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Uuml;bermütiger Diebstahl im Tiergarten

Hans Bender

Ein Bär wächst bis zum Dach

 

„Wie sahen die Jungen aus?“ fragte der Kommissar.

 

Der Wärter sagte: „Sie trugen blaue Hosen und gelbe Hemden; sie

waren so groß“ – und er hielt dabei die Hand über den Tisch.

 

„Sonst haben Sie keinen Anhaltspunkt?“

 

„Nein, sonst hab ich keinen Anhaltspunkt“, sagte der Wärter.

 

Am nächsten Tag stand in der Zeitung unter „Lokales“ mit fettgedruckter Überschrift:

 

Uuml;bermütiger Diebstahl im Tiergarten

Drei Jungen im Alter von 10 bis 12 Jahren gelang es gestern am späten

Nachmittag, den im März zur Welt gekommenen Jungbären Puh an

sich zu nehmen und zu entführen. Die Täter entkamen über den Zaun zur

Flussseite. Nach Aussagen des Wärters trugen die Jungen blaue Hosen und

gelbe Hemden. Der Verein für Tierschutz e. V. bittet die Bevölkerung, bei der

Suche behilflich zu sein und zweckdienliche Angaben an ihn direkt oder an

das nächstgelegene Polizeirevier zu machen.

Alle, die die Notiz gelesen hatten, sahen auf der Straße nach den Jungen aus.

Die Jungen klingelten mit ihren verchromten Fahrrädern durch die Stadt,

sie standen vor den Schaufenstern der Kinos und betrachteten die Cowboy-Plakate, sie lehnten vor der Eisdiele an der Mauer und redeten über die PS

 

der Autos und der Motorräder; auf den Wiesen, unten am Fluss, spielten sie

Fußball, im Vorort legten sie Konservendosen auf die Straßenbahnschienen;

sie trugen die Ledermappen zur Schule und Geigenkästen zur Violinstunde,

sie holten Romane von der Leihbibliothek und Kaugummi vom Kiosk, und

alle trugen blaue Hosen und gelbe Hemden, und niemand konnte gegen einen

Jungen eine Anzeige erstatten.

 

Mungo hatte am Morgen, als die Zeitung durch den Türspalt raschelte,

die Zeitung aufgeschlagen und die Notiz entdeckt.

 

Er ging in sein Zimmer zurück, nahm die Lederhose aus dem Schrank, zog

sie an und steckte sein kariertes Hemd in den Bund.

 

Seine Mutter sagte in der Küche: „Warum ziehst du schon jetzt die

Lederhose an? Es ist doch bitter kalt.“

 

„Gar nicht kalt“, sagte Mungo.

 

Er trank zwei Tassen Milch, aß ein Brötchen, und zwei steckte er, als seine

Mutter die Bettvorlage vom Balkon klopfte, in die Taschen.

 

Er lief durch die Straße, klingelte zweimal bei Simson und sah hinauf, bis

dessen blonder Kopf oben am Fenster erschien.

 

„Ich komme gleich!“ rief er von oben.

 

Als er aus der Tür kam, sagte Mungo: „Hast du die Zeitung gelesen?“

 

„Warum soll ich Zeitung lesen?“

 

„Es steht drin. Und wie wir angezogen waren, steht drin.“

 

„Wie wir angezogen waren –?“

 

„Blaue Hosen und gelbe Hemden.“



 

Mungo sah Simson an, und Simson sah an sich herab: Blaue Hosen –

gelbes Hemd.

 

„Zieh dich schleunigst um“, sagte Mungo. – „Und nimm was zu fressen

für ihn mit!“ rief er Simson nach.

 

Manfred wohnte vor der Stadt, in der Siedlung zwischen dem Gaskessel,

dem Stadion und dem Rangierbahnhof.

 

Im letzten Häuschen der Relaisstraße wohnte er bei seiner Mutter, die

immer im Bett lag.

 

Breitbeinig, die Hände in den Taschen seiner blauen Hose, stand er vor

dem Zaun.

„Ihr könnt es wohl nicht mehr erwarten, mit ihm zu spielen“, empfing er

die beiden.

 

„Das auch“, sagte Mungo. „Aber zuerst musst du eine andere Hose und ein

anderes Hemd anziehen.“

 

„Warum?“

 

„Es steht in der Zeitung! Die Täter trugen blaue Hosen und gelbe Hemden.“

 

„Los, zieh was anderes an“, sagte Simson.

 

„Ich hab nichts anderes“, sagte Manfred.

 

Im Schuppen, hinten im Garten, zwischen Holzstapeln, Brettern, einem

zersprungenen Fass, einem verrosteten Bettgestell, zwischen Autoreifen,

Kübeln und Eimern, dem Kaninchenstall und der verdrahteten Kiste mit den

Meerschweinchen hatten sie den kleinen Bären versteckt. Zur Kugel gerollt

lag er auf der Erde. Er äugte zu ihnen herauf, streckte die Tatzen vor und

leckte sie mit tiefem Gebrumm. Er erhob sich und trottete zu Mungo, der

ihm ein Brötchen vorhielt. Er schnappte danach, doch es fiel ihm zwischen

die Tatzen. Er nahm es von der Erde auf, und in zwei, drei Sekunden hatte er

es verschlungen.

 

Mungo gab ihm das zweite Brötchen. Simson zog ein belegtes Brot aus der

Tasche, und Manfred brachte eine Schüssel voll Milch aus dem Haus.

 

Nichts blieb übrig.

 

Puh, der Bär, reckte und streckte sich. Er gähnte. Er rieb sein dickes,

braunschwarzes Fell am Fuß, dass er umfiel. Er kugelte auf den Rücken. Er tappte

rückwärts. Er hatte es gern, wenn ihm die Jungen durch das Fell strichen.

 

Nein, niemand hatte ein schöneres Spielzeug!

 

Die Tage waren für die drei zu kurz, mit Puh zu balgen, Löwenzahn, Mäuse,

Milch und Brötchen für ihn zu besorgen, ihm zuzusehen und zu lachen.

 

Als die Ferien zu Ende gingen, war Puh so groß wie ein Pudel.

 

Eines Morgens, als Manfred in den Schuppen kam, fand er den Bären,

wie er den Draht vom Kaninchenstall riss. Das weiße Kaninchen saß in der

hintersten Ecke der Kiste und sah mit großen ängstlichen Lichtern zu ihm

her.

 

Das schwarze Kaninchen war verschwunden.

 

Manfred nagelte die Lücke zu. Er suchte das schwarze Kaninchen zwischen

den Holzstapeln, den Brettern, den Autoreifen, den Kübeln und Eimern. Er

suchte es im Garten und fand es nicht.

 

Dann erst sah er die Blutflecken auf der Erde und am Fell des Bären.

 

Als Mungo und Simson kamen, sagte Manfred: „Er hat das schwarze

Kaninchen gefressen!“

 

„Das kann nicht sein!“ sagte Mungo.

 

„Aber, wo ist es denn? Hab ich’s vielleicht gefressen?“

 

„Es ist weggelaufen“, sagte Simson.

 

„Ich habe überall gesucht.“

 

Puh stieß die Schnauze an Manfreds Bein. Er ließ sich hinterrücks umfallen.

 

Sie lachten wieder. Sie spielten einen Nachmittag lang mit ihm.

 

Einmal aber schlug er seine Vordertatze auf Mungos Rücken und kratzte

mit seinen Krallen fünf rote Risse in die Haut.

 

Drei Tage später war auch das weiße Kaninchen weg. Die Kiste der

Meerschweinchen lag auf der Erde. Der Draht hing zerrissen, und die

Meerschweinchen waren verschwunden, bis auf eines, das tot unter Puhs

Tatzen lag. Manfred lief zu Simson. Sie liefen zu Mungo, und alle drei liefen

zurück zum Schuppen, wo der Bär zwischen dem Gerümpel stand. Aufrecht

stand er da, fest auf den Hinterbeinen. Er war so groß wie Manfred, der

kleinste der drei, und sie fürchteten sich.

 

Mungo sagte: „Der wächst bis zum Dach.“

 

„Sicher wächst er bis zum Dach“, sagte Simson.

 

„Darüber hinaus“, sagte Manfred.

 

Und sie wagten nicht mehr, mit ihm zu spielen.

 

„Wir melden es der Polizei“, sagte Manfred.

 

„Du spinnst“, sagte Mungo.

 

„Da wären wir schön dumm“, sagte Simson. „Lieber bringen wir ihn in der

Nacht zurück.“

 

„Ich nicht! Nein, ich rühre den Kerl nicht mehr an!“ sagte Manfred.

 

„Nur weil er deine ollen Meerschweinchen verschlungen hat?“

 

„Und die Kaninchen“, sagte Manfred.

 

„Die blöden Kaninchen.“

 

„Ich mag ihn nicht mehr sehen“, sagte Manfred.

 

Mit hängenden Köpfen gingen sie auseinander.

 

Am nächsten Tag kam Mungo allein. Er brachte ein Stück gebratenes

Fleisch mit, das er in hohem Bogen zu Puh hineinwarf.

 

Bald blieb auch er aus.

 

Am Abend ließ Manfred die Tür des Schuppens offen. Lange lag er wach

und dachte immerfort: Am besten, wenn er wegläuft – am besten, wenn er

wegläuft.

 

In der Nacht blieb alles still.

 

Und doch war der Bär am Morgen fort.

 

Manfred ging zur Schule wie jeden Tag.

 

Die Lehrerin fragte: „Wo entspringt der Rhein?“

 

Sie kam durch die Reihen zu Manfreds Bank und fragte nochmals:

„Manfred, wo entspringt der Rhein?“

 

Er hörte die Frage erst, als die Lehrerin sie wiederholte und ihm dabei mit

den Fingerspitzen an die Brust tippte.

 

„Woran denkst du schon wieder, Manfred?“

 

Er fuhr auf. Alle Buben und Mädchen hatten die Gesichter zu ihm gedreht.

 

„Wo der Rhein entspringt, habe ich gefragt!“

 

„Ich weiß es nicht“, sagte Manfred.

 

Theo wusste es. Er leierte herunter: „Es gibt einen Vorderrhein und einen

Hinterrhein. Sie entspringen am St. Gotthard. Das ist ein Berg in den Alpen.

 

Der St. Gotthard ist 3197 Meter hoch.“

 

Gegen Abend gingen Fräulein von Osten und Fräulein Lortzing, die

Klavierlehrerin, im Stadtpark spazieren.

 

„Die Astern blühen schon“, sagte Fräulein von Osten.

 

„Ach, die Astern“, seufzte Fräulein Lortzing. „Astern machen so traurig.

Astern bedeuten Herbst.“

 

„Aber doch nicht für Sie, Gertrude“, sagte Fräulein von Osten.

 

Unter solchen Gesprächen wandelten sie den Pfad zum Goldfischteich hinab.

 

Wo der Pfad durch die Tannen führt, stand ein Bär. Er hob die Tatzen

hoch und sperrte das Maul auf.

 

Die beiden Fräuleins ließen die Handtaschen und Schirme fallen und

liefen laut schreiend den Pfad zurück.

 

„Hilfe! Hilfe! Ein Bär!“

 

Die Leute, die vor dem Konzertpavillon auf den Bänken saßen, sprangen

auf, ihnen entgegen.

 

„Ein Bär! Ein Bär!“ schrien die Fräulein grell.

 

„Aber meine Damen“, sagte ein dicker Herr, „im Stadtpark gibt es doch

keine Bären. Sicher war es ein Hund, ein großer, zottiger Hund.“

 

„Nein, ein Bär“, sagte Fräulein Lortzing.

 

„Ich schwöre, ein Bär“, sagte Fräulein von Osten.

 

Ein Polizist kam von der Straße herüber. Er sagte: „Es ist schon möglich,

dass es ein Bär ist.“

 

Die beiden Fräulein mussten mit zur Wache gehen. Sie wollten weinen,

doch sie hatten keine Taschentücher, in die sie hätten weinen können, deshalb

lächelten sie nervös.

 

Am nächsten Morgen wurde Puh, der Bär, von den Feuerwehrleuten und den

Wärtern des Tiergartens eingefangen und in den Zwinger zurückgebracht.

 

Die Bärin beschnupperte ihn von allen Seiten. Sie trottete einige Male um

ihn herum, dann legte sie ihre vier Tatzen um Puh, und auch die Schnauze

deckte sie noch über ihn.

 

Wie in einer Wiege lag Puh bei ihr.

 

Die Mitglieder des Tierschutzvereins und mehr Besucher als sonst kamen,

den eingefangenen Bären zu sehen. Sie warfen Brötchen, Bonbons, Äpfel und

Bananenstücke hinab. Sie riefen: „Mach bitteschön!“ Aber es dauerte eine

Weile, bis die beiden unten sich stören ließen.

 

Auch Mungo, Simson und der kleine Manfred kamen in den Tiergarten,

den eingefangenen Bären zu sehen. Als sie sich über die Mauer des Zwingers

lehnten, kam der Wärter Greiner von der Seite, sah die drei an und sagte: „Ihr

kommt mir so bekannt vor.“

 

Ihre Gesichter wurden weiß. Sie spannten die Beinmuskeln, wegzulaufen,

doch Mungo sagte schlagfertig: „Sicher bekannt. Wir gehen nämlich öfter in

den Zoo. Wir haben Tiere gern.“

 

„Vor allem kleine Bären“, sagte der Wärter.

 

„Auch andere Tiere“, sagte Mungo.

 

„Kaninchen und Meerschweinchen“, piepste Manfred.

 

„Hoffentlich habt ihr sie nicht zu gern“, sagte der Wärter.

 

„Nein, das bestimmt nicht“, sagte Mungo.

 

Der Wärter blieb noch ein paar Sekunden stehen, dann ging er weiter.

 

Die drei atmeten wieder.

 

Sie sahen hinab zu Puh, der die tollsten Späße vollführte.

 

Aber so sehr sie auch riefen, nicht einmal sah er zu ihnen herauf.

 


Date: 2015-12-24; view: 1223


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