Zug hielt einige Male, aber es kam kein Mensch. Es war erst vier Uhr, und Emil mußte noch zwei Stunden fahren.

Er kniff sich in die Beine. In der Schule half das manchmal.

Die Zeit verging langsam. Emil dachte an seine Kusine Pony Hütchen, aber er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern. Er wußte nur noch, dass sie einmal mit Großmutter und Tante Martha nach Neustadt zu Besuch gekommen war, und daß sie lustig gespielt hatten.

Schwupp! Er fiel fast von der Bank. War er schon wieder eingeschlafen? Er kniff und kniff sich in die Beine. Sicher hatte er schon überall blaue und grüne Flecken. Und trotzdem half es nicht.

Da versuchte er, seine Knöpfe zu zählen. Er zählte von oben nach unten und dann noch einmal von unten nach oben. Von oben nach unten waren es dreiundzwanzig Knöpfe. Und von unten nach oben vierundzwanzig. Emil konnte nicht verstehen, warum das so war. Er dachte nach. Und dabei schlief er ein.

Übungen zum Kapitel 3.

1. Aktiver Wortschatz:

ganz vertrauenerweckend aussehen,a,e

etw. beiseite legen

schnaufen

sich erinnern an Akk.

sich beruhigen

sich verbeugen

sich kneifen,i,i in Akk.

aussteigen,ie,ie

abtasten

passieren Dat.

die Nadel

nageln

2. Beantworten Sie die Fragen:

1. Wie sahen Emils Nachbarn aus?

2. Worüber sprachen die Mitreisenden?

3. Was machte der Mann im steifen Hut?

4. Wie versteckte Emil das Geld?

5. Warum hatte er Angst, das Geld zu verlieren?

6. Wann schlief Emil ein?

 


Date: 2016-01-14; view: 916


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