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Ein misslungenes Tauschgeschäft

 

„Ob man Austauschschüler austauschen kann?“, fragte ich.

„Gegen einen anderen? Oder sind Austauschschüler vom Umtausch ausgeschlossen?"

„Red keinen Unsinn!", sagte meine Mutter.

Vormittags ging John mit den anderen Austauschschülern zum Deutschunterricht und nachmittags war er bei uns zu Hause und schwieg uns mit seinem erlernten Deutsch an. War auf seinem Zimmer und las oder schlich durchs Haus. Er hatte auch keinen Kontakt zu den anderen Sprachen­schülern.

„Es wird eine Zeit dauern, bis er sich bei uns wohl fühlt", sagte meine Mutter. „Es ist alles fremd für ihn. Er ist ein schüchterner kleiner Bursche. Wirst sehen, der taut noch auf. Wir müssen nur nett zu ihm sein. Wir müssen ihm Wär­me und Geborgenheit geben. Zuwendung und Liebe."

In meiner Klasse hatten mehrere Kinder Engländer zu Hau­se. Egon, eine Bank weiter, hatte sogar eine Engländerin. Eine blonde Jane, die ihm englische Kekse mitgebracht hatte. Er gab unerträglich mit ihr an. Jeden Tag brachte er seine dämlichen12 Kekse mit in den Unterricht und aß sie heimlich. Wenn er in Englisch sein th sprach, diesen un­möglichen Buchstaben, den man vorne zwischen den Zäh­nen lispeln13 musste, schössen die Kekskrümel immer in meine Federmappe.

Stefan hatte einen ganz normalen Engländer, den Bobby. War ein netter Junge. Ich hatte ihn kennen gelernt, als ich bei Stefan zu Hause war. Er sprach gut deutsch und sehr gut englisch. Ein ganz normaler Mensch.

„Wollen wir tauschen?", fragte ich Stefan. „Kriegst den John gegen den Bobby. Kriegst noch meine Taschenlampe drauf und mein Modellflugzeug."

„Deinen John kannste14 behalten", sagte Stefan.

Kurt war eigentlich mein bester Freund. Aber weil ich mich mit ihm so furchtbar gestritten hatte, war er seit ein paar Tagen nur noch «der blöde Kurt». Weil er ein furchtba­rer Angeber geworden ist. Er hatte ein neues Fahrrad und erzählte jeden Tag, wie teuer es war. Und er ließ nieman­den auch nur eine Sekunde damit fahren. Nicht einmal mich.

Ausgerechnet der blöde Kurt hatte den Dennis gekriegt. Meinen Dennis! Den, den wir uns ursprünglich ausgesucht hatten. Und den ich wegen Vaters Führerschein jetzt nicht bekommen hatte. Dennis war ein netter Engländer, der viel lachte und viel sprach. Und mit dem man viele interessan­te Sachen anstellen konnte. Genau das Gegenteil von John. Als der blöde Kurt erfahren hatte, dass mein John nicht sprach, freute er sich. Weil wir ja verfeindet waren. Und weil es Kurt Spaß machte, mich zu ärgern, fing er an, sich ständig mit dem Dennis zu unterhalten. Dennis konnte schon ziemlich gut Deutsch.

Dass John den Mund nicht aufbekam, machte mich fast wahnsinnig.

Aber am meisten ärgerte mich, dass der blöde Kurt mit meinem Dennis angeben konnte. Dem perfekten Sprachenschüler, der eigentlich mir zustand. Ungerecht war das.



Eines Abends nach dem Essen machte ich meinem Ärger Luft. John war in seinem Zimmer, als ich auf meinen Vater einschimpfte:

„Alles nur wegen dir! Wenn du mit dem Anhänger nicht zu schnell gefahren wärst, dann hätte ich jetzt den Dennis. Der Dennis ist ein lustiger, lebhafter Engländer. Und jetzt hat ihn der blöde Kurt. Du bist schuld!"

Mein Vater machte große Augen.

„Na hör mal!", sagte er. „So kannst du doch nicht mit mir reden."

Meine Mutter legte ihre Hand auf meinen Arm.

„Paul", sagte sie. „Nun sei doch nicht so enttäuscht. Machen wir doch das Beste aus der Situation. Zugegeben, John spricht nicht und er ist anders, als man das von einem Spra­chenschüler erwarten darf. Aber das ist noch lange kein Grund, ihn abzulehnen. Wenn wir uns einig sind und ge­meinsam auf John zugehen, dann bin ich mir sicher, dass wir sehr bald einen gesprächigen Engländer haben wer­den, dem es bei uns gefällt. John hat sicherlich nur Heim­weh. Wer Heimweh hat, ist in sich gekehrt15 und redet" nicht viel. Wir müssen ihm nur das Gefühl geben, dass er hier bei uns zu Hause ist. Du wirst sehen, dass wir das hin­kriegen. Wir müssen nur gemeinsam daran arbeiten. Wir brauchen dazu auch deine Unterstützung."

Meine Mutter sah mich mit einem durchdringenden Blick an.

„Willst du uns dabei helfen?", fragte sie dann.

Ich nickte. „Versprochen?"

Wieder nickte ich.

„Kein schlechter Gedanke", sagte mein Vater. „Geben wir John das Gefühl, dass er hier zu Hause ist."

Zufrieden lehnte sich meine Mutter auf ihrem Stuhl zurück.

„Ich habe da auch schon eine Idee", sagte sie jetzt in einem nachdenklichen Ton.

Sie stand auf und holte von der Anrichte ein kleines Foto.

„Hier!", sagte sie. „Das liegt hier seit gestern Abend."

Auf dem Foto war ein Mann abgebildet, ungefähr so alt wie mein Vater.

„Wer ist das?", fragte mein Vater.

„Das ist sicher Johns Vater", sagte meine Mutter. John hat das Foto gestern lange angeschaut und dann hier liegen lassen. Schaut doch mal genau hin, die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen!"

„So?", meinte mein Vater zweifelnd.

Meine Mutter schenkte meinem Vater einen langen, freundlichen Blick.

„Fällt dir nichts auf?", fragte sie ihn dann. % „Was soll mir auffallen?", fragte mein Vater. „Der Mann auf dem Foto hat auch eine gewisse Ähnlich­keit mit dir. Findest du nicht?", sagte meine Mutter.

Mein Vater machte große Augen. Wir starrten alle auf das Bild.

„Mit mir?!", sagte Vater überrascht. „Ich weiß nicht. Er hat Haare auf dem Kopf und Ohren an der Seite. Mehr Ähn­lichkeit sehe ich da nicht." v

„Du siehst das nicht" sagte meine Mutter. „Aber es ist eine gewisse Ähnlichkeit da. Nur ist Johns Vater eleganter als du. Britischer. Trägt feinere Kleider und den Scheitel auf der anderen Seite. Der Scheitel auf der anderen Seite wür­de dir vielleicht auch ganz gut stehen. Vielleicht trägt man in England den Scheitel auf der anderen Seite. Wer weiß, in England ist doch vieles andersrum. Die fahren ja auch auf der linken Straßenseite."

Und dann grinste16 sie meinen Vater auf sehr eindringliche Art und Weise an, sodass er gar nicht mehr wusste, wo ei hinschauen sollte. Meine Mutter hörte nicht auf zu grinsen und sah abwechselnd zu meinem Vater und auf das Foto.

„Was grinst du so?", fragte mein Vater.

Und schon wuschelte17 sie meinem Vater im Haar herum und hatte auch ganz plötzlich einen Kamm in der Hand.

„Was machst du da?", rief mein Vater und fuchtelte18 mit seinen Armen in der Luft herum.

„Ach komm!", sagte meine Mutter. „Lass mich doch. Stehl dir bestimmt gut. Wenn John das sieht, dass du den Scheitel auf der anderen Seite hast, dann fühlt er sich vielleicht ein bisschen mehr wie zu Hause. Den Gefallen kannst du ihn doch tun. Wir haben doch gerade beschlossen, dass wir ihm helfen wollen."

,Ja, schon. Aber doch nicht mit so einer komischen Frisur!" empörte sich mein Vater und lehnte sich zurück, um den Angriff meiner Mutter zu entkommen. Aber sie wuschelte weiter in seinen Haaren.

„Hör auf! Ich will keine neue Frisur nur wegen eines Sprachenschülers, der nicht sprechen will", sagte mein Vater verzweifelt.

„Wir können es doch wenigstens probieren." Meine Mutter gab nicht nach. An, diesem Tag war sie unschlagbar. Schließ­lich resignierteI9 mein Vater und ließ sich eine neue Frisur machen. Danach sah er aus wie sein eigenes Spiegelbild, nur irgendwie noch mehr andersrum.

„Hol mal den John aus seinem Zimmer", bat mich meine Mutter.

Ich klopfte bei John dreimal an die Tür, bevor ich sie öffne­te. John lag auf dem Bett und blätterte in Comic-Heften.

„Komm einmal", sagte ich und lockte ihn mit einem Winken.

Als ich mit ihm ins Esszimmer kam, warteten wir alle gespannt auf seine Reaktion. Ob sich auf seinem Gesicht vielleicht eine Art Wiedererkennen zeigen würde. Oder wenigstens ein Lächeln.

Aber er stand nur da und wusste gar nicht, wieso er aus seinem Zimmer kommen sollte. Und wir wussten es auch nicht mehr.

„Kein Wunder", sagte meine Mutter später. „Das war viel zu harmlos. Noch viel zu unbritisch."



Date: 2016-01-03; view: 1219


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