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Reichenhall, 20. August, abends

Eben bin ich aus Salzburg zurückgekommen. Mitter­nacht ist vorbei, und ich sitze in meinem Hotel und trinke ein Bier.

Vor sechs Jahren war ich zum letzten mal in Salz­burg. Doch als Karl und ich heute mittag im Garten des »Stieglbräus« saßen und auf die Stadt der streitlu­stigen und kunstsinnigen Erzbischöfe hinunterschau­ten, war ich von neuem überwältigt. Auch Schönheit kann überwältigen.

Der Blick auf die durch Portale und Kolonnaden mit­einander verbundenen Paläste und auf die vielen verschiedenen Türme und Dächer ist hier in Salzburg -nördlich der Alpen einzigartig.'

Kein Wunder! Diese geistlichen Fürten, die Salz­burg schufen, bauten eine italienische Residenzstadt. Die Harmonie der verschiedenen Farben und Farb­töne vollendet, was eigentlich keiner Vollendung bedarf. Die Dächer leuchten grün, grau und rot. Dar­über ragen die Türme des Doms, das dunkelgraue und weinrote Dach der Franziskanerkirche, die altrosa Türme der Kollegienkirche mit ihren Heiligenfiguren, der graugrüne Turm des »Glockenspiels« und andere rote und grüne Kuppeln und Türme. Man sieht eine Farbensymphonie!

Karl erzählte mir, daß Wolf Dietrich von Raitenau, einer der kampflustigen Renaissancefürsten, die sich Erzbischöfe nannten, um das Jahr 1600 das alte Mün­ster und über hundert Wohnhäuser abreißen ließ. Er wollte einen neuen Dom bauen und holte einen berühmten Baumeister aus Italien, der mit dem Bau begann. Dann stockte das Bauvorhaben. Wolf Dietrich wurde nämlich auf der Hohensalzburg, seiner eigenen Festung, bis zu seinem Tod von den Bayern, seinen Feinden, gefangen gehalten. Markus Sittikus von Hohenems, sein Vetter und Nachfolger, holte einen anderen italienischen Baumeister. Der riß einen neuen Baugrund heraus und fing von vorn an. Erst unter der Regierung des nächsten Erzbischofs, des Grafen Paris Lodron, wurde der Dom vollendet.

Das war im Jahre 1628, also im Dreißigjährigen Krieg, der Salzburg überhaupt nicht berührte.

Diese drei Herrscher schüfen die architektonische Vollkommenheit Salzburgs. Ihre Nachfolger, die im Barock und Rokoko lebenden Kirchenfürsten, brauchten diese Vollkommenheit nur noch räumlich 'auszubreiten. Außerhalb der Stadt bauten sie für ihre Mätressen Schlösser, schufen Parks und Lustgärten mit steinernen Tieren und mythologischen Figuren.

Als Salzburg fertig gebaut war, holten die Erzbischöfe andere Künste aus Italien: die Musik und das Theater. Der erste Kapellmeister war immer Italiener. Noch Mozarts Vater brachte es nur bis zum zweiten Kapellmeister. Karl will mir nächstens das »Steinerne Theater« zei­gen, das Marx Sittich in Hellbrunn bauen ließ. In die­sem Felsentheater, das mitten im Wald Hegt, wurden die ersten italienischen Opern auf deutschem Boden aufgeführt.



Salzburg ist zum Schauplatz des Theaters geboren. Es ist kein Zufall, daß jetzt - im 20. Jahrhundert - die Salzburger Festspiele internationalen Ruhm haben. Ob man vor Jahrhunderten im Steinernen Theater die ersten europäischen Opern spielte oder ob man heute vor dem Dom und in der Felsenreitschule Theater­stücke von Hofmannsthal und Goethe aufführt, diese Stadt war schon immer und ist noch heute mit dem Spieltrieb eng verbunden.

An unserem Tisch im »Stieglbräu« saßen Einheimische. Sie sprachen über das Theater, als seien sie Kritiker vom Fach. Sie debattierten und diskutierten und verglichen die Schauspieler des »Jedermann« mit­einander, und sie waren sich einig, daß der Schauspie­ler M. am schönsten gestorben sei.

Nun liege ich im Bett und studiere eine Salzburger Zeitung. Die Redaktion teilt mit, daß über 60.000 Fremde in Salzburg sind und daß diese Fremden etwa ,15.000 Autos mitgebracht haben. Wenn man" daran denkt, daß in einem Wagen durchschnittlich drei bis vier Personen sitzen, so bin ich zweifellos der einzige Fremde, der nicht mit dem Auto angekommen ist. Ich fahre mit dem Autobus. Er hält in Reichenhall vor meinem Hotel und ist - trotz zweier Paßkontrol-
len - eine halbe Stunde später auf dem Residenzplatz in Salzburg. .,

Die zehn Mark, die ich in einem Monat drüben* verleben darf, habe ich heute bereits ausgegeben. Ich habe alles gekauft, was ich gesehen habe: Mozartku­geln, Anisichtskarten, Brezeln. Sogar englische Gum­mibonbons! Ab morgen bin ich - auch wenn ich nur eine Tasse Kaffee trinken will - ganz und gar von Karl abhängig.

Da wir morgen zum »Faust« gehen, habe ich schon I heute meinen Smoking über die Grenze transportiert und zu Karl gebracht. Er wohnt im »Höllbräu«, einem wunderbaren, alten Gebäude. Man muß über viele schmale, ausgetretene Treppen klettern, bis man in das kleine Zimmer kommt. Nun hängt mein Smoking also in Österreich. Ob er sich nach, mir sehnt?

Morgen mittag will ich mich im Cafe »Glocken­spiel« mit Karl, treffen. Ich werde keinen Pfennig Geld, aber ein fürstliches Lunchpaket mitnehmen. Das darf man!

malt und zeichnet wie ein Verrückter. Er ist in einem ' heiteren Zustand, und das hat Salzburgs Schönheit bewirkt!

Als mein Autobus um elf Uhr nachts vom Resi­denzplatz losfuhr, stand Karl noch immer vor dem Postamt und malte den Hofbrunnen, dieses italienische Meisterstück aller Brunnen: die vier steinernen Pferde mit ihren Flossen und Fischschuppen und mit ihren Mähnen, die wie Perücken aussehen; die Fontänen, die aus den Nüstern der Pferde herausschießen und im künstlichen Licht silbern glänzen; und im Hinter­grund der schweigsame Dom und die Vorderseite des noch verschwiegeneren Schlosses! Gute Nacht, Herr Malermeister!

Das große Ereignis

Reichenhall, 21. August

Die Nacht geht vorbei, und ich habe nicht geschlafen. Wie ein Verrückter bin ich durch die nächtlichen Straßen gerannt. Zum Bahnhof und zurück. Die Salz­burger Straße entlang und wieder zurück. Im Hotel saß ich zehn Minuten. Dann lief ich wieder hinaus, setzte mich irgendwo auf einen Stein...

Daß mir das passieren mußte!

Ich bin verliebt! Ein bißchen verliebt wie ein Schul­junge, das wäre ja nicht so schlimm! Aber verliebt wie eine ganze Klasse? Ich bekomme keine Luft, wenn ich an das Mädchen denke. Und ich denke unaufhaltsam an sie! Mir ist zum Erstickenl Ein schrecklich herrlicher Zustand!

Als ich mittags in Salzburg ankam, war Karl noch nicht im Cafe. Meine Brieftasche lag in Reichenhall, und ich ging ohne einen Pfennig - wie das Gesetz es befahl - in die kleine Michaeliskirche und schaute sie mir an. Als ich aus der Kirche trat, goß es in Strömen. Ich rannte ins Cafe »Glockenspiel«, bestellte einen Kaffee, las eine Zeitung nach der anderen und wartete auf Karl. Ich saß auf Kohlen. Der Kaffee war getrun­ken, und der Ober - so schien es mir - umschlich mich wie ein Polizist.

Was sollte ich tun, wenn Karl nicht kam? Die ver­abredete Zeit war längst vorbei. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen der Gäste zu bitten, meinen Kaffee zu bezahlen. Da hatte ich die romantische Situation, die ich mir so schön ausgemalt hatte!

Ich sah mir die Gäste an. Wer könnte einen Frem­den zu einer Tasse Kaffee einladen, die er bereits getrunken hatte?

Und da sah ich sie! Sie heißt Konstanze. Kastanien­braunes Haar hat sie und blaue Augen. Aber auch wenn es umgekehrt wäre, wäre sie vollkommen.

Wahrscheinlich hatte sie die Unruhe, mit der ich auf jemanden wartete, beobachtet. Und nun blickte sie belustigt zu mir herüber. Wenn sie nicht gelächelt hätte, dann... ja dann... Aber ihr Lächeln!

Ich stand auf, ging zu ihr herüber, gestand ihr meine Notlage und bat sie, mich zu bedauern und mir zu hel­fen.

Sie lachte! Oh, welch eine musikalische Stadt Salz­burg ist! Sie lachte und forderte mich zum Sitzen auf. Sie bezahlte den Kaffee und lud mich zu einer zweiten Tasse ein. Ich weiß, daß ich das abschlug. Was wir sonst geredet haben, weiß ich nicht. (Es gibt keinen Zweifel: Verliebtheit gehört in das- Gebiet des akuten Ver­rücktseins).

Dann brach sie auf. Selbstverständlich kam ich mit. Wir machten Besorgungen: Erst auf dem Marktplatz vor der Kollegienkirche, dann in der »Getreidegasse«. In einer Bäckerei kaufte sie zwei Lebkuchenherzen. Die aßen wir auf der Straße. Ich trug ihr Einkaufsnetz und mein Lunchpaket. Dann verabschiedete sie sich. Sie versprach, morgen wieder ins »Glockenspiel« zu kommen.

Ja, und dann gab ich ihr einen Kuß! Zwischen hunderten von Menschen! Von allen Sprachen der Welt umgeben! Ich kannte sie kaum und gab ihr einen Kuß! Ich konnte gar nicht anders. Mir war, als gäbe ich ihn dem Schicksal, das mich zu ihr geführt hatte.

Eben noch hatte sie gelächelt. Nun war sie ernst. So ernst wie ich.

So war es gewesen. - Karl traf ich dann in seinem Zim­mer im »Höllbräu«. Er hatte im Cafe Tomaselli auf mich gewartet. Es war ein Mißverständnis gewesen! Weiter nichts! Ein Mißverständnis!

Ich zog meinen Smoking an. Später aß ich im

 

 

»Bräustübl«, was man mir in Deutschland mitgegeben hatte: gekochte Eier, Wurstbrote, Weintrauben und

Die Kellnerin brachte unaufgefordert Teller, Messer und Gabeln. Bauern, Chauffeure, Theaterbesucher, alle sitzen in diesen Bräustuben an ungedeckten, gescheuerten Tischen und essen das mitgebrachte Brot. Mein Bier bezahlte Karl,

Die »Faust«-Aufführung hat mir nicht besonders gut gefallen, aber das lag wohl an meiner Stimmung. Man hat die um 1700 angelegte und in die Felsen gemeißelte Reitschule zu einer Freilichtbühne umgebaut. Die Schauplätze liegen manchmal über-, manchmal nebeneinander. Die Scheinwerfer beleuchten manch­mal hier, manchmal da ein Bühnenbild. Die Entfer­nung zwischen den Bühnenbildern ist oft so groß, daß ich den Eindruck hatte, die Schauspieler müßten sich beeilen, um rechtzeitig von einer Szene zur anderen zu kommen.

Warum spielt man eigentlich Goethes »Faust«? In der Pause hörte ich ein Gespräch zwischen einer Ame­rikanerin und einem Amerikaner. Sie sprachen über den Eindruck, den das Stück auf sie gemacht hatte.

»Do you understand a word?« fragte sie.

Und er antwortete: »No.«

Nach der Pause begann es zu, regnen. Über den Zuschauerraum wurde eine Plane gerollt. Als nun der Regen auf dieses Zeltdach prasselte, war es unmöglich geworden, Goethe zu verstehen. Faust machte den Mund wie ein Nußknacker auf und zu. Gretchen und Mephisto wurden naß und durften keinen Regen­schirm benutzen.

Nach der Aufführung zog ich mich in Karls Zimmer um und erreichte gerade noch den letzten Autobus nach Reichenhall.

Jetzt will ich zu schlafen versuchen, obgleich mir das \ Herz im Halse klopft. Sie heißt Konstanze, und mor­gen werde ich sie Wiedersehen. Sie sieht aus wie eine Prinzessin und ist - ein Stubenmädchen! Tatsächlich. In einem Schloß in der Nähe von Hellbrunn. Das Schloß gehört einem Grafen, der mit seiner Familie auf Reisen ist und der das Haus und die Diener wäh­rend der Festspielzeit an reiche Amerikaner vermietet hat.

Ein Stubenmädchen? Eher eine Zofe aus einer Mozart-Oper!

Ich gestand ihr, daß ich das Geld für die Tasse Kaf­fee und den Lebkuchen nicht zurückgeben könne. Sie lachte. Sie hat ein Sparbuch.

Ich kann nicht schlafen.

Draußen wird es hell. Ich stehe auf.

Salzburg, 22. August, mittags

Ich habe den ersten Autobus nach Salzburg benutzt. Während der Fahrt kam die Sonne hinter den Wolken hervor und schien auf Reichenhall und Salzburg. Zu beiden Seiten der Grenze waren die gleichen Berge; auf beiden Seiten spricht man dieselbe Sprache; hier und dort trägt man die gleiche Tracht, die Lederhosen, die Lodenmäntel, die Dirndlkleider und die lustigen grü­nen Hüte mit den Rasierpinseln. Der einzige Unter­schied ist der, daß in Deutschland die Autos rechts, in Österreich dagegen links fahren müssen.

Gleich hinter dem österreichischen Zollamt liegt ein Ort, der Himmelreich heißt. Als ein Bauer beim Schaffner »Himmelreich, hin und zurück« verlangte, klang es viel poetischer, als es gemeint war.

Karl sah ich auf einer der Salzachbrücken. Dort zeich­nete er einen Angler, der im Fluß auf einem großen Stein stand. Ich wartete, bis er auch mit dem Hinter­grund, einer Kirche mit einem hübschen roten Dach, fertig war. In der Zwischenzeit betrachtete ich die Ausländer. Viele von ihnen wollen die Einheimischen in der Tracht übertrumpfen. Voll kindlichen Stolzes tragen sie die Kleidung der österreichischen Bauern und Bäuerinnen. Sie tragen Kropfhetten am Hals, ohne einen Kröpf zu besitzen und haben englische Regen­schirme über dem Arm.

Es stört nicht, es belustigt nur!

In Salzburg dürfen ja auch die Zuschauer Theater spielen!

Später bummelten wir durch die Gassen, blickten in Tore und Höfe hinein, freuten uns über alte Holztrep­pen, über kunstvolle Handwerks- und Gasthausschil­der, über bunte Heilige in Hausnischen, über heitere und fromme Sprüche unter den Dächern. Wir freuten uns über alles, was alt war.

Dann stiegen wir zur Hohensalzburg hinauf. Wir wollten die vielen Türme, Tore und Wälle, die man vom Tal aus sehen kann, aus der Nähe betrachten. Der Anstieg bot uns viele wechselnde Aussichten auf die schöne Stadt und die anmutige Landschaft. Als wir oben waren, schauten wir uns gründlich in der alten Festung um. Karl zeigte mir wichtige Punkte des Panoramas: das Schloß Hellbrunn, den Gaisberg, des­sen kleinen Bruder, den Nockstein, die weiße Wall­fahrtskirche Maria-Piain. Dann setzten wir uns in der Festungsgaststätte unter einen der großen, bunten Sonnenschirme.

Karl, der immer zu essen anfängt, bevor er hungrig ist, bestellte eine Erbsensuppe. Ich aß trotz seiner Pro­teste aus meiner Reichenhaller Tüte.

»Ich werde dir heute sowieso noch große Ausgaben verursachen«, sagte ich.

»Willst du dir eine Lederhose kaufen?« fragte er.

»Ich brauche heute nachmittag zwei Tassen Kaffee und zwei Stück Kuchen.«

»Seit wann ißt du denn zwei Stück Kuchen?« Er schüttelte den Kopf, legte aber gutmütig ein Fünf-Schilling-Stück auf den Tisch.

Ich sagte: »Erstens werde nicht ich den Kuchen essen, und zweitens will ich kein Bargeld haben. Das wäre möglicherweise gegen die Bestimmungen Ich muß dich bitten, mit mir ns »Glockenspiel« zu kom­men und dem Kellner den Geldbetrag für zwei Tassen Kaffee, zwei Stück Kuchen und das Trinkgeld in die Hand zu drücken. Ich bin ein Habenichts und will es auch bleiben.«

»Und sobald ich dem Kellner das Geld gegeben habe, willst du mich nicht länger zurückhalten!«

»Ich weiß, daß du im Mirabellgarten die steinernen Zwerge zeichnen willst. Künstlern soll man nicht im Wege stehen.«

»Deshalb hast du also den Strauß Alpenveilchen aus Reichenhall mitgeschleppt«, meinte Karl.

Und ich sagte: »Ich wollte dir nicht auch noch wegen der Blumen Umstände machen.«

Das war unser erstes Gespräch über Konstanze.

Reichenhall, am selben Tag, abends Als sie ins Cafe kam und mir zulächelte, war die Unruhe der letzten vierundzwanzig Stunden verges­sen. Das erste Wiedersehen ist der Richter über die erste Begegnung. Als Konstanze auf mich zukam, spürte ich, daß das Glück diesmal nicht zu vermeiden war. Es mußte uns in die Arme laufen.

Sie freute sich über die rosaroten Alpenveilchen. Der Kellner stellte den Strauß in eine Vase. Ich

erzählte ihr, wie erfinderisch ich gewesen war, um den Gastgeber spielen zu können. Zum Zeichen ihres Dan­kes aß sie beide Kuchenteller leer. Auf kein Essen, zu dem ich jemals Frauen oder Freunde eingeladen habe, bin ich so stolz gewesen wie auf den von Karl vorausbezahlten Kaffee und Kuchen. Es war wie Weihnachten im August!

Wir sprachen über unbedeutende Dinge: über Kuchen und . Autobusverbindungen. Anschließend erzählte sie lustige Geschichten aus ihrem Berufsle­ben. Solch ein österreichisches, an reiche Amerikaner vermietetes Renaissanceschloß sollte einmal von einem Lustspielautor aufs Korn genommen werden.

Konstanze ist durchaus nicht ungebildet. Sie hat die Handelsschule besucht. Und sie verstand es, mir sach­kundig zuzuhören, als ich ihr von meiner Arbeit erzählte.

Die Zeit stand nicht still. Konstanze hatte noch eine freie Stunde und brauchte keine Besorgungen mehr zu machen. So beschlossen wir, Karl im Mirabellgar­ten zu überraschen. Doch kaum standen wir auf der Straße, als es - wie üblich hier am Ort - zu regnen begann. Wir liefen los und kamen atemlos im Portal des Residenzschlosses an. Dort schlossen wir uns einer Führung durch die prunkvollen, historischen Räume an.

Solche Führungen entbehren nie der Komik. Kon­stanze kicherte bereits im ersten Raum. Der Führer warf uns einen bösen Blick zu, und ehe er in den näch­sten Raum trat, beschlossen wir, allein weiterzugehen. Wir ließen ihn und die Besucher vorausgehen und spazierten dann, Hand in Hand, allein und stumm wie in einem Märchenschloß von Raum zu Räum. Dann wurde Konstanze übermütig. Sie spielte eine Amerika­nerin, die mich für den Führer hielt, und sie verlangte die merkwürdigsten Auskünfte über Bilder, Teppiche, kunstvolle Uhren und was ihr sonst ins Äuge fiel.

Ich stellte mich als Museumsdirektor Doktor Galimathias vor und beantwortete ihre Fragen mit haar­sträubendem Unsinn. Konstanze spricht übrigens ein perfektes Englisch. Was man auf so einer Handels­schule alles lernt! Ich hätte auch hingehen sollen!

Im Schlafzimmer der Erzbischöfe, im ältesten Teil des Residenzschlosses, sahen wir die anderen wieder. Der Führer öffnete eine Tür. Wir blickten in das

Innere der Franziskanerkirche! Wir traten auf den Bal­kon, auf dem die Erzbischöfe früher dem Gottesdienst beiwohnten.

Vier gewaltige Säulen ragten hinauf bis in das Kir­chendach. Unter uns lag der goldene Altar mit einer kindlichen Madonna. Um sie und ihr Kind schwebten gesunde, vergnügte Engel: ein fliegender Kindergar­ten! Und an den Seiten des Altars standen zwei herr­lich bemalte Holzfiguren, der heilige Georg und der heilige Florian. Beide mit blitzendem Panzer, hohen ' Schnürstiefeln, Turnierlanzen und Helmen, auf denen bunte Pleureusen wippten. Zwei antike Kämpfer aus der Barock-Oper!

Die Führung war beendet, und der Regen hatte auf­gehört. Wir gingen noch einmal - jetzt durch das Hauptportal - in die Franziskanerkirche. Wieder bewunderten wir die runden Säulen und den farben­prächtigen, fröhlichen Altar. Dann wanderten wir auf Zehenspitzen durch den ältesten Teil der Kirche. Morgen hat Konstanze keine Zeit für uns beide. Doch übermorgen ist ihr freier Tag. Den wollen wir gemein­sam verbringen. Ich soll das Badezeug nicht verges­sen. Hoffentlich kostet das Baden nichts! Die finan­zielle Seite dieses freien Tages macht mir Kummer. Oder soll ich Karl als lebendes Portemonnaie mit­schleppen? Lieber bringe ich drei Rucksäcke und sechs Thermosflaschen aus Reichenhall mit! Meinen Vor­schlag, sie solle nach Deutschland mitkommen lehnte sie ab. Sie will, denke ich, in ihrer eigenen Umgebung bleiben.

In der Haffnerstraße verabschiedeten wir uns. Ich sagte: »Also auf übermorgen, Fräulein Konstanze!« Sie sah mich lächelnd an, gab dem Alpenveilchen­strauß einen kleinen Kuß und rief fröhlich: »Grüß dich Gott, Georg!« Dann war sie verschwunden.

Abends waren Karl und ich im Domkonzert. Man spielte die C-Dur-Messe, Opus 86 von Beethoven. In den vollbesetzten Stuhlreihen saßen Mönche, elegante Frauen, ausländische Pressevertreter, Priester, Rei­sende aus aller Welt, Bauern, Studenten, alte Frauen, Künstler und Offiziere.

 

Es war eine unermeßliche Stille. Die Frommen schwiegen miteinander, und wir anderen schwiegen für uns allein.

Man hat diese Kirche den schönsten Dom Italiens auf deutschem Boden genannt. Heute abend stimmte es. Als sich die Kapelle, der Chor, die Orgel und die Solosänger zu der gewaltig klingenden Musik Beetho­vens vereinten, flatterten kleine Fledermäuse - im Schlaf gestört - lautlos in der hohen Kirche über unseren Köpfen hin und her.

 

Ich schrieb auf einen Zettel, den ich zu Karl schob: »Hier haben selbst die Mäuse Engelsflügel.« Er nickte, dann versank er wieder im Zuhören.

»Grüß dich Gott, Georg!« hat sie gesagt.

 

Salzburg, 23. August, nachmittags im Tomaselli

An der Grenze kennt man mich armen Reisenden schon. Heute wollte der Zollbeamte mein Portemon­naie sehen. Ich sagte der Wahrheit entsprechend, es läge im Schlüsselfach des Hotels Axelmannstein. Er fragte besorgt, was ich täte, wenn ich in Österreich Durst bekäme. Ich erzählte ihm von meinem wohltäti­gen Freund Karl.

Karl erwartete mich vor dem »Augustinerkeller« in Mülln. Wir wanderten in die Stadt an dem »Gaststtättenviertel« vorbei. Dessen Häuser kleben.an den Felsen des Mönchsberges und sind zum Teil jn die Felsen, geschlagen. Man kann durch die offenen Tore niedrige Gewölbe und im Hintergrund sogar Zimmer mit Fels­wänden erkennen. Es ist nicht ungefährlich, hier zu wohnen, obwohl die Häuser durch besonders große Dächer geschützt sind. Trotzdem wurden 1669 zwei Kirchen und eine ganze Häuserreihe "vernichtet.

Wir wanderten an der Ursulinerinnenkirche vorbei ins Städtische Museum. Dort schauten wir uns eine Stunde lang die vielen Kostbarkeiten an, bis uns die Augen schmerzten.

Das Schönste war für mich der »Spottofen«. Jede •Kachel des Ofens stellt einen Buchrücken mit einem gelehrten Titel dar. Das Ganze wirkt also wie ein Bücherberg? 4er verbrannt wird. Und aus den Bücher­kacheln ragt ein kleiner, aufgeregt gestikulierender Red­ner heraus. Man weiß nicht recht, ob er predigt oder ob er wütend darüber ist, daß man die Bücher verbrennt.

Karl will in den nächsten Tagen das »Monatsschlößchen« bei Hellbrunn zeichnen. Dieses Schlößchen war ein spontaner Einfall des Erzbischofs Marx Sittich von Hohenems. 1615 ließ er es in einem einzi­gen Monat bauen. Warum? Er wollte einen Besucher, der Salzburg bereits kannte, überraschen! Sonst nichts! Aridere Zeiten, andere Ideen!

Zu Mittag aßen wir auf dem Mönchsberg. Ich nahm Karls Einladung an und teilte ihm mit, daß er heute keinen Kuchen und höchstens eine Tasse Kaffee zu bezahlen brauchte, und daß er mich morgen über­haupt nicht sehen würde.

Es tut wohl, wenn Freunde nicht neugierig sind. Doch das kann auch Interesselosigkeit sein! Er schwieg.

»Wenn es dir recht ist, möchte ich dich übermorgen Konstanze vorstellen. Sie ist ein herrliches Mädchen. . Sie hat blaue Augen und kastanienbraunes Haar und -«

»Jawohl«, meinte er, »sie sieht bezaubernd aus.«

»Du hast uns gesehen?«

»Gestern. Und sie kann gehen! Die meisten Frauen können nicht gehen, sondern haben nur Beine, man weiß nicht recht, wozu.«

»Sie läßt dir für Kaffee und Kuchen danken.«

»Oh, bitte.«

»Morgen hat sie ihren freien Tag.«

»Was hat sie morgen?«

»Ihren freien Tag«, wiederholte ich. »Sie ist Stuben­mädchen.«

Da bog sich Karl im Stuhl zurück und lachte so laut, daß die anderen Gäste zusammenschreckten und unfreundlich herübersahen. Ich glaube, ich war rot geworden.

»Wie kannst du denn über so etwas lachen?« sagte ich.

Als Karl endlich sein nervtötendes Gelächter nie­dergekämpft hatte, sagte er: »Menschenskind, diese junge Dame ist doch kein Stubenmädchen!«

»Natürlich ist sie eines«, antwortete ich, »außerdem hat sie die Handelsschule besucht, und sie spricht bes­ser Englisch als wir beide zusammen.«

»Na schön«, sagte er und zog die Schultern hoch. »Dann kannst du sie ja zum Staubwischen nach Berlin mitnehmen!«

Karl ist manchmal zu dumm!

 

Reichenhall, 23. August, nachts Die vorige Notiz schrieb ich heute nachmittag im Tomaselli, Salzburgs ältestem Kaffeehaus. Es ist sicher fast so alt wie das Kaffeetrinken in Europa. Vor­her hatten wir im Mirabellgarten gesessen, zwischen bunten Qnemonenbeeten, steinernen Löwen, Einhörnern, Halbgöttern und barocken Damen.

Auf dem Rückweg wurden wir von einem heftigen Regen überrascht. Wir liefen über die Brücke, an dem hübschen Rokoko-Rathaus und am Floriansbrunnen vorbei und hinein in das vollbesetzte Cafe. Im ersten Stock fanden wir schließlich zwei Stühle. Der Regen prasselte gegen die Fenster. Und wir hatten Karten für die »Jedermann«-Aufführung auf dem Domplatz!

Karl las mir die Rückseite der Karte vor: »Bei Jeder-mann-Aufführungen kann man keinen Ersatzanspruch stellen, wenn das Stück wegen Witterungseinflüssen nach der 1. Szene unterbrochen werden muß.«

Ich sagte: »Wenn wir keine Pressekarten hätten, könnten wir uns heute das Eintrittsgeld zurückzahlen lassen.«

»Seit du kein Geld hast, bist du ein Geizhals gewor­den«, stellte Karl fest. »Übrigens findet die Aufführung trotzdem statt, und zwar im. Festspielhaus.«

Vom Nebentisch sagte ein mißvergnügter Herr: »Die Festspiele sind fast zu Ende, und nicht eine ein­zige Aufführung hat vor dem Dom stattgefunden! Jedesmal hat es geregnet!«

»In Salzburg«, meinte Karl, »regnet es immer mehr als woanders, aber im August regnet es in Salzburg täglich.«

»Weil da die Festspiele sind!« Der Nachbar war auf die Welt böse.

Der Nachbar dieses Nachbarn sagte: »Die Fremden kommen, auch wenn es täglich regnet. Ich vermute, es regnet hauptsächlich, damit die Kaffeehäuser voll werden.« Dann las er weiter in der »Neuen Wiener Zeitung“.

Ich seufzte und erklärte, da ich an Konstanze dach­te: »Man hätte Konditor in Salzburg werden müssen!«

Karl sah mich wie ein Arzt an, der den neuen Patienten zum ersten mal untersucht.

Später zogen wir uns in seinem Zimmerchen unsere Smokings an. Und als es Zeit war, eilten wir - vom Regen getrieben - zum Festspielhaus. Die Einheimi­schen standen trotz des Regens in dichten Reihen und bewunderten wie jeden Abend das Schauspiel vor dem Theater: das Ankommen der Autos, das Aussteigen der kostbar gekleideten Damen, das vornehme Benehmen der Herren und was sich sonst dem Auge bot. In diesem Jahr besuchten die italienische Köni­gin, der König und die Herzogin von Windsor, die Frau des Präsidenten Roosevelt, der amerikanische Sänger Lawrence Tibett, der Maharadscha von Kapurthala, Herr Metro-Goldwyn-Mayer und Marlene Dietrich das Theater. Und Karl und ich natürlich) Hofmannsthals »Jedermann«, dieses beste Stück aller Schauspiele, hat mich von neuem überwältigt. Das ist wirklich ein Schauspiel, das jeder versteht, ob er aus den USA, aus China oder von den Fidschi-Inseln kommt. Und es ergreift jeden. Die Handlung, die Entwicklung der Hauptperson, die Schuld und die Gnade, alles ist überzeugend und ergreift auch den, der kein Wort davon versteht.

Nun hängt mein Smoking wieder in Österreich. Ob Karl die Jacke über den Bügel gehängt hat? Verspro­chen hat er es!

Und morgen ist Konstanzes freier Tag. Ich habe sie vierundzwanzig Stunden nicht gesehen. Mir ist wie einem Kind, das auf Weihnachten wartet.

Der Portier hat mir einen Rucksack geborgt. Ich habe ihn mit Wurst, Brot, Butter, Käse, Schokolade, Rot­wein und Obst füllen lassen, daß ich morgen wahr­scheinlich zusammenbrechen und wie ein sterbender' Soldat auf der Erde liegen werde.

Seit der Schulzeit bin ich nicht mehr gewandert. Wenn das nur gut geht! Der Mensch ist ein Spielball der Leidenschaften!

 

Der freie Tag

Hellbrunn, 25. August, morgens Nun ist er vorüber, Konstanzes freier Tag! Er ist in die Vergangenheit gesunken, hinunter zu den übrigen, den glücklichen und traurigen Tagen, die nicht zurückkehren.

Ich sitze in einer uralten Allee und bin allein. Es ist noch früh, und die Morgensonne strahlt auf das

Schloß Hellbrunn. - In einem anderen, einem kleine­ren Schloß, nicht weit von hier, wird Konstanze jetzt die Frühstückstablette die Treppe hinauftragen und an mich denken. Hoffentlich läßt sie kein Tablett fallen. Altes Porzellan ist teuer. Ob sie wie andere Stuben­mädchen ein schwarzes Kleid, eine kleine weiße Tändelschürze und auf dem Haar ein weißes Rüschenhäub­chen trägt? Ich darf nicht vergessen, sie danach zu fra­gen.

 

Gestern morgen kam sie nicht als Zofe, sondern als Amazone. Ich erwartete sie auf dem Salzburger Resi­denzplatz. Mein Rucksack war so schwer, daß ich Mühe hatte, nicht auf den Rücken zu fallen. Da kam ein kleines Sportauto um die Ecke. Jemand winkte. Der Wagen bremste. Am Steuer saß ein junges Mäd­chen und rief: »Servus, Georg!«

Ich traute meinen Augen nicht. Es war Konstanze. Und ich vergaß vor Überraschung, ihr die Hand zu geben..

»Der alte Graf hat mir vor seiner Abreiße erlaubt, den Wagen in wichtigen Fällen zu benutzen. Und«, fragte sie, »ist mein freier Tag nicht ein wichtiger

»Ja, ja!«

»Na also!«

»Aber das Benzin?«

»Du vergißt mein Sparbuch.«

»Und das Fahren? Hast du das auch auf der Han­delsschule gelernt?«

»Nein. Ich brauchte den Führerschein, weil ich die <Schwester des Grafen oft spazieren fahren muß. So, nun steig aber ein, bevor dich dein Rucksack zu Boden wirft!«

Ich verstaute den Rucksack, setzte mich neben sie und schüttelte ihr die Hand. Sie gab Gas, und fort ging es. Um das Wandern war ich also herumgekommen.

In den Dorfgärten blühten Blumen. Auf den Wiesen standen Kühe und Pferde. Der Tag wurde heiß. Kon­stanzes Augen strahlten. Ihr Mund war halb geöffnet, und sie sang leise. Wenn ich sie von der Seite ansah, lächelte sie, blickte aber immer geradeaus. Manchmal 'rief sie mir den Namen eines Qrtes zu. Dann sang sie wieder vor sich hin. Schließlich sang ich sogar die zweite Stimme mit.

Wir setzten uns auf einen Felsblock, schauten über Berg und Tal und freuten uns, ein Teil dieser schönen Welt zu sein. Ein Segelflugzeug schwebte lautlos wie ein großer, geheimnisvoller Vögel über den Wäldern. Das Gefühl für Zeit hatten wir verloren. Irgendwann fuhren wir an dem blauen Fuschlsee vorbei bis zum Wolfgangsee. Hinter St. Gilgen parkte Konstanze den Wagen auf einem Wiesenweg. Wir liefen zum Ufer, zogen das Badezeug an, sprangen ins Wasser, schwammen in den See hinaus, lagen hinterher im warmen Gras, bis wir trocken waren und blinzelten in die Sonne. Manchmal fuhren Schiffe mit winkenden und rufenden Touristen vorüber. Aber sonst waren wir mit unserer bunten, duftenden Blumenwiese allein.

Manchmal plauderten wir, manchmal aßen wir aus meinem Rucksack, manchmal küßten wir uns, und die Heimchen unterhielten uns mit ihrem Konzert. So ähn­lich muß es im Paradies gewesen sein. Natürlich mit dem Unterschied, daß Adam und Eva unartiger waren als wir! Wenn am Abend nicht ein Gewitter gekommen wäre, lägen wir wahrscheinlich jetzt noch dort. So aber mußten auch wir zwei aus dem Paradies flüchten. Es wiederholt sich alles! 1 Der Himmel wurde blutrot. Über den Bergen blitzte das Schwert des Erzengels. Und kaum hatten wir: das Autodach festgemacht, brach das Gewitter los. Der Regen ging wie eine Lawine auf uns nieder, und der Donner krachte wie schwere Mörser.

In Salzburg regnete, blitzte und donnerte es natürlich auch. Wir landeten schließlich im Bahnhofswarteraum, und dort blieben wir solange, bis der Regen (aufgehört hatte.

Abends waren wir in einem Mozart-Konzert, das der um Salzburg und dessen größten Sohn verdiente Dr. Bernhard Baumgartner dirigierte. Konstanze hatte die Karten von dem Amerikaner, der das Schloß gemietet hat, geschenkt bekommen. Dieser amerika­nische Millionär heißt Namarra und besitzt Fabriken, in denen Celophantüten hergestellt werden: Celophantüten für Bonbons, für getrocknetes Obst, für Papiertaschentücher, für Mandeln, für Nüsse.

Eine Druckerei hat er auch. Dort werden die gewünschten Firmennamen und Reklametexte auf die bestellten Tüten gedruckt.

Wenn man daran denkt, womit manche Leute reich werden, und wenn man weiterhin daran denkt -

gerade bei Mozart liegt der Gedanke nahe - womit manche Leute arm bleiben, könnte man wütend werden!

Die Abendmusik war ganz herrlich! Man spielte zwei Stücke von dem noch nicht zwanzigjährigen Mozart: eine A-Dur-Symphonie und ein Konzert für Violine mit einem italienischen Virtuosen. Eine Französin sang Lieder von Mozart, und zum Schluß spielte man die »Linzer Symphonie«. Leider waren nicht viele Besucher da. Aber unter den Zuhörern war kein Banause, der sich an der Theaterkasse erkundigt hätte, ob der Maestro Toscanini den »Jedermann« dirigiere. Nein, die Künstler waren in guter Gesellschaft. Und Baumgartner war ein Dirigent nach meinem Herzen.

Als wir auf dem Residenzplatz ankamen, war der letzte Autobus nach Reichenhall über alle Berge. Wir fragten im »Höllbräu« nach Karl. Er war nicht da. Ich beschloß, auf der Straße zu warten. Konstanze wider­sprach heftig und wollte mir für die Nacht ein Hotel­zimmer »kaufen«. Das wollte ich nun wieder nicht. Nach längerem Hin und Her sagte sie: »Dann bleibt nur eins übrig. Du übernachtest im Schloß!«

»Wo denn da?«

»In meinem Zimmer. Auf dem Sofa.«

»Wenn das jemand merkt, verlierst du deine Stel­lung.«

»Wenn du nicht im Schlaf singst oder um Hilfe rufst, wird man nichts merken.«

»Aber Konstanze! Weshalb sollte ich denn in dei­nem Zimmer um Hilfe rufen?«

»Sei nicht unartig, Georgl« sagte sie. »Und morgen früh schmuggle ich dich aus dem Haus. Komm!«

Wir fuhren weiter.

Zehn Minuten später schlichen wir wie Einbrecher im Schloß des Grafen H. über die Nebentreppe. Es war ganz dunkel, und Konstanze führte mich vorsich­tig an der Hand. Schließlich öffnete sie eine Tür, schloß lautlos ab und machte das Licht an. Wir waren in einem freundlichen Zimmer. An den Wänden hin­gen alte Familienbilder und Zeichnungen. Sie zeigte auf ein Sofa. Dann ging sie zürn Fenster, das weit geöffnet war, und zog die Vorhänge zu. Sie kam leise zu mir zurück und flüsterte: »Du machst jetzt das Licht aus und machst es erst wieder an, wenn ich es erlaube. Nicht vorher! Sonst bin ich böse.«

Ich nickte, machte das Licht aus und stand im Dunkeln. Konstanzes Kleid raschelte. Ich hörte, wie sie die Schuhe auszog. Das Bett knarrte ein wenig.

»Georg!« flüsterte sie.

»Ja?« flüsterte ich.

»Jetzt!« flüsterte sie.

Im selben Augenblick hörte ich Schritte auf dem Gang. Vor der Tür machten sie halt.

»Konstanze?« fragte jemand halblaut, »schläfst du schon?«

»Noch nicht, Franzi«, antwortete sie, und ihre Stimme zitterte. »Aber ich habe eben das Licht aus-

»Du auch«, sagte der andere. Die Schritte entfern­ten sich langsam. Wir schwiegen, bis sie nicht mehr zu hören waren.

»Georg?«

»Ja?«

»Ich glaube, es ist besser, du machst das Licht nicht an.«

»In Ordnung«, sagte ich, »aber wo ist denn nun das Sofa?«

Sie lachte leise. Ich stand in tiefster Dunkelheit zwi­schen fremden Möbeln und wagte nicht, mich von der Stelle zu rühren.

»Georg«, flüsterte sie.

»Mache, bitte, zwei Schritte geradeaus!«

Ich folgte dem Rat.

»Jetzt drei Schritte halblinks!«

»Zu Befehl!«

»Und nun einen großen Schritt links!«

Ich machte einen großen Schritt links und stieß mit dem Knie gegen Holz. Aber irgend etwas stimmte nicht. Entweder hatte ich links und rechts verwechselt oder Konstanze hatte sich beim Befehlen geirrt. Ich stand nicht vor meinem Sofa, sondern vor ihrem Bett.

Reichenhall, 25. August, nachts Am Nachmittag hoffte Konstanze, kurz in den Hellbrunner Park zu kommen. Ich hatte Zeit und sah mir die Sommerresidenz der Salzburger Erzbischöfe in Ruhe an. Das Schloß ist ein sehr schöner Renaissancebau. Doch die Umgebung des Schlosses ist ein einzi­ger romantischer Spielzeugladen!

An schmalen Flüßchen stehen mechanische Figu­rengruppen, die durch Wasserkraft in Bewegung gesetzt werden. Volkstümliche und mythologische Szenen wechseln miteinander ab. In Grotten hört man - gleichfalls durch Wasserkraft erzeugt - künstliche Tier- und Vogelstimmen. Aus dem Geweih und aus den Nüstern steinerner Hirsche steigen Springbrunnen auf. Ein mechanisches Theater, das eine Szene vor dem Dom mit Orgelmusik und mit hundert sich bewegenden Figuren darstellt, ist das Meisterwerk dieser Wasserspiele.

Mir machte an einer Stelle des Parks ein steinerner Tisch mit steinernen Hockern viel Vergnügen. Denn aus den Hockern schießen plötzlich zahlreiche Was­serfontänen senkrecht empor. Hier mögen die lustigen Gäste früherer Erzbischöfe gesessen und mit ihren »Damen« getrunken und geplaudert haben. Und sobald der gutgelaunte Herr Erzbischof den Dienern einen Wink gab, stiegen aus den Hockern, auf denen die Herrschaften saßen, die Wasserfontänen hoch.

So spielten in Salzburg die vornehmen Leute Theater, doch die Bürger und die Bauern standen nicht hinter ihnen zurück. Sie hatten ihre Perchtenspiele. Sie trugen Masken und setzten sich meterhohen Schmuck auf den Kopf. Sie gingen auf Stelzen und spazierten als komische Riesen durch die Dörfer.

Der »Hanswurst«, diese unsterbliche Figur, hat in Salzburg seine^ Heimat. Mozarts Leporello und Papageno sind zwei wahrhaft volkstümliche Gestalten der großen, heiteren Kunst.

Im Monatsschlößchen, das auf dem Hügel über dem Hellbrunner Park liegt, sah ich viele schöne Bei­spiele dieses Spieltriebes.

Karl sah ich übrigens auch hier. Er zeichnete und hatte drei Farbstifte in der Hand und zwei zwischen den Zähnen.

»Vergiß nicht, daß wir heute abend in den 'Rosen­kavalier' gehen!« meinte ich.

Er blickte auf. »Ah, Herr Doktor! Lebst du noch oder bist du schon verheiratet?«

Verliebte Leute haben, auch wenn es ihrem Wessen widerspricht, keinen Humor. Ich sagte beleidigt: »Laß dich bei deiner aufreibenden Tätigkeit nicht stören!«

Karl schmunzelte. »Wenn du mich jetzt noch fragst, warum ich nicht fotografiere, statt zu zeichnen, werfe ich dich die Treppe hinunter. Auf frohes Wiederse­hen!«

Künstler sind empfindlich! Verliebte sind empfind­lich! Ich zog mich zurück.

Konstanze war pünktlich. Wir hatten uns im Helbrunner Park bei den Grotten verabredet. Sie wurde rot, als wir uns die Hand gaben, und sie sagte, daß sie nur eine halbe Stunde Zeit habe. Dann nahm sie meinen Arm, und wir gingen am Schloßteich entlang. Ich führte sie zu einer Bank. »Hier habe ich heute früh gesessen«, sagte ich. »Konstanze, ich liebe dich! Ich liebe dich, daß mir alles weh tut! Willst du meine Frau werden?«

Sie schloß die Augen für wenige Sekunden. Dann flüsterte sie: »Georg! Georg!« Sie lächelte. »Mir tut ja auch alles weh!«

Sie mußte eiligst ins Schloß zurück. Vor morgen nachmittag sehe ich sie nicht wieder.

Am ersten September kehrt die gräfliche Familie zurück. Konstanze mag bleiben, bis man ein anderes Stubenmädchen gefunden hat. Wenn das erledigt ist, muß sie nach Berlin kommen.

Am Abend waren Karl ich und mein Smoking im »Rosenkavalier«: Merkwürdig! Heute früh schlich ich heimlich aus einem österreichischen Schloß. Und als vorhin der Vorhang aufging, vorsteckte eine Frau - auch in einem solchen Schloß - ihren Geliebten. Meine eigene Salzburger Komödie erkannte ich in diesem Stück wieder. Ich saß zwar im Zuschauer­raum, aber ich war auch auf der Bühne. Das war ein Erlebnis, das ich so bald nicht vergessen werde.

Jetzt gehe ich in die Bar, bestelle eine Flasche Sekt und feiere meine Verlobung. Ohne meine Verlobte! Prosit!

PS: Meine Sekretärin hat mir meine Post aus Berlin nachgeschickt. Von der Devisenstelle war nichts dabei.

 


Date: 2016-01-03; view: 1938


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Im Schlafwagen, 19. August | Der Blitz aus heiterem Himmel
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