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Das Trauma überwinden

VON MARTIN SPIEWAK

DIE ZEIT Nº 18/2014

 

Wenn Eltern sich trennen, sind Kinder häufig die Leidtragenden. Endlich drängen Familiengerichte und Jugendämter die Mütter und Väter, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.

Am vergangenen Sonntag war Leon bei seinem Vater. Er wollte lieber mit dem Papa Auto-Quartett spielen als mit der Mama zum Singen in die Kirche gehen. Dabei war Papa eigentlich gar nicht dran. Es war Mama-Wochenende. So hatte es das Familiengericht eben festgelegt: neun Tage Mama, fünf Tage Papa. "Dennoch hat die Mutter zugestimmt, einfach so", sagt der Vater. Und es hört sich an, als sei ihm ein Wunder widerfahren.

Auf bestimmte Weise ist es das auch. Was in einer Familie selbstverständlich sein sollte – ein Junge unternimmt spontan etwas mit seinem Vater, ohne die Mutter –, schien für den neunjährigen Leon und seine Eltern lange unerreichbar. Nach heftigen Krächen und einer Trennung im Streit lieferte sich das Berliner Paar noch eine jahrelange Fehde, Anzeigen bei der Polizei und einstweilige Verfügungen vor Gericht inklusive. Sie hätte den Exmann am liebsten am anderen Ende der Welt gesehen. Er wollte nicht bloß der Zahlpapa sein, der alle 14 Tage mal mit Leon in den Zoo geht. "Es herrschte Krieg", sagt Ingo Mintrupp*, der Vater. "Jeder Atemzug des anderen war falsch", sagt Friederike Pertuch, die Mutter.

Von ihren Konflikten reden sie heute in der Vergangenheitsform. Als Paar werden sie wohl nie wieder zusammenkommen und als Familie auch nicht. Aber beide versichern: "Heute können wir über Leon einigermaßen sachlich reden." Und das ist ungeheuer viel.

Es hat Zeit gebraucht, bis die beiden dazu fähig waren. Insgesamt fast fünf Jahre. Und es hat viele Helfer gebraucht, die sie dorthin brachten. Zählt man all die Juristen, Verfahrenspfleger, Sozialarbeiter, Mediatoren, Familientherapeuten und Kinderpsychologen zusammen, bemühten sich rund ein Dutzend offizielle Personen darum, zwei verfeindete Erwachsene im Interesse ihres Kindes zur Vernunft zu bringen. Sie alle hatten eine Botschaft: Eure Beziehung mag beendet sein, aber Eltern bleibt ihr ein Leben lang.

Kinder brauchen beide, die Mutter und den Vater, auch wenn die Familie auseinanderbricht. Die Forschung weiß das schon lange. Und auch die Trennungspaare selbst können sich dieser Erkenntnis immer schwerer entziehen. Tun sie es doch, werden sie von Jugendämtern, Beratungsstellen und Gerichten an ihre gemeinsame Verantwortung fürs Kind erinnert – wenn nötig, mit Druck.

An vielen Familiengerichten hat sich ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Die Richterbank ist zum runden Tisch geworden, der Richter zum Erzieher der Eltern. Statt wie in früheren Zeiten einer der Streitparteien die Schuld an der Scheidung und der anderen die Sorge für das Kind zuzusprechen, versuchen die Juristen heute das Gegenteil. Ob überhaupt einer und wenn ja, wer Schuld hat an der Trennung, darauf kommt es nicht mehr an. Heute geht es darum, sogar hassvoll ineinander verkrallte Paare dazu zu bringen, als Eltern wieder zu funktionieren.



Dabei gehen die Richter pragmatisch vor und lassen sich immer weniger von traditionellen Familienbildern leiten. Die Zeit, da der Mutterbonus den Kampf ums Kind entschied, geht zu Ende . Vermutlich gibt es von Gericht zu Gericht und von Region zu Region noch große Unterschiede bei der Entscheidungsfindung, und noch fehlen wissenschaftliche Studien darüber, ob Familienrichter in Berlin ihre Entscheidungen nach anderen Maßstäben treffen als ihre Kollegen in Bayern. Experten wie Thomas Meysen, Leiter des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht, sprechen aber bereits jetzt von einer "Erfolgsgeschichte" im juristischen Umgang mit der Scheidung. Gleichzeitig dient die neue Praxis als Beispiel für die Lernfähigkeit einer Gesellschaft im Angesicht eines Problems, das größer werden wird.

Jede dritte Ehe in Deutschland scheitert offiziell. Partnerwechsel gehören mittlerweile zum bundesrepublikanischen Alltag wie der Wechsel der Wohnung oder des Arbeitsplatzes. 140.000 Kinder verlieren dabei jedes Jahr den Zusammenhalt in ihrer Familie. Hinzu kommt noch die wachsende Zahl von Kindern aus den zerbrochenen Partnerschaften ohne Trauschein. Zwei Drittel der von Trennung betroffenen Kinder sind jünger als sechs Jahre.

Scheiden tut weh, am meisten den Kindern. Ihr Vertrauen in den ewig währenden elterlichen Schutz wird erschüttert. Müssen sie miterleben, wie der Vater oder (deutlich seltener) die Mutter aus der Wohnung auszieht, packt viele die Angst, selbst irgendwann alleingelassen zu werden. Oft geben sich Kinder selbst die Schuld am Zerwürfnis der Erwachsenen. Da drängt sich die Frage auf, welche Spuren ein derart einschneidendes Erlebnis in den Seelen der Betroffenen hinterlässt. Sabine Walper meint, weniger, als man denkt. Die Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München sagt: "Eine Trennung hat für Kinder langfristig weit geringere Auswirkungen als früher angenommen."

(http://www.zeit.de/2014/18/scheidung-kinder-beziehung-eltern)

 

 

"Kinder sind flexibel"

INTERVIEW: INGE KUTTER

DIE ZEIT Nº 18/2014, 3. Mai 2014

 

Familienrechtlerin Hildegund Sünderhauf über Alltagslösungen für Scheidungskinder und ihre Eltern.

DIE ZEIT: Lange Zeit zogen die Kinder nach einer Scheidung zur Mutter, zum Vater kamen sie ein paarmal im Monat zu Besuch. Warum hat hier ein Umdenken eingesetzt?

Hildegund Sünderhauf: Als ich Kind war, haben Mütter die Kinder betreut. Nach der Trennung blieben die Kinder bei der Mutter. Das war folgerichtig. Aber die Rollen haben sich gewandelt: Väter beteiligen sich an der Erziehung, Mütter gehen arbeiten. Warum sollten Eltern heute, wenn sie sich trennen, plötzlich zum überkommenen Muster der Hausfrauen-Ehe zurückkehren?

ZEIT: Die Lösung bringen soll das sogenannte Wechselmodell – die Kinder wohnen abwechselnd bei Mutter und Vater, zu zeitlich etwa gleichen Teilen. Was haben sie davon?

Sünderhauf: Für ein glückliches und stabiles Heranwachsen ist die Bindung zu beiden Eltern fundamental. Anders als im sogenannten Residenzmodell, wo Kinder bei einem Elternteil wohnen und den anderen nur besuchen, können sie im Wechselmodell eine gleich starke Bindung zu beiden Elternteilen entwickeln. Die Kinder zeigen nach der Trennung weniger Depressionen, bessere kognitive Fähigkeiten und mehr Lebenszufriedenheit als Kinder im Residenzmodell. Sie haben sogar oft ein besseres Verhältnis zum Vater als vor der Trennung der Eltern, weil der Vater im Wechselmodell eine aktivere Rolle einnimmt.

 

ZEIT: Oft ist von quality time die Rede – der Zeit, die Eltern bewusst mit ihren Kindern verbringen. Kann ein intensives Wochenende mit dem Vater denn fünf gestresste Frühstücke aufwiegen?

Sünderhauf: Entscheidend für den Aufbau einer dauerhaften Bindung ist der miteinander gelebte Alltag und nicht das durchgeplante Wochenende voller Erlebnisse. Kinder, die ihre Väter nur in künstlichen Situationen kennen, fühlen sich von diesen häufig nicht richtig verstanden und anerkannt. Wie auch? Das normale Leben spielt sich eben nicht im Kino ab oder im Zoo.

ZEIT: Jede Woche die Wohnung wechseln – das klingt anstrengend.

Sünderhauf: Wenn das Modell gut organisiert ist, bedeutet der Wechsel keinen Umzug, sondern ein Nachhausekommen in die beiden vertrauten Wohnungen von Mutter und Vater. Zweifellos werden Trennungskindern Anpassungsleistungen abverlangt, aber das gilt auch im Residenzmodell.

ZEIT: Zwei Haushalte können sehr verschieden sein, zum Beispiel was die Normen angeht. Ist das nicht verwirrend für Kinder?

Sünderhauf: Kinder sind recht flexibel und anpassungsfähig, das kann man im Alltag beobachten, und das zeigen viele Studien. Auf unterschiedliche Normen und Grenzen treffen Kinder auch, wenn die Eltern zusammenleben, und im Kindergarten und in der Schule gibt es wieder andere Regeln – das ist für Kinder ganz normal.

ZEIT: Für Eltern ist der logistische Aufwand nicht unerheblich. Da müssen Schulsachen gepackt und Absprachen getroffen werden ...

Sünderhauf: Schulsachen müssen jeden Morgen gepackt werden, das findet niemand dramatisch. Und bei Besuchen im Residenzmodell müssen ebenfalls Absprachen getroffen werden. Kommunizieren kann man zum Beispiel per E-Mail oder mit einem Übergabe-Buch, in das man die wichtigen Dinge einträgt. Das alles ist mit Aufwand verbunden. Aber die Mühe ist gerechtfertigt, wenn die Eltern den Bindungsaufbau und das Wohl des Kindes im Blick haben.

 

ZEIT: Wie weit auseinander dürfen die Eltern wohnen, damit das Modell funktionieren kann?

Sünderhauf: Schulpflichtige Kinder müssen ihre Schulen von beiden Elternhäusern aus erreichen können. Bei kleineren Kindern ist es optimal, wenn das Kind von beiden Eltern aus Zugang zu seiner Kita, zum Spielplatz und zu Freunden hat. In den ersten drei Lebensjahren allerdings ist der Bindungsaufbau zu den Eltern wichtiger als der Kontakt zu Gleichaltrigen. Da wäre ein Wechselmodell auch über größere Entfernungen möglich.

ZEIT: Es gibt sogar die Sonderform des Nestmodells, bei dem Kinder in einer gemeinsamen Wohnung bleiben, während die Eltern wie Vögel ein- und ausfliegen.

Sünderhauf: Für die Kinder hat das den Vorteil, dass sie im gewohnten Umfeld bleiben können. Doch das Modell ist nur für wenige Eltern bezahlbar, weil zur ursprünglichen Familienwohnung noch zwei weitere Unterkünfte finanziert werden müssen.

ZEIT: Eltern gehen oft im Konflikt auseinander. Wie können sie das Maß an Kooperation aufbringen, das ein Wohnungswechsel der Kinder erfordert?

Sünderhauf: Alle Eltern müssen ein Team bleiben, wenn ihnen am Wohl der Kinder liegt. Das Gute am Wechselmodell ist: Die Eltern begegnen sich auf Augenhöhe. Es gibt keinen Gewinner oder Verlierer. Im Streit über Betreuungszeiten schaukeln sich viele Konflikte im Residenzmodell nach der Trennung oft erst richtig hoch. Da wird jahrelang um jede Stunde mit dem Kind gerungen. Selbst bei Eltern, die sich gütlich einigen wollten, können sich die Fronten verhärten. Die Gesetzeslage leistet dem leider Vorschub, denn rechtlich kann das Kind nur bei einem Elternteil wohnen. Es gibt also einen Gewinner und einen Verlierer, und keiner will der Verlierer sein. Da ist die Abmachung, sich die Zeit mit dem Kind in zwei Wohnungen zu teilen, weniger konfliktvoll.

ZEIT: Können Richter die Betreuung im Wechselmodell anordnen?

Sünderhauf: Ja, im Umgangsrecht geschieht das sogar sehr oft, und zwar meist mit asymmetrischer Zeitverteilung. Ob im Rahmen der bestehenden Gesetze auch eine 50 : 50-Zeitverteilung zulässig ist, darüber gibt es bei den Gerichten unterschiedliche Ansichten. Ein klärendes Verfahren ist zurzeit beim Bundesgerichtshof anhängig. Besser wäre es, wenn der Gesetzgeber das Wechselmodell als eine mögliche Alternative festschreibt. In den meisten europäischen Rechtsordnungen ist das längst Realität.

ZEIT: Wenn die biologische Familie nur kurze Zeit zusammengelebt hat – wächst das Kind dann nicht im neuen Sozialverbund einer Patchworkfamilie möglicherweise besser auf?

Sünderhauf: Liebevolle Stiefeltern sind viel wert, aber die leiblichen Eltern haben nun einmal eine besondere Rolle. Sie zu kennen und eine Beziehung zu ihnen zu haben ist ein Urbedürfnis des Menschen.

ZEIT: Und wenn das Kind nicht wechseln will?

Sünderhauf: Das sollte erst einmal stutzig machen. Häufig steckt dahinter ein entfremdender Elternteil, denn die meisten Kinder lieben beide Eltern. Je älter Kinder werden, desto selbstbestimmter nutzen sie ihre Zeit und ihre Ressourcen. Dann löst sich der feste Betreuungsplan oft auf. Allerdings muss man verhindern, dass sie Konflikten ausweichen und einfach zum anderen Elternteil wechseln, wenn ihnen bei dem einen etwas nicht passt.

ZEIT: Aber irgendwann ist das Hin und Her doch zu Ende?

 

Sünderhauf: Das vermeintliche Hin und Her im Wechselmodell ist die entspannteste Lebensform nach einer Trennung mit Kindern. In den meisten Fällen ist es eine Win-win-win-Lösung für alle: die Trennungskinder, ihre Mütter und ihre Väter.

(http://www.zeit.de/2014/18/scheidung-kinder-umgang-modelle)

 


Date: 2015-12-24; view: 734


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