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Die Amrei geht in die Tanzschule und mir wird übel

Mir ist übel. Im Kopf, im Bauch, überall. Mir ist so übel, dass man es mir ansieht. Ganz grün bin ich im Gesicht, hat die Mama gesagt. Sie meint, ich kriege Scharlach. Weil bei uns im Haus ein Kind Scharlach hat.

Aber ich habe überhaupt keine Krankheit. Mir ist mitten auf der Straße so übel geworden. Ich gehe von der Schule heim, da sehe ich plötzlich ein sehr großes, dünnes Mädchen vor mir. Das Mädchen hat rotblonde Locken und eine blitzblaue Lederjacke. So eine Jacke und solche Haare sind selten. Mein Herz beginnt zu klopfen. Ich mache drei schnelle Schritte und hole das Mädchen ein. Mein Herz klopft wie ein Presslufthammer, denn das Mädchen ist tatsächlich die Amrei!

„Was ist denn passiert?", frage ich. „Bist du allein zurückge­kommen? Oder ist die Ilse auch wieder da?"

Die Amrei schaut mich ganz erstaunt an. „Was ist los?", fragt sie. Sie beugt sich zu mir. Unter dem Arm hat sie eine Schultasche. Ein Lineal und die Ecke von einem Geo-Dreieck schauen aus der Tasche.

„Wieso bist du denn hier?", frage ich und spüre, dass mir ein großer Knödel im Hals steckt.

„Na, weil ich zur Nachhilfestunde gehe", sagt die Amrei. Und dann sagt sie noch, ich soll meiner Schwester liebe Grüße ausrichten. Und sie wird bald einmal anrufen. Aber sie hat jetzt so wenig Zeit. Sie geht in die Tanzschule. Und in Mathe muss sie Nachhilfe nehmen. Und außerdem hat sie einen Freund. Und der beansprucht ihre ganze karge Freizeit.

Da wird mir übel.

Die Amrei sagt „Tschüs" und rennt zur Haltestelle, weil bei der Kreuzung die Straßenbahn um die Kurve bimmelt. Ich schaue der Amrei nach und mir wird noch viel übler.

 

Ich wollte nicht nach Hause gehen. Ich ging in den Super­markt, nahm mir einen Wagen und fuhr an den Regalen entlang. Ich dachte: Sie hat mich belogen. Die Amrei ist gar nicht von daheim weggelaufen. Sie hat mich angelogen. Die Amrei weiß nicht einmal, dass sie weg ist.

 

Dann schaute mich eine Verkäuferin so komisch an, weil ich mit dem leeren Wagen schon zum hundertsten Mal an ihr vorbeikam. Ich stellte den Wagen ab und ging heim.

Die Mama hat gerade zu mir ins Zimmer geschaut. Ob ich etwas brauche, hat sie gefragt. Aber ich brauche nichts. Ich liege da und denke nach und komme nicht dahinter, wa­rum mich die Ilse belogen hat. Und ich verstehe auch nicht, warum ich so blöd war, alles zu glauben. Die Ilse ist ohne Amrei weg. Also ist sie wahrscheinlich auch gar nicht in London. Und auch nicht Kindermädchen. Ich weiß genau­so wenig wie die Mama und die anderen, wo die Ilse ist!

 

Man kann nicht tagelang im Bett liegen und krank sein, wenn man keinen Scharlach und auch sonst nichts hat, nicht einmal erhöhte Temperatur.

Der Kurt hat zu mir gesagt, wenn ich mich elend fühle, soll ich ruhig im Bett bleiben. Ganz egal, was die „Weiber" meinen. Er hat wirklich „Weiber" gesagt. Der Kurt kümmert sich in letzter Zeit sehr viel um mich. Ich glaube, er bemüht sich, die „Vaterstelle" an mir zu vertreten.

 


Date: 2015-12-24; view: 495


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