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Tina kommt ins Spiel

Die Überraschung folgte am nächsten Tag. Zuerst machte meine Mutter im Bad meinen Vater mit einem falschen Scheitel auf dem Kopf wieder zum Engländer. Der falsche Scheitel war seine Frisur für zu Hause geworden. Das allein war aber noch keine Überraschung. Neu war, dass meine Mutter unser Esszimmer englischer gestaltet hatte. Vater hatte eine englische Zeitung vor sich. An der Wand hing ein Union Jack, das ist die britische Flagge. Und ein Bild von Königin Elizabeth. Auf dem Tisch standen zwei Tassen, auf denen die tote Prinzessin Diana zu sehen war. Woher meine Mutter das Zeug hatte, verriet sie nicht. Sie hatte in der Pfanne was gebraten, was es bei uns noch nie gegeben hat. Schinken mit Spiegeleiern.

Bacon and eggs nennt man das in England.

„Schinken und Eier!", sagte mein Vater in einem lauten und übertrieben deutlichen Deutsch. Er spielte Deutschunter­richt und betonte jeden Buchstaben, als würde sein Leben davon abhängen. „Wie lecker!", schwärmte er gekünstelt.

„Ich liebe englisches Frühstück!"

Dann wandte er sich an John, der wie immer schweigend neben mir saß, und wiederholte: „Schinken und Eier!" Ja! Schinken und Eier!", sagte jetzt auch meine Mutter. „Frühstück wie in England!"

Mein Vater nahm die englische Zeitung in die Hand.

„Nun werde ich die englische Zeitung lesen", sagte er und er zwinkerte mich vielsagend an. „In der Zeitung stehen interessante Neuigkeiten!"

„Ja!", sagte meine Mutter. „Und in einer englischen Zeitung stehen englische Neuigkeiten!"

Man hätte meinen können, bei uns seien plötzlich alle be­kloppt24 geworden. Was ein schweigsamer Sprachen­schüler alles anrichten konnte. Mindestens eine halbe Stunde führten meine Eltern das Kasperltheater auf. Mit dem Erfolg, dass John ein komisches Gesicht machte. Mehr nicht. Kein Wort von ihm. John blieb verschüchtert und schweigsam. ,

Deswegen musste ich am nächsten Tag erneut meinen Bei­trag zum Programm leisten. Ich machte mit Johns Einge­wöhnung in unserem Ort weiter. Wir fuhren wieder mit dem Fahrrad die Sehenswürdigkeiten ab. Beim Zeitungskiosk bei uns um die Ecke kaufte ich ein Micky-Maus-Heft und sagte: „Das ist unser Zeitungskiosk!" „Hallo!", sagte Frau Schildknecht, die Verkäuferin, zu mir und reichte mir das Heft. „Ist das ein Freund von dir, den ich noch nicht kenne?"

„Das ist unser Sprachenschüler, der John!", sagte ich. „Hallo!", sagte Frau Schildknecht und schenkte John, ein freundliches Lächeln. „Gefällt es dir bei uns in Deutsch­land?"

Mein Sprachenschüler schwieg. Im Gegensatz zu mir wun­derte sich Frau Schildknecht darüber. Etwas ratlos grinste sie erst den Sprachenschüler John an, dann mich. „Er antwortet nicht", stellte sie fest.. „Er darf nicht sprechen." sagte ich. „Sein Vater ist Geheim­agent seiner königlichen Majestät. Die ganze Familie hat Schweigepflicht, damit sie nichts über den geheimen Auf­trag ausplaudern kann. Johns Deckname ist Johnny Schweigsam'."



Frau Schildknecht machte große Augen und staunte John an. „So", sagte sie. Johnny Schweigsam. Ein Sprachenschüler mit Schweigepflicht! Was es nicht alles gibt." Nachdem wir wieder aus dein Kiosk raus waren, fuhren wir zu unserem Rathausplatz.

„Das ist unser Rathausplatz", sagte ich und schaute den John eine Weile von der Seite an. Er saß auf dem Fahrrad meiner Mutter und guckte teilnahmslos auf unser Rathaus.

Am liebsten hätte ich ihm jetzt eine reingehauen.

Stattdessen bekam ich einen Anfall. Es wurde mir einfach zu blöd, mit dem John durch unseren langweiligen Ort zu radeln und so zu tun, als wären die langweiligsten Sachen irgendwie interessant.

„Weißt du, was ich glaube?!", brüllte ich ihn an. „Du bist gar kein englischer Sprachenschüler. Du bist überhaupt gar kein Engländer. Zum Schweigen muss man kein Englän­der sein. Du glaubst wohl, das gehört zur feinen englischen Art, wie ein stummes Kalb durch Deutschland zu radeln und ohne eine Miene zu verziehen die Sehenswürdigkei­ten anzuglotzen! Was bildest du dir überhaupt ein? Mach gefälligst dein Maul auf!" '

Ich warf ihm noch ein paar Beleidigungen an den Kopf, dann schwang ich mich» auf mein Rad und jagte mit Höchstgeschwindigkeit davon.

John versuchte mir zu folgen. Aber Mutters Fahrrad war ein altes Ding ohne Gangschaltung und John damit chan­cenlos. Ich legte noch einen Zahn zu25 und jagte um Häu­serecken, über Parkplätze, durch Einbahnstraßen und über Fußgängerwege.

Als ich mich gehetzt umsah, war John verschwunden.

Ich landete auf dem Spielplatz von unserem einzigen Hochhaus in der Stadt. Es war ein guter Spielplatz mit einer erstklassigen Schaukel. Das Problem hier war der Haus­meister des Hochhauses, der Dinkel. Es war bekannt, dass er darauf achtete, dass nur Kinder hier spielten, die auch im Hochhaus wohnten. Aber es war für ihn nicht immer leicht, die Kinder, die hier wohnten, und die Kinder, die nicht hier wohnten, auseinander zu halten. Ich hatte viel Schwung und bremste scharf ab. Mein Hin­terrad blockierte und ich zog eine lange Bremsspur auf die Pflasterbegrenzungen des Spielplatzes. Ein Mädchen in meinem Alter saß auf einer Schaukel, schaute nach unten und brachte sich mit trägen Bewegun­gen in Schwung. Als ich mein Fahrrad abstellte, sah sie auf.

„Hallo!", grüßte sie mich.

Ich stieg von meinem Rad und schlenderte auf sie zu. „Hallo!", grüßte ich zurück und setzte mich auf die freie Schaukel neben ihr.

Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Ab und zu tauchte es auf

dem Schulhof auf.

„Wohnst du hier?"

„Ja", sagte sie. „Fünfter Stock."

„Ziemlich hoch", sagte ich.

„Als wir da eingezogen sind, ist mir fast schwindelig gewor­den, so hoch war das. Jetzt hab ich mich daran gewöhnt." Mit den Füßen stieß ich mich, so fest ich konnte, ab und mit drei, vier energischen Schaukelbewegungen schwang ich im Nu so hoch, dass die Kette am höchsten Punkt leicht einknickte.

Dann sprang ich ab. Ließ die Kette los und stand für den Bruchteil einer Sekunde schwerelos in der Luft. Am liebs­ten hätte ich in diesem Moment meinen ganzen Ärger wegen John und Kurt und Dennis in die Welt hinausge­schrien. Stattdessen fiel ich schwer wie ein nasser Sack in den weichen Sand unter der Schaukel. „Nicht schlecht", sagte das Mädchen anerkennend. „Ich kenn dich übrigens von der Schule. Du bist eine Klasse über mir."

„Ich hab dich auch schon mal gesehen", sagte ich. „Wie heißt du?", fragte sie. „Paul", sagte ich. „Und du?" „Tina."

Mir fiel auf, dass sie eine sehr angenehme Stimme hatte, die ihre Worte in eine Melodie von sanftem Auf und Ab einfing. Meine Laune besserte sich allmählich. Gerade setzte ich mich wieder auf die Schaukel, als hinter der Garage lautlos John auftauchte. Er bremste und blieb stehen und schaute mich an. Hatte er mich also doch ge­funden.

Leidend verdrehte ich meine Augen.

„Hallo", grüßte Tina wieder freundlich. Als John nicht zurückgrüßte und sich auch sonst nicht rührte, sondern mich nur weiter schweigend anstarrte, fragte mich Tina:

„Wer ist denn das? Der starrt dich an." „Das ist mein Sprachenschüler", sagte ich. „Ach ja?", sagte Tina. „Einer von den Engländern, die in un­serer Stadt sind? Ich hätte ja auch gerne eine Austausch­schülerin gehabt. Aber meine Eltern meinten, wir hätten keinen Platz."

John heißt er", sagte ich. „Aber John spricht nicht. Er ist komisch."

„Er spricht nicht?", staunte Tina. „Aber er ist doch ein Spra­chenschüler."

„Das ist ja das Komische", sagte ich. Ich hatte wieder angefangen zu schaukeln. John starrte mich unverändert mit vorwurfsvollem Blick an. Ich ver­suchte ihn zu ignorieren, was mir aber nicht gelang. John machte mich nervös. So nervös, dass ich mich nicht einmal mehr traute, von der Schaukel zu springen. „Kann man denn gar nichts mit ihm machen?", fragte Tina. „Warum spricht der denn nicht? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Der ist doch in Deutschland, um die Sprache zu lernen. Dafür muss man doch sprechen!" „Ich weiß es auch nicht", sagte ich. Sie lachte John freundlich an.

„Wie heißt du?", fragte sie ihn. „Woher kommst du? Wie heißt die Stadt, in der du lebst? Warum sprichst du nicht? Bist du schüchtern? Oder willst du einfach nicht?" Ohne irgendwelche Hemmungen fragte sie in ihrem freundlichen Singsang26 John all diese Dinge und noch viel mehr. Sie fragte und fragte, aber Antworten bekam sie von John nicht.

Irgendwann schaute sie dann auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt rauf", sagte sie. „Meine Klavierlehrerin kommt gleich. Tschüs, Paul. Tschüs John!"

„Tschüs", sagte ich.

„Komm doch mit deinem John einfach mal wieder her", sagte sie.

„Können wir machen", sagte ich, schaukelte langsam aus und ging zu meinem Rad. Ich wich Johns Blicken aus, stieg aufs Rad und fuhr nach Hause, John immer im Schlepp­


John ist weg!

 

Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte mein Vater meine Mutter, ob sie ihn ins Büro fahren könnte. „Ich muss die Lichtpausen mitnehmen. Diese großen Rollen fallen mir mit Sicherheit wieder vom Fahrrad." Mein Vater ist Architekt und hat sich auf Energie sparende Einfamilienhäuser spezialisiert. Sein Büro lag am Stadtrand in einem neuen Industriegebiet. Sein Geschäft ging mal besser, mal schlechter. Im Augenblick ging es recht gut.

Meine Mutter verzog aas Gesicht. Dass sie im Augenblick der Chauffeur meines Vaters war, passte ihr nicht besonders.

Und bevor sie antwortete, sagte mein Vater noch: „Ach ja! Heute Abend ist das Fußballspiel. Hatte ich das nicht gestern schon gesagt? Da kommen Gerd und Wolfgang, wie gewöhnlich."

„Du meine Gute!", seufzte meine Mutter und dächte an die lärmenden und rauchenden Männer im Wohnzimmer. Ein warmes Kribbeln der Erregung machte sich in meinem Magen breit. Das Fußballspiel hatte ich beinah vergessen. Hoffentlich durfte ich es sehen. Es kam erst abends um acht und ging bis ungefähr zehn Uhr. Eigentlich zu spät für mich, um unter der Woche aufzubleiben. „Wer spielt denn?", fragte meine Mutter so ganz nebenbei. „England-Deutschland", antwortete mein Vater. „England-Deutschland", wiederholte meine Mutter nach­denklich. „Hm."

Die Nachdenklichkeit, mit der ihre zögerlichen Worte über die Lippen kamen, wurde sie für den Rest des Tages nicht mehr los.

Nach dem Frühstück fuhren wir alle mit dem Auto. Mein

Schulweg war zwar nicht weit, aber da Mutter schon mal fuhr, ließen John und ich uns auch chauffieren. Vorne stieg mein Vater ein und warf drei große Zeichenrollen in ihren Kartonhüllen zwischen John und mich nach hinten. Man merkte ganz deutlich, dass meine Mutter mit ihren Gedanken ganz woanders war. Sie vergaß zu blinken, fuhr bei Grün erst mit Verspätung wieder los und rumpelte28 einmal ziemlich unsanft gegen den Randstein. Und schließ­lich fuhr sie in die völlig falsche Richtung. „Wo fährst du eigentlich hin?", fragte mein Vater und warf meiner Mutter einen irritierten Blick zu. Aufgeschreckt aus ihren Gedanken, trat meine Mutter un­vermittelt auf die Bremse.

„Wieso?", fragte sie. „Wo fahre ich denn hin?"

„Das frage ich dich!", sagte mein Vater.

„Du wolltest doch ins Büro", sagte meine Mutter.

„Genau", sagte mein Vater und zeigte mit dem Daumen nach hinten. „Mein Büro liegt genau in der Gegenrichtung."

Natürlich!", entfuhr es meiner Mutter. „Wie konnte ich nur!"

Bei der nächsten Gelegenheit wendete sie das Auto und fuhr zum Büro.

Als meine Mutter meinen Vater dort absetzte, reichte ich ihm seine Rollen nach vorn. Sie waren sehr unhandlich und Vater hatte große Mühe, sie alle unter den Arm zu klemmen.

„Tschüs ihr beiden", sagte er nach hinten zu John und mir. Meiner Mutter gab er einen Kuss, bedankte sich fürs Brin­gen und stieg aus dem Auto.

Auf halbem Weg zum Bürogebäude verlor er eine Rolle. Mit einem dumpfen Aufprall tanzte sie über die Platten. Als sich mein Vater nach ihr bückte, verlor er auch die restli­chen.

Meine Mutter konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Dein Vater", sagte sie zu mir nach hinten und schüttelte den Kopf.

Wir fuhren weiter und ich sah durch die Heckscheibe meinen Vater mit den Rollen unter dem Arm ins Büro schwanken.

 

Als ich nachmittags um drei nach einem langen Schultag nach Hause kam, hatte ich einen riesen Heißhunger auf die Spaghetti mit Tomatensoße. Aber ich hielt mich zurück und aß bewusst langsam. Denn ich befürchtete, meine Mutter würde mir wieder Vorschläge unterbreiten, wie ich mit John den Nachmittag verbringen sollte. Aber ich hatte überhaupt keine Lust, mich mit John in der Stadt zu zeigen. So aß ich langsam Nudel für Nudel. Im Haus war es sehr still. Ab und zu hörte ich das Knistern von Papier, wenn meine Mutter eine Seite der Zeitung umblätterte, die sie im Wohnzimmer las.

Ich war froh, dass sich John in seinem Zimmer vergraben hatte und dass von ihm nichts zu sehen und zu hören war. Länger als eine halbe Stunde konnte ich das Essen aber nicht hinauszögern. Ich hasste kalte Spaghetti. So trug ich das Geschirr zurück in die Küche. Den Teller und das Be­steck räumte ich in die Geschirrspülmaschine. Den Apfel­saft und das Wasser wollte ich zurück in den Kühlschrank stellen. Aber dort, wo Apfelsaft und Wasser immer standen, war kein Platz mehr. In der Innenseite der Kühlschrank­tür standen nebeneinander eine Reihe englischer Bier­büchsen.

Neben dem Kühlschrank fand ich eine Menge Tüten mit Ingwergebäck und dahinter ein paar kleine, zusammenge­rollte Union Jacks mit Holzstielen.

Als ich auf leisen Sohlen aus der Küche schlich, um mich unbemerkt aus dem Haus zu stehlen, hielt mich meine Mutter auf. Ihre Stimme schlang sich mir von hinten wie ein Lasso um den Hals.

„Wohin willst du?"

„Ich? ... Och ... bisschen raus", sagte ich so beiläufig wie möglich.

„Hausaufgaben?"

„Schon gemacht", sagte ich. „Wir hatten eine Freistunde." „Na dann", sagte sie. „Vielleicht siehst du ja irgendwo den John."

Ich stutzte, staunte und drehte mich nach meiner Mutter im Wohnzimmer um.

„Den John?", fragte ich. „Wieso? Der John ist doch ... ist er nicht in seinem Zimmer?"

Meine Mutter sah mich aus ihrem Sessel heraus an, die Zei­tung in den Händen.

„Er ist nicht in seinem Zimmer", sagte sie in einem Tonfall, als wäre das nichts Außergewöhnliches. „Er ist mit dem Fahrrad unterwegs. Ich weiß nicht, wohin. Vielleicht fährt er einfach nur herum. Obwohl er recht zielstrebig aussah. Jedenfalls halt doch mal die Augen nach ihm offen. Um sechs zum Abendessen solltet ihr wieder zu Hause sein." Bevor ich einigermaßen verwundert das Haus verließ, drehte ich mich noch ein letztes Mal um und fragte:

„Darf ich heute Abend Fußball schauen? Schlafen kann ich ja doch nicht, wenn Papa und seine Freunde im Wohnzim­mer herumgrölen29."

„Aber natürlich dürft ihr beide das Spiel sehen, du und John. England-Deutschland, das ist doch was Besonderes." „Prima!", sagte ich und freute mich. Trotzdem wunderte ich mich. So ein Entgegenkommen wegen einer Fußballübertragung hatte ich bei ihr nicht er­wartet.



Date: 2016-01-03; view: 1263


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