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Stress und Stresstherapie

Es vergeht keine Woche, in der man nicht in einer Zeitung oder Zeitschrift Artikel über und Tipps zum Thema Stress lesen kann. Stress gilt, neben Depression und Alzheimer, als die neue Volkskrankheit. Gerade lese ich eine Serie in einer Kölner Tageszeitung darüber, verbunden mit einer großen Veranstaltungsreihe, in der Experten den ständigen Zeitdruck als zentralen Stressfaktor benennen und für „Entschleunigung“ plädieren. Schön und gut, Entschleunigung tut sicher not, aber so einfach ist es nicht. Ich fürchte sogar, das führt zu noch mehr Stress, wenn sich nicht gleichzeitig unsere innere Lebenshaltung ändert.

Als ich Anfang der achtziger Jahre meine ersten Meditationsübungen machte, war das etwas vollkommen Exotisches. Yoga war etwas für Spinner mit langen Bärten und indischen Gewändern, autogenes Training kannte niemand, und Tai Chi oder Chi Gong erst recht nicht. Heute sind das – und noch einige andere „Entschleuniger“ dazu – die Renner in allen VHS-Programmen. Und? Haben wir heute, wo Hunderttausende solche Methoden praktizieren, weniger Stress? Mitnichten. Jetzt muss auch noch der Yogakurs in den Terminkalender gepresst werden.

Was ist eigentlich Stress? Manche setzen ja Stress mit zu viel Arbeit oder Druck bei der Arbeit gleich, aber das ist absurd: Unsere Eltern, Groß- und Urgroßeltern haben viel mehr gearbeitet als wir; bis etwa 1970 gab es für die meisten weder eine Fünftagewoche noch richtigen Urlaub, und auch keinen Feierabend um vier oder fünf. Und die Nöte der Menschen (ob Geldnot oder andere Nöte) drehten sich nicht darum, ob man sich zwei Wochen Mallorca noch leisten kann oder nicht, sondern darum, ob und wie man seine sieben Kinder satt bekommt!

Ob der moderne Zeitdruck oder anderer Druck: Wer macht ihn wirklich? Die Gesellschaft, die Arbeit oder irgendwelche anderen äußeren Umstände? Nein, wir machen ihn, wir selbst! Niemand zwingt uns.

Genauer gesagt: Der Stress ist eine Folge der modernen Lebenshaltung. Er ist eine Folge davon, dass wir glauben, wir müssten unser Leben im Griff haben, es müsste sich unseren Vorstellungen und Plänen fügen und wir müssten so viel wie möglich hineinpacken, so viel wie möglich erleben. Das alles führt zu Stress – nein, es ist Stress, Stress pur. Stress besteht nur in dieser Haltung, und wenn wir jetzt meinen oder uns sagen lassen, wir müssten etwas gegen den Stress tun, kreieren wir noch mehr Stress, denn dann müssen wir auch noch die Stressfreiheit schaffen!

Unsere Vorfahren haben sich – je weiter wir zurückgehen, umso mehr – dem Leben und ihrem jeweiligen Schicksal mehr oder weniger gefügt. Man hat sich angestrengt und gekämpft, um zu überleben, aber die Vorstellung, dass das Leben einem etwas bieten müsse, dass man möglichst viel erleben müsse, gab es kaum. Sie haben den Platz eingenommen, der ihnen zufiel, ihre Arbeit getan, wie sie ihnen aufgetragen wurde oder wie (bei Bauern) die Natur es verlangte, ihre Ehe akzeptiert, wie sie war, und so weiter. Wir Heutigen erwarten, das sich das Leben uns fügt. Wir haben einen Lebensplan – Erwartungen an Karriere, Beziehungen, Gesundheit und vieles andere -, den wir gegen das Leben durchsetzen wollen.



Das ist unser Stress. Denn das bedeutet Kampf – jede Minute, und zwar einen Kampf, den wir nie gewinnen können. Denn das Leben geht seine eigenen Wege, und es ist immer stärker als wir. Und dann kommt noch die Vorstellung dazu, möglichst viel vom Leben erhaschen, bekommen zu müssen. Da gibt es kein Ausruhen mehr, keine Entspannung – auch wenn man noch so viele Entspannungsübungen macht.

Was es also braucht, ist ein vollkommenes Umdenken, eine Neuorientierung, eine andere Lebenshaltung. Natürlich kann man viele idiotische (anders kann ich es nicht nennen) Verhaltensweisen abstellen. Wenn ich sehe, wer heute nicht alles dreimal am Tag seine „E-mails checken“ oder dauernd auf sein Handy schauen und telefonieren oder simsen „muss“, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Aber das sind nicht die Ursachen, sondern die Folgen unserer gesamten modernen Einstellung zum Leben und zu uns selbst. Selbst wenn wir nichts tun, ist der Stress ja da – zumeist sogar noch mehr, als wenn wir beschäftigt sind. Und der Freizeitstress ist ebenso groß wie der viel gescholtene Arbeitsstress. Mit dem Unterschied, dass man bei letzterem einen Bösen hat, einen anderen, der schuld ist, während man sich bei ersterem schon an die eigene Nase fassen muss.

Ganz kurz gesagt: Wir müssen begreifen, dass wir gegen das Leben, gegen das Sein nicht ankommen. Dazu müssen wir uns dem Leben hingeben, wie es ist. Gewiss: Es wird nie mehr so sein wie früher. Das soll es auch gar nicht. Das wahre Abenteuer besteht heute darin, sich vom Fluss des Lebens tragen zu lassen, wo immer er uns hinführt. Sobald ich in dieser Haltung bin, ist aller Stress vorbei, selbst dann, wenn der Fluss mal reißend ist. Wenn ich mich ohne Widerstand einfach mitreißen lasse, ist alles bestens. Kein Widerstand – kein Stress. Ebenso, wenn der Fluss stillzustehen scheint. Auch wenn sich an der Oberfläche (des Flusses, unseres Lebens) scheinbar nichts bewegt: darunter fließt etwas, und plötzlich ist wieder alles anders. Auch hier: Kein Widerstand – kein Stress. Das ist die einzig wirkungsvolle Stresstherapie.


Date: 2016-01-03; view: 776


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