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Die sociale Aufgabe der Gegenwart.

 

ii372

Man schätzt den Staub, ein wenig übergoldet,

Weit mehr als Gold, ein wenig überstäubt.

Shakespeare.

 

Deutsche Arbeiter!

 

Ich habe den Hauptzweck meiner Reden zu euch im ersten Vortrag in die Worte gefaßt, daß ich euch auf den Geist Lassalle’s zurückführen wollte, damit ihr euch in der Berührung mit diesem kräftigen starken Geiste verinnerlichen könntet; dann wollte ich durch ein neues Ziel den Enthusiasmus in euch gebären.

Mit diesem neuen Ziele haben wir uns heute zu beschäftigen.

Ich wiederhole vor Allem die Worte Lassalle’s in Anwendung auf mich:

Ich bin nicht gekommen, um euch nach dem Munde zu reden, sondern um als ein freier Mann euch die ganze Wahrheit ungeschminkt und, wo es nöthig ist, auch schonungslos zu sagen.

(Arbeiterlesebuch 4.)

Ich muß es thun, weil ich in dieser Rede alle Schäden der heutigen Socialdemokratie berühren muß. Da diese Schäden geeiterte, zum Theil brandig gewordene Wunden sind, so liegt die Gefahr nahe, daß ihr laut aufschreien werdet, wenn ich dieselben sondire. Ich erinnere euch aber daran, daß der Kranke ruhig die Schmerzen einer Operation ertragen soll, die ihm neues Leben schenken wird und daß ihr euch ehrt, wenn ihr mir lautlos zuhört. Ich bin ein praktischer Diener des Volks, kein Schönredner, und ich ruft deshalb noch ein Wort Lassalle’s in euer Gedächtniß zurück:

ii373 Das Fürstenthum, meine Herren, hat praktische Diener, nicht Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen wären.

(Ueber Verfassungswesen, 32.)

Wie ich euch im dritten Vortrag entwickeln werde, erstrebe ich Nichts von euch, will ich keinerlei Lohn von euch. Was ich will, ist die innere Ruhe und diese kann mir nur das Bewußtsein geben, dem Volke zu dienen.

Ich habe in meiner ersten Rede versucht, das historische Charakterbild Lassalle’s zu entwerfen und wir haben gefunden, daß er war:

1) ein echter, glühender, deutscher Patriot;

2) ein eminent praktischer Politiker;

3) ein Erlöser.

Neben diese drei Charakterzüge werde ich jetzt die heutige Socialdemokratie halten, um zu ermitteln, ob sie auf der Lehre ihres Begründers steht oder ob sie sich von ihr entfernt hat.

Ist die deutsche Socialdemokratie patriotisch?

Sie ist es nicht.

Sie ist nicht patriotisch, sondern kosmopolitisch international, d.h. haltlos, verschwommen, vergiftet, ohnmächtig.

Es ist ganz unglaublich, deutsche Arbeiter. Nach Jahrhunderten der Schmach, nach Jahrhunderten der entsetzlichsten nationalen Zerrissenheit und des maßlosesten Hohnes, der namenlosesten Verachtung des Auslandes erringt das deutsche Volk, von dem ihr ein Hauptbestandtheil seid, das Kleinod, das als fernes Ideal das geistige Auge euerer großen Männer wie Kant, Fichte, Schiller, Lassalle trunken machte; viele euerer Brüder verspritzen ihr Herzblut für die deutsche Einheit, viele von euch und viele euerer Brüder lassen sich zu Krüppeln schießen für die deutsche Einheit, und kaum haltet ihr sie in der Hand, so nahen sich die Verführer und flüstern euch in’s Ohr: Dummköpfe! die deutsche Einheit soll ein Diamant sein? Ein Kieselstein ist sie. Werft sie fort. Zertretet sie. Die Welt ist ein Diamant – diesen kostbaren Edelstein müßt ihr erfassen!



Und was thut ihr? Ihr werft in der That die Einheit weg und ergreift – ja was ergreift ihr denn? Ihr wollt ein Nebelbild ergreifen und so kommt es, daß ihr Nichts in den Händen habt und ihr werdet auch niemals, niemals von diesem Nebelbild |

ii374 einen Fetzen in der Hand haben. Warum? Weil Nebel sich nicht erfassen läßt.

Arme Thoren! Arme Idealisten!

Wir haben gesiegt, wie noch kein Volk gesiegt hat, – und wir haben diese Siege vergessen. Wir sind Helden gewesen, wie größere noch nicht für ihr Vaterland gekämpft haben, – und wir haben das Bewußtsein dieses Heldenthums verloren. Wir haben eine Kraft entfaltet, wie noch kein Volk eine solche je entfaltet hat, – und wir vergessen diese Kraftentfaltung.

Darin, deutsche Arbeiter, möchte nun kein allzu großes Uebel zu erkennen sein. Abgelebte Nationen beten ihre Erfolge an – männliche Völker dagegen ringen nach neuen Erfolgen und denken nur an diese. Aber das ist noch nicht da gewesen, daß ein in der Blüthe seiner Männlichkeit stehendes Volk weder seine Erfolge bewundert, noch nach neuen strebt, sondern die nationale Vergangenheit und die nationale Zukunft aus den Augen verliert und wie ein Kind nach bunten Schmetterlingen jagt. Das ist Wahnsinn, das ist ein Verbrechen wider den heiligen Geist, der die Menschheit führt.

Ich werfe mich euch mit der ganzen geistigen Kraft, die mir zu Gebote steht, mit der ganzen Energie meines Willens entgegen und rufe euch zu: Kehrt um! Verlaßt eine Bahn, die euch auch nicht ein einziges »meßbares Beerlein« bringt und euch rettungslos in einen Sumpf, in den Sumpf des Kosmopolitismus führt.

Ich rufe euch zu, wie jener Grieche des Alterthums: »Tretet mich, aber hört mich an; bespeit mich, aber hört mich an; schlagt mich, aber hört mich an!«

Ich bin nicht grausam, aber mein Herz durchzuckt der entsetzliche Wunsch, daß alle Diejenigen, welche mit der Internationalen liebäugeln, aus ihrem Vaterland verbannt würden und zehn Jahre lang nicht zurückkehren dürften. Zehn Jahre? O nein! Es wäre zu schrecklich. Nur fünf Jahre lang!

Die Heimath zu verlassen und fremde Länder aufzusuchen, das liegt im deutschen Blut. Wir werden mit dem Wanderstabe geboren und fröhlicher als wir, mit offeneren helleren Augen als wir, durchwandert Niemand die weite Erde. Aber die Heimath verlassen zu müssen, mit dem Bewußtsein, nicht mehr zurückkehren zu dürfen, – das macht dem Deutschen graue Haare und gießt Gift in seine Adern. |

ii375 Denn warum wandern wir so fröhlich durch die Welt? Nur weil wir den sicheren Schatz im Busen tragen, jederzeit zurückkehren zu können. Wer diesen Schatz nicht hat, wer fort muß und nicht zurück kann, wer exilirt wird und ohne Thränen den letzten Blick auf Deutschland wirft, der ist ein Elender, der ist kein Deutscher.

Es ist ein alter Erfahrungssatz, daß man Das nicht achtet, was man besitzt, dagegen nach Allem das heftigste Verlangen empfindet, was man nicht haben kann. Und deshalb wünsche ich den deutschen »Weltbürgern«, den deutschen Marquis’ Posa in der Arbeiterblouse das Exil. Ich möchte sie sehen, wenn die Ankerkette rasselt und die deutschen Dünen immer mehr verschwinden. Jetzt empfinden sie gar nicht den Heimathshunger, weil die heimathliche Luft ihn continuirlich stillt, und deshalb verzeihe ich ihnen auch. Sie sündigen unbewußt. Ich will ihnen aber jetzt ihre Sünde zum Bewußtsein bringen und sie sollen schamroth bis in die Haarwurzeln werden.

Je edler der Mensch ist, je genialer, desto machtvoller entwickelt sich in ihm die Vaterlandsliebe, denn sie schließt nicht nur die Liebe zur Menschheit nicht aus, sondern ist geradezu der einzige Boden, wo die Liebe zur Menschheit gedeihen, wo für die Menschheit Ersprießliches geleistet werden kann.

Aus diesem Grunde haben auch alle großen Männer, welche unter dem grausamen Schicksal seufzten, fern von der Heimath im Exil leben zu müssen, eine Steigerung ihres Patriotismus bis zur wahnsinnigen Leidenschaft erfahren. Ich könnte euch, deutsche Arbeiter, eine ganze Reihe Solcher nennen und euch tagelang mit ihren schwermüthigen Klagen unterhalten, welche angehört werden, wie Mannesthränen angesehen werden: mit erschütterter, zerrissener Seele. Diese Klagen sind die Töchter der sternelosesten, kältesten Nacht, die es giebt, der Nacht des Heimwehs: sie wurden geboren, während die müden Exilirten fremde Treppen auf und ab schlichen und fremdes Brot aßen. Aber ich will euch nur Einen nennen, der seine Heimath meiden mußte, den englischen Dichter Byron. Er war nicht vom Staate exilirt, sondern von seinen bigotten Standesgenossen und zwar in einer Weise, die dem freien Dichter gebot, sich als einen faktisch exilirten Engländer zu betrachten.

Das ganze Unglück, das diese große edle Mannesseele in der Fremde empfand, hat er in seinem Trauerspiel »die beiden Fos|cari«

ii376 zum ergreifendsten Ausdruck gebracht. Mit dem Inhalt dieser herrlichen Dichtung will ich euch jetzt in kurzen Zügen bekannt machen.

Jacopo Foscari, der Sohn des Dogen von Venedig, wurde von einem Feinde seines Hauses Namens Loredano angeklagt, Geschenke von fremden Fürsten angenommen zu haben. Der Schein war gegen ihn und der Rath der Zehn verbannte ihn auf die Insel Candia. Dort erfaßte ihn ein so verzehrendes Heimweh, daß er sich um Hülfe an italienische Fürsten wandte. Er wurde hierauf neuerdings des Hochverraths an der Republik angeklagt, nach Venedig gebracht, der Tortur unterworfen und wiederholt verbannt. Als er aber das Schiff besteigen sollte, das ihn der Heimath zu entführen die Bestimmung hatte, brach sein Herz.

Dies schildert Byron in seinem Drama und wie schildert er es! Jedes Wort haben die Musen geküßt, jeder Gedanke ist ein göttlicher Gedanke!

Als der arme Gefangene seine Heimath wiedersieht, will ihm das Herz vor Freude springen. Er jubelt:

Mein schönes, mein süßes,

Mein einziges Venedig! Das ist Luft!

O wie dein Seewind meinen Wangen wohlthut!

Verwandt mit meinem Blute ist sein Hauch:

Er giebt ihm seinen Frieden wieder.

Sein Wächter macht ihn darauf aufmerksam, daß er zum Tode verurtheilt werden könne, und welche Antwort giebt er ihm?

Laß sie mich tödten!

So finde ich ein Grab in meiner Heimath.

Bei Gott! ’s ist besser hier als Asche wohnen,

Denn anderswo zu leben.

Er wird, wie gesagt, auf die Folter gespannt und dann wieder verbannt. Sein Weib, Marina, theilt ihm im Kerker das Urtheil mit. Er bricht vernichtet zusammen.

Ach! meine letzte Hoffnung sinkt!

Ich bin verloren! Meinen Kerker konnt’ ich

Ertragen, denn er stand in meiner Heimath;

Ich konnte die Tortur ertragen, denn

Es lag etwas in meiner Heimathsluft,

Das meinen Geist belebte, daß er wie

Ein Schiff auf sturmbewegtem Meer sich aufrecht

ii377 Erhielt und seine Richtung nicht verlor.

Doch in der Fremde, fern von hier – ach! ach!

Dort wird das arme Herz mir stückweis brechen –

Ich bin verloren! – – –

Sein Weib versteht ihn nicht. Sie sagt: sein Patriotismus sei kein Patriotismus mehr, sondern wahnsinnige Leidenschaft. Sie macht ihn darauf aufmerksam, daß schon Viele ihr Vaterland verlassen mußten und glücklich geworden sind. Aber er schüttelt den Kopf und erwiedert:

Wer zählt die Herzen,

Die lautlos brachen, als sie scheiden mußten,

Und Jene, die erst in der Fremde brachen

Am Heimweh, das vor des Verbannten trockne

Und fieberhafte Augen seiner Heimath

Tiefgrüne lichte Flur’n mit solcher Wahrheit

Hinmalt, daß er in voller Sinnestäuschung

Den Fuß hebt, um sie selig zu betreten?

Das jene Melodie erzeuget, deren

Gewalt’ge Töne so das bange Herz

Des Alpensohns ergreifen, daß ihn

Die Sehnsucht nach den schneebedeckten Bergen

Und ihren Wolken würgt und würgt und tödtet.

Du nennst dies Schwachheit! Ich, ich nenn’ es Kraft.

Die Heimathsliebe ist die klare Quelle,

Aus welcher jedes edele Gefühl

Entspringt. Wer nicht die Heimath liebt, der kann

Nichts lieben! – – –

Deutsche Arbeiter! Ich brenne euch die Worte des großen Dichters in’s Herz: die Vaterlandsliebe ist die Mutter jedes edleren Gefühls. Wer nicht sein Vaterland liebt, der kann Nichts lieben!

Endlich naht die Abschiedsstunde. Der edle Venezianer reißt sich von seinem greisen Vater los und geht. Er erbleicht und schwankt. Sein Weib ruft in Todesangst: »Er stirbt!« Aber er rafft sich noch einmal auf. Er ruft:

Licht! Licht! – –

Mein Vater, deine Hand – auch deine Hand,

Weib, Weib! – –

Marina ergreift seine Hand, deren Eiseskälte sie erbeben macht. |

ii378 Sie hat gespürt, daß es die Hand eines Sterbenden ist. Sie fragt ihn halb wahnsinnig vor Schmerz:

Mein Foscari, wie ist dir?

Er antwortet: »Wohl« – und stirbt. Sein Herz war gebrochen.

Seht ihr, deutsche Arbeiter, das war Vaterlandsliebe, die »Mutter jedes edleren Gefühls!« Es war Liebe zum Lande, zum Staate, die ganz unabhängig von den Personen ist. Nur ein Thor kann sein Land hassen, weil ihn Personen gepeinigt haben. Damit seine große Verherrlichung der Vaterlandsliebe eine vollkommene sei, hat der geniale Engländer auch diesen Punkt berührt. Als der Wächter des Foscari sich darüber verwundert, daß er ein Land lieben könne, das ihm so viele Schmerzen verursacht habe, antwortet er:

Die heimatliche Erde hat mich nicht

Gepeinigt – ach! ihr Same ist’s, der mich verfolgt:

Mein Vaterland nimmt mich wie eine Mutter

Treu in die Arme.

Auch verkündige ich euch, daß der größte italienische Dichter, Dante, der wie Byron im Exil schmachtete, die Vaterlandsverräther in den neunten Zirkel der Hölle, d.h. in den untersten und schrecklichsten versetzte, an einen Ort, wo die trostlose Oede und Kälte im Herzen eines Vaterlandslosen dadurch symbolisch angedeutet wird, daß die Verbrecher zwischen Eisbergen kauern und jede Thräne, die sie weinen, sofort am Auge gefriert. Es ist die kalte Hölle, die viel schrecklicher ist als die heiße.

Auch rufe ich euch die Worte unseres großen Dichters Schiller zu, welche Einige von euch gewiß schon gehört haben:

An’s Vaterland, an’s theure, schließ dich an,

Das halte fest mit deinem ganzen Herzen!

Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.

Und von dieser Liebe und allen anderen edlen Gefühlen, welche die Vaterlandsliebe gebärt, – wollen euch die Unseligen scheiden, denen euer Ohr gehört. Es ist ihnen nicht genug, daß ihr geschieden seid von allen Schätzen der Cultur und in totaler Verfinsterung des Geistes ein thierisches Dasein fristet, – sie wollen auch den letzten edlen Funken in euren Herzen verlöschen, der unabhängig von Geistescultur ist, der im Blute dämonisch liegt, der in der Brust des rohen Wilden liegt, wie in der des edelsten Menschen, ja der in den Thieren liegt; denn was hält viele Vögelein im Winter zurück? Die |

ii379 Liebe zur Heimath. Was fürchten sie mehr als den Hungertod? Ein Leben fern von der Heimath. Was treibt die gefiederten Sänger, die im Herbst in mildere Länder ziehen, im Frühjahr zurück? Die Liebe zur Heimath. Ihr aber sollt schlechter sein als Wilde und Thiere? Ihr sollt heimathlos sein; zu der Oede eueres Geistes soll die Oede des Herzens treten; ihr sollt allen und jeden Boden unter den Füßen verlieren und nach Phantomen haschen; ihr sollt verstoßen werden in die Wüste der Heimathlosigkeit, verachtet, verhöhnt von Engländern, Franzosen, Italienern und Russen!

Denn glaubt es mir, deutsche Arbeiter; glaubt es Einem, der sein scharfes Ohr auf das pochende Herz des italienischen, englischen und französischen Volks gelegt hat: jeder Franzose, jeder Engländer, jeder Italiener, er sei ein Herzog oder ein einfacher Arbeiter wie ihr, ist in erster Linie Franzose, Engländer, Italiener, dann erst ein Marquis Posa, d.h. ein Weltbürger, ein Schwärmer. Doch was sage ich? Der Vergleich ist falsch. Der edle Marquis wollte ein freies mächtiges Spanien, um mit diesem die ganze Welt zu reformiren. Er war ein echter Patriot.

Ich habe beinahe sechs volle Jahre am Golf Neapels in der schönsten Gegend der Welt gelebt, aber ich mußte während dieser Zeit zwei Mal nach Deutschland zurück, um aus der Berührung mit der heimathlichen Erde neue Kraft zu ziehen; und als ich endlich das Land verlassen hatte, wo ich den schönsten Jugendtraum geträumt und nun in durstigen Zügen die herbe Waldesluft meines Vaterlandes wieder einsog, da strömten Thränen lange aus meinen Augen, mir war unaussprechlich wohl, ich fühlte, daß an der Brust des deutschen Staats mein rechter Platz sei.

Ach! die Bemitleidenswerthen, die nicht empfinden, daß aller Schmelz der zauberreichsten Fremde keinen Vergleich mit der einfachen Schönheit Deutschlands aushält, daß die Luft der Fremde nicht dieselbe ist wie die Luft der Heimath! –

Ich gehe mit einem solchen »Enterbten« hinaus in die freie Natur. »O diese Felder, diese Wälder, diese Schluchten und Hügel!« rufe ich aus.

»Die sind ganz dieselben wie anderswo auch,« antwortet er kalt.

»O dieser würzige, ganz eigenthümliche Duft der Luft!« rufe ich aus.

»Es ist dieselbe Luft wie in Paris oder St. Petersburg: 80 % |

ii380 Stickstoff, 20 % Sauerstoff und etwas Kohlensäure,« antwortet er eisig.

»Es ist ein Unterschied!« rufe ich aufflammend.

»So nenne mir doch den Unterschied,« antwortet er höhnisch.

Seht, deutsche Arbeiter, da liegt das Geheimnißvolle der Heimath, das Unaussprechliche, das noch Niemand ausgesprochen hat und auch Niemand je aussprechen wird. Wie sagte Byron?

O wie dein Seewind meinen Wangen wohlthut:

Verwandt mit meinem Blute ist sein Hauch.

Verwandt mit meinem Blute ist der Hauch! – Da liegt’s. In unserem Blute lebt die Heimath; unser Blut ist die verkörperte Heimath; unser Blut jauchzet, wenn die Luft der Heimath es wieder berührt; unser Blut jubelt, wenn es durch die Augen auf die Fluren, Wälder, Hügel und Thäler der Heimath blickt. Warum? Es umarmt der Freund den Freund, der Bruder den Bruder, das Kind die Mutter. Und so wenig der Hauptbestandtheil der Freundschaft, oder der Bruderliebe, oder der Kindesliebe zu erklären ist, so wenig auch die Vaterlandsliebe. Nur ein Theil aller dieser Gefühle, der kleinste Theil, läßt sich mit dem Geiste erleuchten: Das Blutleben ist ein geheimnißvolles Leben.

Aber vielleicht möchte mir hier der Eine oder der Andere entgegnen: Gerade darin besteht ja der Fortschritt der Menschheit, daß sich die Triebe, welche im Blute liegen, immer mehr schwächen, daß sich die Wärme des Gefühls immer mehr und mehr im Licht des Geistes verwandelt, bis nur noch helles geistiges Licht im Menschen wohnt.

Auch könnte der Eine oder der Andere sagen: Es ist eine wissenschaftliche Thatsache, daß ein idealer Staat kommen wird, der die ganze Menschheit umfaßt; folglich ist das Weltbürgerthum über den Patriotismus zu stellen.

Auf diese schweren Einwürfe muß ich antworten.

Was würdet ihr wohl von einem Menschen denken, der in Frankfurt am Main wohnte und in Berlin dringende Geschäfte zu besorgen hätte, der aber erklärte: wenn ich nicht sofort auf irgend eine Weise in Berlin sein kann, so verlasse ich Frankfurt nicht? Ihr würdet verächtlich sagen: Der Mann ist ein Narr, wir wollen ihn in ein Tollhaus sperren.

Es ist aber genau dasselbe, wenn heutzutage Jemand sagt: ich |

ii381 will den idealen Staat; wenn ich ihn aber nicht sofort haben kann, so gehe ich lieber spazieren und declamire.

Ich wiederhole hier auch, was ich schon im ersten Vortrag gesagt habe: Der Weltbürger unserer Tage will im Monat Mai von einem Apfelbaum reife Früchte pflücken.

Und jetzt wollen wir den Kern der Einwürfe durchschneiden.

Blickt euch in Europa um. Was seht ihr? Ihr seht sechs mächtige Staaten: Deutschland, Rußland, Frankreich, England, Oesterreich und Italien. Diese sechs Staaten sind wie sechs Familien, welche unter Einem Dache wohnen. Jede Familie ist ein abgeschlossenes Ganzes, das seine ganz besonderen Interessen hat. Die Folge davon ist Reibung dieser verschiedenartigen Interessen; daraus entsteht Zank, der Zank wird oft beigelegt, oft auch nicht, und dann entsteht eine tüchtige Prügelei. Oft fechten nur zwei Familien wegen irgend eines Objekts miteinander, oft mehrere gegen mehrere.

Was bestimmt nun das Schicksal der europäischen Staaten? In der Hauptsache der Ausgang solcher Kämpfe, solches Zusammen- und Gegeneinanderwirkens.

Habt ihr, deutsche Arbeiter, schon einmal gesehen, wie ein Schiffer von einem Ufer des Flusses zum anderen fährt? Ihr nickt mit dem Kopfe. Gut! So werdet ihr auch gesehen haben, daß wenn er genau an derjenigen Stelle des anderen Ufers ankommen will, welche der Stelle, wo er vom Lande stößt, gegenüber liegt, er den Kahn so richtet, als ob er viel weiter oben ankommen möchte. Warum? Weil das Wasser fließt, also eine bestimmte Stromkraft hat, welche den Kahn fortreißt. Indem also der Schiffer in einer Richtung fährt, deren Endpunkt viel höher liegt als der Ort, wo er ankommen will, und das Wasser inzwischen continuirlich fließt, kommt er schließlich da an, wo er anzukommen beabsichtigte. In der Wissenschaft nennt man das die resultirende Kraft aus verschiedenartig wirkenden Kräften, oder die Diagonale des Parallelogramms der Kräfte.

Wenden wir dies nun auf das Leben der europäischen Staaten an, – und wir dürfen es, deutsche Arbeiter, weil in der ganzen Natur dieselben Gesetze walten, oben im Sternenhimmel sowohl als auch auf der Erde und in ihrem Inneren – so ist das Schicksal der ganzen europäischen Menschheit im allerallgemeinsten Umriß die Resultirende aus allen Einzelbestrebungen der großen einzelnen Volksindividualitäten, welche Europa bewohnen, oder auch die Diagonale |

ii382 des Parallelogramms der europäischen Volkskräfte. Rußland will Dieses, Frankreich Jenes, Deutschland will Dieses, Oesterreich Jenes, Italien will Dieses, England Jenes, und so entsteht nicht sprunghaft, sondern genau wie das Fließen eines Stroms, die Bewegung im Großen und Ganzen der europäischen Völker.

Nun blickt einmal, deutsche Arbeiter, in einen einzelnen Staat, z.B. in Deutschland hinein. Da habt ihr zunächst viele einzelne Staaten: Preußen, Bayern, Sachsen, Braunschweig u.s.w. Was gestaltet nun die Bewegung des deutschen Volkes im Großen und Ganzen? Es ist genau wieder dasselbe, was ich euch in Betreff Europa’s entwickelt habe. Preußen will Dieses, Bayern Jenes, Sachsen will Dieses, Württemberg Jenes; bald wollen auch Preußen und Sachsen dasselbe, aber Württemberg und Bayern wollen das gerade Gegentheil. Aus allen diesen Einzelbestrebungen entsteht nun, immer continuirlich, eine einzige Hauptbestrebung, die Bestrebung des deutschen Bundesraths. Diese resultirende Bestrebung fließt dann auf die resultirende des Reichstags ein und die also erzeugte ist die Politik des deutschen Reichs im Großen und Ganzen.

Nun blickt einmal, deutsche Arbeiter, in einen deutschen Einzelstaat, z.B. in Preußen hinein. Da habt ihr eine conservative, frei- conservative, national- liberale, liberale, ultramontane Partei. Ihr habt die Regierung, das Herren- und das Abgeordneten-Haus, auch die öffentliche Meinung. Was gestaltet nun die Bewegung des Preußischen Staates im Großen und Ganzen? Es ist genau wieder dasselbe, was ich mit Absicht auf das ganze Deutschland entwickelt habe. Die conservative Partei will Dieses, die national-liberale Partei Jenes u.s.w., und aus allen diesen Sonderbestrebungen entsteht continuirlich eine einzige resultirende: die Politik des preußischen Staats.

Nun blickt einmal, deutsche Arbeiter, in eine deutsche Partei hinein, aber, ich bitte sehr, nicht in die eurige, denn da möchten wir damit enden, daß das Geschrei so laut würde, daß ihr meine Stimme nicht mehr hörtet, und meine Stimme müßt ihr hören. Nehmen wir also die national-liberale Partei. Da will der äußerste linke Flügel Dieses, der äußerste rechte Jenes, Herr Lasker will Dieses, Herr von Forckenbeck Jenes. Aus allen diesen besonderen Bestrebungen erzeugt sich aber eine einzige: die Politik der national- liberalen Partei im Großen und Ganzen.

ii383 Nun blickt einmal, deutsche Arbeiter, in eine deutsche Stadt. Da seht ihr genau dasselbe wieder. Da will im Gemeinderath Herr X. Dieses, Herr Y. Jenes, da will im Magistrat Herr A. Dieses, Herr B. Jenes, bald pflichtet auch der Regierungscommissar dem Magistrat, bald den Stadtverordneten bei, bald opponirt er gemeinsamen Beschlüssen und aus allem Dem resultirt das Gemeindeleben im Großen und Ganzen.

Nun blickt einmal, deutsche Arbeiter, in eine deutsche Familie. Wiederum werdet ihr dasselbe sehen. Der Vater will Dieses, die Mutter Jenes, der älteste Sohn Dieses, die jüngste Tochter Jenes, und über Allen schwebt das Familien-Budget, ebenfalls mit einem ganz bestimmten Willen, insofern von ihm in vielen, ja vielleicht in den meisten Fällen, die Entscheidung abhängt. Aus allen diesen particulären Willensbestrebungen resultirt nun das Leben einer bestimmten Familie im Großen und Ganzen.

Nun blicke Jeder von euch in seine eigene Brust und in sein abgelaufenes Leben und da wird ein Jeder von euch dasselbe finden. Bald wollt ihr nach Amerika auswandern, bald hübsch im Lande bleiben, bald wollt ihr in’s Wirthshaus gehen, bald wollt ihr einen Brief schreiben, bald wollt ihr arbeiten, bald ruhen, bald essen, bald schlafen, bald wollt ihr Dieses, aber es wird euch abgeschlagen, bald Jenes, aber es wird euch beschränkt und beschnitten, bald wollt ihr ein Drittes, aber durch eine seltsame Verkettung von Umständen erlangt ihr viel mehr, als ihr wolltet. Und aus allen diesen Bestrebungen, Erfüllungen, Beschränkungen, Versagungen und Erweiterungen resultirt bei einem Jeden von euch ein ganz bestimmter Lebenslauf.

Nun wollen wir zusammenfassen. In jedem angenommenen Augenblick mündet euer Privatleben in das Familienleben, dieses in das Gemeindeleben, dieses in das Leben des deutschen Staats, zu dem ihr gehört, dieses in das Leben der großen Körperschaften des deutschen Reichs und dieses schließlich in das Leben der großen europäischen Staatenfamilie. Gehen wir weiter, so mündet das Leben Europa’s in das Leben der ganzen Erdbevölkerung.

Ihr seht, deutsche Arbeiter, aus welcher Unmasse von individuellen und Corporationsbestrebungen das Leben der Menschheit erzeugt wird oder mit einem Wort: das Leben der ganzen Menschheit ist die Resultirende aus den Bestrebungen aller einzelnen Men|schen,

ii384 die in jedem gegebenen Augenblick einen ganz bestimmten Charakter haben, einen Charakter, dessen Thaten alle, alle nothwendig sind.

Ich glaube, daß ich sehr klar gesprochen habe und mich Jeder von euch verstanden hat. Trotzdem will ich euch den sehr wichtigen Sachverhalt an einem Beispiel nochmals klar machen.

Denkt euch zuerst: Fürst Bismarck stürbe plötzlich, und denkt euch dann: er leite noch volle zwanzig Jahre das deutsche Reich. Würde die Menschheitsbewegung im ersten Falle dieselbe sein wie im letzteren?

Nein! Sie würde eine ganz andere sein.

Und ebenso gewiß ist, daß, wenn jetzt einer von euch stürbe, so unbedeutend ihr auch als Einzelne seid, der Gang der Menschheit ein anderer werden würde, als wenn er leben bliebe.

Ihr seht also ganz deutlich, daß in diesem großartigen Zusammen- und Gegeneinanderwirken, kurz im Kampf um’s Dasein, den die Einzelnen wie die Staaten führen, jeder bestimmte einzelne Staat eine ganz bedeutende Rolle spielt: er hilft das Schicksal der Menschheit gestalten.

Ihr seht ferner, daß es von der höchsten Wichtigkeit ist, wie sich das innere Leben eines Staates gestaltet, denn die Resultirende aus diesem inneren Leben bestimmt im Wesentlichen die auswärtige Politik eines Staates.

Ihr seht schließlich, daß es von der höchsten Wichtigkeit ist, wie sich das Leben jedes einzelnen Menschen gestaltet, denn die Bewegung der Menschheit ist, wenn man die Corporationen überspringt, die Resultirende aus den Bestrebungen aller Menschen. Es ist ganz gewiß nicht nebensächlich, ob auch nur ein Einziger von euch diesen Saal heute anders verlasse, als er ihn betreten hat; denn aus dieser Veränderung seiner Denkungsart würden ganz unberechenbare Folgen für die gesammte Menschheit fließen.

Aus allem Diesem werdet ihr mit einiger Aufmerksamkeit entnehmen, daß die Bewegung der Menschheit keine zufällige, sondern eine durchaus nothwendige, unaufhaltsame, unabänderliche, eine ganz bestimmte Bewegung ist. Sie ist das eiserne Schicksal der Menschheit.

Was ist nun das Ziel der Menschheit, so weit es euch interessiren kann, deutsche Arbeiter?

ii385 Es ist der ideale Staat, der Staat, in dem jeder Bürger alle Segnungen der Cultur durch eine unübertreffliche Organisation der vom Kapital emancipirten Arbeit erfahren wird. In ihm wird die Menschheit so leidlos sein, wie sie es eben sein kann.

Bringen wir nun schließlich das unabänderliche, allmächtige, eiserne Schicksal der Menschheit in Verbindung mit diesem Ziele, mit dem idealen Staate, so gewinnen wir die Religion oder besser die Philosophie des Arbeiters.

Deutsche Arbeiter! prägt euch genau ein, was ich euch jetzt sage.

Die unabänderliche, allmächtige Bewegung der Menschheit nach dem idealen Staate ist der Athem der Gottheit, an den ihr nicht glauben müßt, sondern den ihr erkennt, weil er sich allen eueren Sinnen, euerer ganzen Vernunft fühlbar macht.

Und diesem göttlichen Athem, diesem heiligen Geist, der »brütend mit Taubenflügeln« die Menschheit umschließt, müßt ihr euer Herz vollständig bloß legen, damit er es mit warmer Liebe erfülle, und es durchbrause und durchsause als helle lodernde Begeisterung. Ich fordere dies von euch in dieser feierlichen Stunde; ich fordere unbedingte Hingabe an diesen Geist; ich fordere einen beständigen – hört ihr? – einen beständigen Gottesdienst von euch.

So kommen wir wieder auf Das zurück, wovon wir ausgegangen sind, nämlich auf die Einwürfe, daß die dunklen Triebe des Menschen, im Fortschreiten der Menschheit, in Geist umgesetzt würden und daß das Weltbürgerthum über den Patriotismus zu stellen sei.

Ist es noch nöthig, daß ich die Einwürfe widerlege? Gewiß nicht. Trotzdem will ich es thun.

Es ist ganz unzweifelhaft, daß im Fortschreiten der Menschheit alle Triebe des Blutes, welche man gewöhnlich Instinkte nennt, wie Mutterliebe, Vaterliebe, Kindesliebe, Freundschaft, Vaterlandsliebe, Barmherzigkeit u.s.w. sich immer mehr schwächen werden. Warum? Weil sich in dem Maße, als die Vernunft sich entwickelt, auch die äußeren Werke der Vernunft, die Institutionen, sich entwickeln, welche die Erhaltung des Einzelnen sichern. Die Mutterliebe ist jetzt noch nöthig, weil in der heutigen Ordnung der Dinge das Neugeborene untergehen würde, wenn es die Mutter nicht auf dämonischen Antrieb schützte und pflegte. In einigen hundert Jahren dagegen ist sehr wahrscheinlich keine Mutterliebe mehr unter den |

ii386 Menschen, weil der Staat den Schutz und die Pflege des Kindes durch unübertreffliche Einrichtungen übernommen haben wird. Und ebenso ist sehr wahrscheinlich in einigen Jahrhunderten keine Vaterlandsliebe mehr nöthig, weil dann die Einzelstaaten in einem Bunde leben werden, welcher den Patriotismus überflüssig macht.

Aber, deutsche Arbeiter, wie heutzutage noch die Mutterliebe nöthig ist, so ist auch heutzutage noch die Vaterlandsliebe nöthig, und zwar eine Vaterlandsliebe, die wahnsinnige Leidenschaft ist.

Seid vernünftig, deutsche Arbeiter! Verlangt nicht im Mai von einem Apfelbaum reife Früchte.

Ganz ebenso zerstöre ich den zweiten Einwurf vermittelst unserer bisherigen Untersuchungen. Heutzutage entspringt noch die Bewegung der Menschheit aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken, oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, aus der Cooperation und dem Antagonismus großer Staaten, und deshalb hat sich jeder Vernünftige an sein Vaterland mit aller Kraft seiner Seele zu klammern, damit dieses Vaterland im Riesenkampfe der Nationalitäten das kräftigste Land sei.

In einigen hundert Jahren mag, wie schon bemerkt, alles Dieses anders sein; da mag der Patriotismus ganz unzeitgemäß, ja die reine Narrheit sein; heutzutage aber, deutsche Arbeiter, – haltet es ja recht fest – ist der blinde Patriotismus der Bürger die Existenzbedingung eines Staates und das Weltbürgerthum eine Narrethei, ja ein Verbrechen.

Das Wohl der Menschheit, wie ich euch schon mehrmals sagte, wird heutzutage ganz von selbst gefördert durch die Hingabe an den Einzelstaat. Je glühender ihr in unserer Geschichtsperiode Deutsche und nur Deutsche seid, desto mehr thut ihr für die Menschheit; und je mehr ihr einfältige, verduselte Allerweltsschwärmer seid, desto langsamer bewegt sich die Menschheit und – im innigsten Zusammenhang damit – desto später tritt der ideale Staat, den ihr Alle doch so sehnlichst wünscht, in die Erscheinung. Ich spreche es daher auch unumwunden aus: Wer heutzutage in erster Linie ein Weltbürger ist, der verräth nicht nur sein Volk, sondern auch die Menschheit: er ist durch und durch, jeder Zoll an ihm ist ein Judas Ischarioth. –

Und wieder sieht mein inneres Auge den blassen Schatten Ferdinand Lassalle’s in diesem Saale mitten unter uns.

ii387 In seinem Geiste will ich euch jetzt die wichtige Frage beantworten:

Was ist die Mission des deutschen Volksgeistes, die er für die Menschheit – merkt es wohl – für die Menschheit zu vollbringen hat?

Erinnert euch aus meiner ersten Rede, mit welcher Glut und Kraft Lassalle den Gedanken seines großen Lehrers Fichte:

daß das deutsche Volk nicht nur ein nothwendiges Glied in der Entwickelung des göttlichen Weltplans sei, wie jedes andere, sondern gerade dasjenige, welches allein den Boden darstelle, worauf das Reich der Zukunft, das Reich der vollendeten Freiheit gebaut werden könne,

umfaßt hatte; mit welcher Innerlichkeit und welchem tiefem Ernste er sich diesem Gedanken hingab, mit welcher Begeisterung er ihn weiter trug und weiterbildete: weil eben die eigenste Ueberzeugung des echten deutschen Patrioten Lassalle und die hohe Auffassung, welche der geniale philosophische Politiker Fichte von der Deutschen Bestimmung im Beruf der Völker hatte, einander vollständig deckten.

Es würde mich zu weit führen, deutsche Arbeiter, wollte ich euch umständlich aus den Werken Fichte’s entwickeln, warum er dem deutschen Volke eine solche hohe Bestimmung, den denkbar höchsten Beruf eines Staates zusprach. Ich will nur kurz die Momente seiner Begründung berühren.

Zunächst betont er die Wichtigkeit des Umstandes, daß wir Deutsche eine unvermischte Ursprache sprechen, wodurch die Entwickelung des deutschen Volksgeistes eine einheitliche, aus sich allein heraus gewordene sei. Die deutsche Nation steht mit ihrer stolzen Sprache unter den anderen Nationen Europa’s wie ein ursprünglich edler Obstbaum unter solchen, die entweder wilde oder gepfropfte Obstbäume sind. Fichte bemerkt, daß uns dies ein außerordentlich großes geistiges Uebergewicht über sämmtliche anderen Nationen geben müsse, und er hat Recht.

Nicht wahr, deutsche Arbeiter, das überrascht euch, wenn ihr bedenkt, wie gedankenlos ihr euere herrlichen, kräftigen Dialekte sprecht. Es überrascht euch geradeso wie meine Aussage, daß die Luft der Heimath eine andere sei, als die in St. Petersburg oder in Paris. Möge euch dieses Erstaunen sammeln und verinnerlichen. |

ii388 Es ist die höchste Zeit, daß der Stolz, ein Deutscher zu sein, in euch geboren wird, damit ihr endlich aufhört, die europäischen Lakaien zu sein, über deren Köpfe verächtlich die Herren Italiener, Franzosen, Engländer und Russen hinwegschreiten. Die Hausknechtsschürze und die Schlafmütze endlich ab! rufe ich euch mit feierlichem Ernste zu. Es ist besser, ihr schlagt in das Gegentheil um und werdet hochmüthig, als daß ihr fortfahrt, den Speichel anderer Nationen zu lecken. Denkt an Wörth, Gravelotte und Sedan und werft den Kopf so weit in den Nacken zurück als es die Biegsamkeit euerer Halsmuskeln erlaubt. Kein albernes Erröthen mehr auf eueren Wangen, sondern selbstbewußten Stolz im leuchtenden Auge – so will ich euch fortan sehen, deutsche Arbeiter!

So wichtig indessen der Umstand ist, daß wir eine unvermischte Ursprache sprechen, so giebt er doch keineswegs den Ausschlag. Weit wichtiger ist der andere, daß das deutsche Volk vor 1870 kein deutsches Territorium hatte. Unser Volk irrte, wie Lassalle in seiner schönen Rede zum Gedächtniß Fichte’s sagte:

umher, wie ein abgeschiedener Geist, bestehend in einer bloßen geistigen Innerlichkeit und lechzend nach einer Wirklichkeit, nach dem deutschen Territorium, der deutschen Einheit.

(34.)

Wir hatten deutsche Kaiser im Mittelalter und dann einen deutschen Bund, aber das waren nur künstliche äußere, keine national- organischen Formen. Wir hatten ein bayerisches, ein preußisches, ein österreichisches, kein deutsches Vaterland.

Wo dieses Fürsten Macht zu Ende ging, da ging dieses Volkes Sprache und Geist nicht zu Ende; wo dieses Fürsten Schalten seine Grenze erreichte, da ging dieser Volksgeist, seine Cultur und Gesittung weiter.

(ib. 30.)

Mit 1870 sind wir aber als eine ganz neue Nation auf der Weltbühne aufgetreten, als ein Volk, das durch keine einheitliche Geschichte gemacht oder gebunden ist, sondern wir sind wie vom Himmel in vollster Manneskraft gefallen, während alle Völker, die uns umgeben, die Ketten ihrer Ueberlieferung, ihrer Vergangenheit tragen und von denselben zu Boden gedrückt werden. Wir haben Flügel, die anderen Nationen keine, die deutsche Nation steht in Europa wie ein gewappneter Riese zwischen Greisen und Kindern.

ii389 Deutsche Arbeiter! Blickt auf euere Nation, die sich endlich den nationalen Boden nur mit ihren Armen, auch mit eueren Armen, errungen hat, die gleichsam aus Nichts zu einer Nation geworden ist und werdet trunken, – es wird ein »göttlicher Rausch« sein und dieser Rausch wird euch ehren.

Wie ich euch schon bemerkte, war es Fichte versagt, es war auch Lassalle versagt, die deutsche Einheit zu sehen. Fichte konnte mithin nur prophetisch von ihr sprechen. So hört denn, was der gewaltige Denker sagte:

Dieses Postulat (d.h. diese Forderung) von einer Reichseinheit, eines innerlich und organisch durchaus verschmolzenen Staates darzustellen, sind die Deutschen berufen, und dazu da im ewigen Weltplane. In ihnen soll das Reich ausgehen von der ausgebildeten persönlichen Freiheit, nicht umgekehrt: – von der Persönlichkeit, gebildet für’s Erste vor allem Staate vorher, gebildet sodann in den einzelnen Staaten, in die sie dermalen zerfallen sind und welche, als bloßes Mittel zum höheren Zwecke, sodann wegfallen müssen.

Und so wird von ihnen aus erst dargestellt werden ein wahrhaftes Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, in aller der Begeisterung für Freiheit des Bürgers, die wir in der alten Welt erblicken, ohne Aufopferung der Mehrzahl der Menschen als Sklaven, ohne welche die alten Staaten nicht bestehen konnten: für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles Dessen, was Menschengesicht trägt. Nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen großen Zweck da sind und ihm langsam entgegen reifen; – ein anderes Element für diese Entwicklung ist in der Menschheit nicht da.

(Staatslehre, IV. S. 423.)

Habt ihr verstanden, deutsche Arbeiter?

Fichte sagt also, daß gar kein anderes Volk, als das deutsche, auf der ganzen weiten Erde vorhanden sei, welches den idealen Staat gründen könne; weder können es die Franzosen, noch die Engländer, noch die Russen, nur die Deutschen können das Reich der Zukunft gründen, und Fichte hat Recht.

Was thut ihr dagegen? In völliger Herzens- und Geistesverfinsterung schielt ihr nach Westen, wo bekanntlich die echte Sonne nicht aufgeht, sondern nur die Aftersonne, der Mond mit erborgtem Lichte; ihr schielt nach Paris, der kräftige deutsche |

ii390 Mann will die gebratene Taube von einem zitternden Greise empfangen – o ihr Thoren! Ihr Lakaien!

Was würden wohl Fichte und Lassalle machen, wenn sie aus der ewigen Ruhe leibhaftig in Deutschland wieder erscheinen könnten? Hierauf giebt es nur eine Antwort. Fichte würde ein Schwert ergreifen und Lassalle eine Peitsche aus Nilpferdhaut, und beide würden ein furchtbares Gericht über euch halten, während ihr Gesicht ein Strom von Zornesthränen benetzte.

Merkt euch, deutsche Arbeiter, was ich euch sage – merkt es genau und sollten auch meine Worte in euere Wunden, die euch die politischen Lügner geschlagen haben, wie glühende Bleitropfen fallen:

Nicht die Franzosen werden euch, sondern ihr werdet den Franzosen die sociale Emancipation bringen.

Ich wette meine ganze Existenz gegen Nichts, daß Deutschland der Führer der Menschheit bis zum idealen Staate sein wird. Die Rolle der romanischen Nationen ist zu Ende.

Ob ihr wollt oder nicht wollt, deutsche Arbeiter, ihr müßt an der Spitze der europäischen Nationen marschieren. Warum? Weil die Bewegung der Menschheit keine zufällige, sondern eine durchaus nothwendige ist, weil die Führerschaft von Geschichtsperiode zu Geschichtsperiode wechselt und weil diese Führerschaft für die nächste Geschichtsperiode unter Blitz und Donner auf Deutschland übergegangen ist. Ob sich auch die ganze Socialdemokratie, ihren Meister Lassalle und seine Lehre vergessend, und sein Andenken bespeiend und mit Füßen tretend, wie eine Heerde hungriger Wölfe über das deutsche Reich stürzte, um es zu zerreißen, – es wird nicht zerrissen werden, ganz bestimmt nicht, – bei Gott dem Allmächtigen, es wird nicht zerrissen werden.

An dieser Stelle angelangt, frage ich euch mit bangem Ernste: wollt ihr zu der Fahne Lassalle’s, der makellosen Fahne des großen deutschen Patrioten zurückkehren, oder wollt ihr an den Rockschößen der Franzosen hängen bleiben, Wörth, Gravelotte und Sedan vergessend? –

Wollt ihr Lassalle oder die vaterlandslosen Helden der Internationalen?

Ihr ruft: Lassalle!

Gut, so werde ich fortfahren. Hättet ihr nicht mit dieser Ein|müthigkeit,

ii391 die euch im höchsten Grade ehrt, Lassalle gerufen, so würde ich mich zurückgezogen haben, um nie mehr vor euch zu erscheinen. Ich hätte mich im Bewußtsein, meine Pflicht gethan zu haben, mit ertödtetem Mitleid in meine Individualität zurückgezogen, die mir vollkommen genügt.

Ich fahre also fort und beginne die Fortsetzung meiner Rede mit der Frage: Was muß der deutsche Arbeiter auf rein politischem Gebiete thun – das sociale berühren wir später – wenn er seinen großen Vorbildern Fichte und Lassalle nachfolgen will, was muß der deutsche Arbeiter thun, um die Mission seines Vaterlands zu fördern?

Was der deutsche Arbeiter vor Allem zu thun hat, das ist, daß er seine Feindschaft gegen das mit dem Blute der Deutschen errungene kostbare deutsche Reich vollständig aufgebe. Und nicht nur muß er diese Feindschaft aufgeben, sondern er muß auch in der reinsten Liebe zum deutschen Staate erglühen. Er muß über diesem jungen Reiche schützend wachen, wie die Mutter über ihrem Kinde in der Wiege: liebevoll, hingebend, aufopferungsfähig.

Er muß diesem jungen deutschen Staate jeden Blutstropfen in seinen Adern weihen, jeden Gedanken ihm widmen. Er muß in sich den Funken der natürlichen instinktiven Heimathsliebe zur hochlodernden Flamme der bewußtesten, verzehrendsten Vaterlandsliebe anfachen.

Er muß schließlich Jeden rücksichtslos zusammenschlagen, der dieses junge deutsche Reich beschimpft, verkleinert, oder gar verrathen will. Und wäre ein solcher Hallunke so groß und kräftig wie der Riese Goliath und Der, welcher in heiligem Zorne gegen ihn aufsteht, so klein wie David – er sei getrost: der Geist Fichte’s und der Lassalle’s werden seinen Arm führen und der Riese wird fallen.

Jetzt tritt aber der Geist Lassalle’s mit der ernsten Forderung an uns heran, auf rein politischem Gebiete sehr praktische Leute, keine einfältigen Phantasten zu sein. Wir haben deshalb festzustellen, was auf dem rein politischen Gebiete unserer Zeit die Hauptaufgabe eines deutschen Arbeiters ist.

Ich erinnere euch an unseren obigen Gedankengang. Ich habe euch gezeigt, wie die Bewegung der europäischen Völker das Ergebniß aus allen Einzelbewegungen ist. Das müßt ihr fest halten. Seitdem das deutsche Reich erstanden ist, ist die Bewegung der |

ii392 europäischen Menschheit eine wesentlich andere als die vorhergegangene geworden. Kein Wunder! Wo früher das seichte Bächlein des deutschen Bundes seinen dünnen schwachen Strahl in die allgemeine Bewegung unseres Welttheils einfließen ließ, stürzen sich jetzt die rauschenden schäumenden Fluten des deutschen Reichs in die Tiefe und bestimmen den Lauf des Ganzen.

Ich erinnere euch ferner daran, daß wir in einer Zeit leben, wo die Nationen Europa’s noch streng gesonderte Staaten mit besonderen Interessen, besonderer Sprache, besonderer Sitte, besonderer Geistes- und Herzensbildung sind. Die Zeit, wo alle diese schroffen Gegensätze abgeschliffen sein werden und die berühmte Eine Heerde ihren Schatten über die Erde werfen wird, liegt in ferner Zukunft: Nicht was sein sollte, sondern was thatsächlich ist, was im durchaus nothwendigen geschichtlichen Entwicklungsgang geworden ist, das müßt ihr in’s Auge fassen. Ihr müßt an den realen Inhalt unserer Tage treten und dürft nicht an den möglichen Inhalt der Tage des nächsten Jahrhunderts, ja nicht einmal der nächsten Jahrzehnte denken, wenn ihr nicht die fluchwürdigsten, bornirtesten Träumer sein wollt, welche je die Sonne beschienen hat.

Was lehrt uns nun die gegenwärtige politische Ordnung Europa’s? Sie lehrt uns, daß die großen politischen Fragen alle, alle ohne Ausnahme, nur mit dem Schwert entschieden werden können. Die Interessen sind zu verschiedenartig, als daß sie auf friedlichem Wege versöhnt werden könnten. Handelt es sich auch im Grunde genommen nur um dreierlei Interessen: das Interesse der slavischen Völker, das der germanischen und das der romanischen, – so genügen sie doch vollauf, um den Denker in eine Atmosphäre voll Pulverdampfs zu hüllen.

Ich wiederhole euch, deutsche Arbeiter: diese Verhältnisse sind wirkliche Verhältnisse, die ihre Existenz wie Felsen geltend machen und die so wenig vor den Seufzern und den frommen Wünschen gutherziger Utopisten verschwinden werden, wie die Alpen, wenn ihr sie anblast. Ich wiederhole euch ferner: je kräftiger durch euch das deutsche Reich in diese Kämpfe eintreten wird, desto mehr werdet ihr für die gesammte Menschheit thun, deren Bewegung im Grunde nur Eine ist.

Aus diesem eisernen militärischen Gepräge unseres Zeitalters ergiebt sich nun die praktische Hauptaufgabe des deutschen Arbeiters |

ii393 von selbst. Er darf sich nicht an den Haaren zum Militärdienst ziehen lassen, sondern muß mit jubelndem Herzen in heller lichter Begeisterung den Rock des deutschen Reichs anziehen, der nothwendigerweise in unserer Periode kein weißer Friedenstalar, sondern ein knapper enger Commißrock ist.

Ich weiß wohl, deutsche Arbeiter, daß sich die deutsche Jugend mit sehr wenigen Ausnahmen nur mit dem tiefsten Widerstreben in die nationale Wehrkraft einstellen läßt. Ich habe in dieser Hinsicht Erfahrungen gemacht, die mein Herz zerrissen haben: in meiner Erinnerung ruht mein Auge auch nicht auf einer einzigen Erscheinung mit vollem Wohlgefallen. Aber das soll, das muß anders werden. Wer darf euch den Widerwillen übel nehmen, wenn man bedenkt, daß ihr kein nationales Ziel habt, das euch erwärmt, daß ihr nicht wißt, welche hohe Aufgabe Deutschland zu erfüllen hat und daß ihr daher mit Nothwendigkeit auf einer falschen Bahn wandeln müßt, die euch Urtheilslosen fabelhaft dumme oder gewissenlose Verführer gezeigt haben? Nun aber habt ihr keine Entschuldigung mehr, weil ich euch die Augen geöffnet und die Wahrheit enthüllt habe. Denn jetzt habt ihr ein Ziel: den in den Falten des deutschen Reichs eingeschlossenen idealen Staat, das in die Falten des deutschen Reichs gehüllte Reich der Zukunft, welches Ziel, wenn ihr es mit klarem Geiste erfaßt, euer Herz wie ein prasselnder Blitzstrahl entzünden muß. Nun habt ihr keine Entschuldigung mehr, denn ich habe euch gesagt, daß von euerer glühenden Hingabe an den deutschen Staat die Erlösung der Menschheit abhängt. Ich habe es euch in einer Weise bewiesen, daß es ein Kind hätte begreifen müssen.

Ich kann euch hier nicht in mein Privatleben blicken lassen. Ich bitte euch deshalb, mir auf mein einfaches Ehrenwort hin zu glauben, daß kein Einziger mit größerem Recht als ich euch ermahnen dürfte, mit voller Liebe euere Kraft der nationalen Wehrkraft hinzugeben, denn ich habe dieser nationalen Wehrkraft freiwillig, absolut freiwillig, das Opfer gebracht, das ihr mit grollendem Herzen bringt. Ich habe unter Umständen die Last des Militärdienstes, und zwar des schwersten Militärdienstes in jeder Hinsicht, auf mich genommen, die nur Der ertragen kann, dessen Kräfte durch die Begeisterung verzehnfacht sind. Diese Versicherung muß euch genügen; ich kann nicht deutlicher sein.

ii394 Wer aber streng, unerbittlich streng gegen sich selbst ist, der darf auch das Schwerste von Anderen fordern. Und so fordere ich euch nochmals auf: mit der größten Liebe, in wahrer Begeisterung, mit flammendem Herzen dem Vaterland das schwere Opfer des militärischen Dienstes zu bringen. Indem ihr es thut, indem ihr leidet, dient ihr, – was ihr niemals vergessen wollt, – der Menschheit, und Lassalle segnet euch aus lichten Höhen.

Oder glaubt ihr vielleicht, daß Lassalle, wenn ihm vergönnt gewesen wäre, das große Jahr 1870 zu erleben, Herrn von Bismarck Opposition gemacht hätte? Er hätte euch eine Rede gehalten, neben welcher alle seine bedeutenden Reden, die wir zu besitzen so glücklich sind, sich ausgenommen hätten, wie ein vertrockneter Blumenstrauß neben einer thaufrischen duftigen Rose. Oder glaubt ihr vielleicht, daß Lassalle das glorreich erstandene deutsche Reich anfeinden würde, wenn er heute noch lebte? Er würde sich, wie Wilhelm der Eroberer auf den Boden Englands, auf diese heilige deutsche Erde werfen und rufen: Ich fasse dich, deutsches Reich, und niemals, niemals lasse ich dich! –

Die ersten Sätze eueres Programms, deutsche Arbeiter, haben demnach zu lauten:

1) Reiner Gottesdienst, d.h. volle Hingabe an die Bewegung der Menschheit nach dem idealen Staate.

2) Deutschland, Deutschland über Alles.

3) Begeisterungsvoller Militärdienst.

Diesen Sätzen füge ich noch einen hinzu, aber gleichsam in Klammern, denn ihr seid nicht berufen hohe Politik zu treiben, was ihr eueren Vertretern im Reichstag überlassen müßt; den Satz:

Das ganze Deutschland soll es sein;

oder mit Worten Lassalle’s:

Der Staatsbegriff Oesterreich muß zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt, seine Asche muß in alle vier Winde gestreuet werden!

(Der Ital. Krieg, 30.)

Damit ihr nun, deutsche Arbeiter, diese vier Forderungen, die ich an euch stelle, immer vor Augen und im Herzen habt, so rathe ich euch, keine euerer geselligen Zusammenkünfte vorbeigehen zu lassen, ohne die nachfolgenden zwei echten Volkslieder mit kräftiger Stimme gesungen zu haben:

ii395

Was ist des Deutschen Vaterland?

Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland?

Ist’s wo am Rhein die Rebe blüht?

Ist’s wo am Belt die Möve zieht?

O nein, o nein!

ein Vaterland muß größer sein.

 

Das ganze Deutschland soll es sein!

O Gott vom Himmel, sieh darein,

Und gieb uns rechten, deutschen Muth,

Daß wir es lieben treu und gut!

Das soll es sein,

Das ganze Deutschland soll es sein!

Und:

O du Deutschland, ich muß marschieren,

O du Deutschland, du machst mir Muth!

Meinen Säbel will ich schwingen,

Meine Kugel die soll klingen,

Gelten soll’s des Feindes Blut.

 

Nun ade, fahr wohl, feins Liebchen!

Weine nicht die Aeuglein roth.

Trage dieses Leid geduldig,

Leib und Leben bin ich schuldig,

Es gehört zum Ersten Gott.

 

Nun ade, herzlieber Vater!

Mutter, nimm den Abschiedskuß!

Für das Vaterland zu streiten,

Mahnt es mich nächst Gott zum Zweiten,

Daß ich von euch scheiden muß.

 

Auch ist noch ein Klang erklungen

Mächtig mir durch Herz und Sinn:

Recht und Freiheit heißt das Dritte,

Und es treibt aus eurer Mitte

Mich in Tod und Schlachten hin.

 

ii396 Deutsche Arbeiter! versprecht mir, daß ihr diese Lieder mit Bewußtsein, so oft ihr könnt, singen wollt. Ihr versprecht es? Gut. Euer Lohn dafür wird das Höchste auf Erden sein: ein warmes zufriedenes Herz.

Es ist ein Schrei der Versöhnung, der Einigung aller Parteien auf rein politischem Felde, den ich ausstoße, und seid gewiß, deutsche Arbeiter: wenn Lassalle lebte, so würde er ihn für mich ausstoßen.

Ihr seid am Rand des Abgrunds angekommen. Der Karren der Socialdemokratie könnte nicht verfahrener sein; er könnte nicht tiefer im Koth stecken, als dies jetzt der Fall ist. Und warum? Weil ihr von Lassalle abgefallen seid.

Lassalle sagte in seiner Rede an die Arbeiter Berlin’s in tiefster Entrüstung:

Was würden die Fortschrittler sagen, wenn ich ihnen hier in ihre Versammlungen eine Handvoll Arbeiter schickte, um sie durch »Hochs« auf mich zu unterbrechen?

(9.)

Und was habt ihr gethan? Der Leichnam Lassalle’s war, wie man zu sagen pflegt, noch nicht kalt geworden und schon stürmtet ihr in die Versammlungen der anderen Parteien, fuchteltet mit Knotenstöcken und brülltet wie wilde Thiere.

Lassalle hatte euch auf’s Nachdrücklichste ermahnt:

Wahrheit und Gerechtigkeit auch gegen einen Gegner – und vor allem geziemt es dem Arbeiterstand, sich dies tief einzuprägen! – ist die erste Pflicht des Mannes.

(Antwortschreiben, 10.)

Und wie habt ihr gehandelt? Ihr habt die Gegner verleumdet und mit Ungerechtigkeit überschüttet.

Lassalle hatte euch zugerufen:

Alle reellen Erfolge im Leben wie in der Geschichte lassen sich nur erzielen durch reelles Umackern und Umarbeiten, nie durch Umlügen.

(Was nun? 36.)

Und was habt ihr gethan? Ihr habt das deutsche Reich beschimpft und anstatt den errungenen Erfolg als Stützpunkt zu benutzen, um euch auf eine höhere Stufe der nationalen Leiter zu schwingen, habt ihr, verführt von gewissenlosen Menschen, nach Paris geschielt, auf ein absterbendes Volk. Anstatt zu arbeiten und zu »ackern« habt ihr das schwere Werkzeug verächtlich weggeworfen |

ii397 und seid dem bunten Phantom eines Weltbürgerthums nachgelaufen. Ihr Thoren! Die gebratenen Tauben fliegen heutzutage Keinem in den Mund – der ideale Staat und sein Weltbürgerrecht wollen erarbeitet, nicht erlogen sein.

Lassalle hatte euch zugerufen:

andere politische Parteien in solchen Punkten und Fragen zu unterstützen, in welchen das Interesse ein gemeinschaftliches ist.

(Antwortschreiben, 7.)

Ihr dagegen habt in furchtbarster Verblendung jeder anderen Partei principiell Widerstand gemacht.

Er hatte euch flehentlich gebeten:

Keinen Parteihaß! Ehrlichen Kampf!

Ihr aber ließet es euch immerdar angelegen sein, die Kluft, die euch von den anderen Parteien trennt, zu erweitern.

Ihr habt mit einem Wort, wie Petrus den Heiland, eueren Messias dreimal verleugnet, und zwar so weit wir setzt sind, zweimal – das dritte Mal werde ich gleich beleuchten – ihr habt den deutschen Patrioten Lassalle und den praktischen Politiker Lassalle verleugnet.

Schamröthe muß euch bedecken, Angst muß euch ergreifen, wenn ihr ein Gewissen habt; denn die Folgen eueres selbstmörderischen Verfahrens sind nicht ausgeblieben: ein Kind kann sie sehen.

Euere Partei wird von allen Parteien wie die Pest gemieden und mit Recht. Jeder Gute spürt sofort, daß euch jedes edlere Gefühl abhanden gekommen ist und nur viehische Begierde, die »nach den Schamtheilen und dem Magen« das menschliche Glück mißt, euch wild durchwogt. Wer euch aus den oberen Ständen helfen will, der ist genöthigt, über weinende und händeringende Eltern, über klagende Geschwister zu schreiten, weil man sein sicheres Verderben vor Augen sieht. Als Lassalle noch lehrte und kämpfte, da brachte man kein Opfer, als man sich in eine Bewegung stellte, welche sein edles Gepräge trug – der unabhängige Mann aber, der heutzutage in eueren Dienst treten will, der muß ein Halbgott, d.h. vom Leben und der Welt abgelöst sein.

Glaubt ihr, es gäbe nicht Tausende in den höheren Ständen, welche euch mit frohem Herzen ihre Hülfe schenkten, wenn es nur einigermaßen ginge? Ich gebe euch die Versicherung, daß es eine große Anzahl solcher Guten und Gerechten giebt, welche nur auf |

ii398 den Augenblick warten, wo ihr den falschen Weg verlasset und zur Lehre Lassalle’s zurückkehrt. Kehrt ihr um, so wird es ein Tag hoher Freude für diese Edlen sein, denn nun können sie bethätigen, was ihr Herz erfüllt.

Ich kenne wohl die Losung, die unter euch coursirt. Sie ist die dritte Verleugnung eures Messias, wie ich eben sagte, und lautet: Warum sollen wir versöhnlich sein und Anderen gute Worte geben? Warten wir noch ein Bischen, so bricht der Tag an, wo wir mit vierundzwanzigstündiger, heißer blutiger Arbeit mehr erreichen, als mit Millionen versöhnlicher Worte in zehn Jahren gesprochen.

Ihr armen Thoren! Ihr armen Verblendeten, die ihr »Kameele verschluckt und Mücken seiget«, die ihr Wollust in der Begattung mit Nebelbildern empfindet!

Ich wiederhole euch die bedeutenden Worte Lassalle’s:

Nur durch reelles Umackern und Umarbeiten sind reelle Erfolge zu erzielen, nie durch Umlügen.

(Was nun? 36.)

Zu dem reellen Umackern gehört aber vor Allem und Allem der nationale Boden, von dem ihr nichts wissen wollt. Es gehört ferner dazu der Verkehr mit den Hauptführern der anderen Parteien, die überzeugt sein wollen. Glaubt ihr, der verstorbene edle Waldeck oder der verstorbene edle Hoverbeck hätten ein Herz von Stein gehabt? Glaubt ihr, die Herren Lasker und Virchow, die Häupter der beiden großen liberalen Parteien, seien unempfindlich für die Leiden des Volks? Zeigt ihnen, daß ihr ehrliche Leute, praktische Politiker seid, tragt ihnen euere praktischen Wünsche auf dem sicheren Boden des Vaterlands mit der Beredtsamkeit eines großen Herzens vor und sie werden euch nicht nur helfen, sondern auch in euere Bataillone eintreten.

Zu dem Umlügen gehört aber vor Allem die Hoffnung auf einen gewaltsamen Umsturz. Glaubt ihr wirklich, die heutige Gesellschaft fürchte euch? Phantasten werden nie gefürchtet, wohl aber ernste kluge Politiker. Schlagt das erste beste statistische Handbuch auf, so werdet ihr finden, daß 50 % der Bevölkerung der Landwirthschaft dienen und höchstens 25 % der Industrie. Demgemäß ist auch das Heer aus 50 % Bauern und 25 % Handwerkern zusammengesetzt. Daß das thatsächliche Verhältniß im Heer wegen euerer schwächeren Körperconstitution und der stärkeren der Landbevölkerung ein viel ungünstigeres ist, will ich gar nicht berücksichtigen. |

ii399 Die 50 % Bauern gehören euch vorweg nicht, was man euch auch vorreden möge. Und nun haltet Umschau in eueren Reihen. Da findet ihr zunächst nur einen Bruchtheil, der euerer Partei angehört, und rechnet ihr von diesem Bruchtheil alle Diejenigen ab, welche geringen Muth haben oder durch eine der tausend Ketten des Gefühls und der Interessen an die höheren Stände gefesselt sind, so werdet ihr erschrecken vor der geringen Anzahl euerer unbewaffneten Bataillone.

Ehrliche Arbeit, deutsche Arbeiter! Ehrliches Umackern und Umarbeiten der realen Verhältnisse, deutsche Arbeiter! Kein Umlügen, deutsche Arbeiter! Glühende Hingabe an den göttlichen Athem in der Welt, an den deutschen Staat der Gegenwart, deutsche Arbeiter! Das rufe ich euch nochmals zu, jetzt, wo wir das rein politische Gebiet verlassen wollen. Ich rufe es euch zu, nur bewaffnet mit Waffen aus der Rüstkammer Lassalle’s, des Begründers euerer Partei, eueres Erlösers. Euere Bewegung, die so schön und vielversprechend begonnen hat, ist rückwärts gegangen anstatt vorwärts; ihr seid auf Abwege gerathen. Ermannt euch, erkennt die falsche Bahn und kehrt um. Dann – und nur dann – könnt ihr siegen, und daß ihr dann siegen werdet – das weiß ich.

Wir betreten den socialen Boden.

Erinnert euch, deutsche Arbe


Date: 2015-01-02; view: 842


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