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Vorbereitungen für einen Fernsehabend

Instinktiv fuhr ich zum Spielplatz vom Hochhaus. Anders als gestern fuhr ich nicht an den Garagen vorbei, sondern kam den Weg durch die große Wiese vor dem Hochhaus entlang. So sah ich Tina schon von weitem, sie schaukelte wie gestern auf der gleichen Schaukel. Zu meinem Ärger war sie jedoch nicht allein. Auf der Schaukel neben ihr, wo ich gestern geschaukelt hatte, saß ein Junge. Ich sah ihn von hinten. Er hatte rötliche Haare und hielt die Schaukel mit sanften Bewegungen in Schwung. Als ich näher kam, durchfuhr mich ein Schreck, dass mir fast das Herz stehen blieb. Ich duckte mich und stoppte mein Rad. Ganz lang­sam und vorsichtig legte ich das Fahrrad auf die Wiese.

War das nicht John, der da auf der Schaukel saß? Was mach­te der denn hier? Geduckt schlich ich mich an die beiden heran. Ich wollte unentdeckt bis zu den Büschen gelangen, die die nördliche Begrenzung des Spielplatzes bildeten. Sie waren ein gutes Versteck, von dem aus man den Platz gut beobachten konnte.

Geschafft! Durch die Zweige eines Hagebuttenstrauchs hin­durch hatte ich einen guten Blick auf die Schaukel. Leider sah ich die beiden nur von hinten. Aber Tina war gut zu er­kennen. Sie saß schräg auf der Schaukel. John zugewandt, und redete munter auf ihn ein. Lachte und nickte, dass man meinen konnte, sie würde sich mit John gut unterhalten. Als würde er ihr hin und wieder antworten.

Konnte es sein, dass sich John tatsächlich mit Tina unter­hielt? Zu dumm, dass ich zu weit weg war, um das zweifels­frei feststellen zu können. John zeigte sich mir so gut wie nur von hinten. Und hören konnte ich auf die Entfernung nur Tina mit ihrem unverwechselbaren Singsang.

Eine ganze Weile ging das so. Ich blieb unbemerkt in mei­nem Versteck hinter den Büschen. Lauschte auf Worte, die ich nicht verstand und die nur von Tina kamen. Nach einer Viertelstunde grinste Tina den John besonders nett an, sag­te ihm abschließend noch was und legte ihm freundschaft­lich eine Hand auf die Schulter. Dann stand sie auf und ging zurück ins Hochhaus.

Als ich am Abend zu Hause ins Esszimmer kam, sah ich, dass John beim Tischdecken war. Außerdem hatte meine Mutter die englische Dekoration erweitert. In Trinkgläsern steckten die kleinen Union Jacks, die ich neben dem Kühl­schrank entdeckt hatte. Ingwerkekse und Servietten mit dem Union Jack schmückten den Tisch.

John ging in die Küche, und als er mit Butter und Brot wie­der ins Esszimmer kam, hatte er eine Schirmmütze auf dem Kopf, ebenfalls in den Farben der britischen Flagge.

„Hallo!", grüßte mich meine Mutter und grinste mich gut gelaunt an. John deckt den Tisch."

„Das sehe ich", sagte ich.

„Komm. Hilf ihm", bat mich meine Mutter. Folgsam ging ich zum Esszimmerschrank, holte die Teller und das Besteck heraus und verteilte sie.

Draußen vor unserem Haus hörte ich ein Auto. Durchs Esszimmerfenster sah ich meinen Vater aus dem Auto eines



seiner Angestellten steigen. In den Händen hatte er einen Haufen Chipstüten, Erdnussdosen und Salzstangen.

Ich sah ihn gut gelaunt den Gartenweg zum Haus kommen. Er hatte eine FC-Bayern-München-Mütze auf dem Kopf. Ich hörte ihn eine fröhliche Melodie vor sich hinsummen.

Kaum war er zur Tür herein, rief er:

„Deutschland-England! Mein Tipp: zwei zu eins! Das wird ein spannendes Spiel, ich freu mich ..."

Als er Mutters neue englische Dekoration sah, erstarb seine Stimme mitten im Satz. Mein Vater machte große Augen, nahm ganz langsam seine Kappe ab und blickte sich stau­nend um.

„Wie sieht's denn hier aus!", entfuhr es ihm. „Ich habe noch ein paar englische Sachen in einem Ge­schenkartikelladen gefunden", sagte meine Mutter und machte meinem Vater mit flinken Händen und ein bisschen Spucke seinen englischen Zuhausescheitel.

„Aha", machte mein Vater und sagte erst einmal nichts mehr. Mutters Hände auf dem Kopf waren ihm lästig. Er machte einen Schritt rückwärts.

„Nun ja. Schön", brachte er dann zögernd hervor. „Eigent­lich hast du ja Recht. Aber für heute Abend ist das vielleicht nicht ganz das Passende. Heute spielt doch Deutschland gegen England. Da können wir die Dekoration ja vielleicht entfernen."

„Warum denn das?", fragte meine Mutter spitz.

„Heute spielt Deutschland gegen England", wiederholte

mein Vater.

„Ganz recht", sagte meine Mutter und nahm meinem Vater die Tüten mit den Chips und Erdnüssen aus den Händen. „Na, es kommen doch Gerd und Wolfgang", sagte mein Vater eindringlich. „Was sollen die denn denken, wenn die hier die englischen, Fahnen sehen? Die müssen doch den­ken, ich bin bekloppt geworden. Die könnten glauben, dass ich zu den Engländern halte." „Tust du doch auch", sagte meine Mutter.

Mein Vater machte eine unwirsche30 Handbewegung. Ein verächtlicher Schnaufer entfuhr ihm.

„Was soll der Quatsch? Die Engländer sind unsere Gegner."

„Heute nicht", sagte meine Mutter. Und dann fuhr sie mit al--

lern Nachdruck und ernster Miene fort:

„Erinnerst du dich, was wir beschlossen haben? Wir haben

gesagt, dass wir uns gemeinsam bemühen wollen, es dem

John hier so heimisch wie möglich zu machen."

Ja. Schon", sagte mein Vater und schaukelte seinen Kopf

hin und her. „Aber doch nicht heute, wo der Gerd und der

Wolfgang ..."

„Gerade heute", sagte meine Mutter. „Gerade vorhin hat Johns Mutter angerufen. Du hättest John sehen sollen, wie geknickt er in sein Zimmer geschlichen ist. Gerade in so einem Augenblick braucht er viel Zuneigung. Gerade dann müssen wir ihm das Gefühl von Geborgenheit und Heimat geben. Da können die Engländer keine Gegner sein. Auch nicht beim Fußball. Wie einsam muss er sich vorkommen, wenn er hier der einzige England-Fan ist." Meine Mutter redete sich richtig in Fahrt. Sie sprach noch eine Weile von Völkerverständigung, liebe und Entgegen­kommen. Aber mein Vater hörte wohl schon nicht mehr zu. Er schüttelte nur den Kopf und sagte nichts mehr. Statt­dessen ging er ins Wohnzimmer.

„Oh nein!", rief er von dort. „Was soll das denn?" Ich folgte ihm und sah auf dem Fernsehtisch die englischen Bierbüchsen, von denen mein Vater ungläubig eine in den Händen hielt.

„Ich finde", sagte meine Mutter, die am Rahmen der

Wohn­zimmertür lehnte, „es ist nicht zu viel verlangt, wenn ihr drei, Gerd, Wolfgang und du, John zuliebe heute Abend mal England-Fans seid. Ihr müsst ja nur so tun."

„Das verlangst du allen Ernstes von Gerd und Wolfgang?" Mein Vater konnte es kaum fassen. „Das glaubst du doch sel­ber nicht, dass die das mitmachen!" Er langte sich an den Kopf und stöhnte: „Oh Gott!"


 


Date: 2016-01-03; view: 1153


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