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Entlassung, dachte er. Wo geh ich hin?

Er richtete sich auf. Immer, wenn er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Ich muß zu Gundel! Der Gedanke blieb: Ich muß zu Gundel.

Eines Tages wurden sie durch die Lagerstraßen in ein an­deres Camp geführt. Ein Dutzend großer Zelte, ringsum Ge­fangene. Das war jenes sagenhafte Entlassungscamp, von dem die Gerüchte sprachen. Holt legte sich auf den Boden. Am Morgen trat er den Gang durch die Zeltreihe an. Ein Offi­zier drückte den Prägestempel in den Entlassungsschein.

Jenseits des Weinberges stand ein Güterzug. Auf den offe­nen Wagen lagen Kartons mit Verpflegung, Rationspäckchen der amerikanischen Armee, sogar mit Zigaretten. Holt aß lang­sam. Er lag auf den Bohlen des Tafelwagens und rauchte. Er fror wieder und zitterte. Ein Schweißausbruch folgte. Er war benommen. Wo fand er Gundel?

Der Zug überquerte den Rhein, dampfte nach Osten, zwei Tage lang. Dann hielt er. Das Begleitkommando jagte die entlassenen Gefangenen von den Wagen.

Tausend ausgehungerte Menschen fielen wie ein Heuschreckenschwarm über die Obstbäume her, die zu beiden Seiten der nahen Chaussee standen. Wer zu schwach war, einen Baum zu erklettern, riß einen Kohlkopf aus dem Acker.

Holt wurde nicht satt von dem rohen Kraut. Es trieb ihn nach Osten. Noch immer wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Nicht zu Vater, nein. Zu Gundel! Er durchwanderte ein paar Dörfer und klopfte vergebens an. Hinter verrammelten Toren lärmten die Kettenhunde. Er verließ die Chaussee und hielt sich nördlich. Er lief bis zum sinkenden Abend. Ermattet saß er im Gras einer Koppel, auf der Fohlen weideten. Keiner will was von mir wissen. Liegenbleiben. Nie mehr aufstehn. Wozu auch?

Aber ich muß erst noch zu Gundel! Der Gedanke trieb ihn hoch.

In der kleinen Stadt am Fluß suchte er Gundel vergebens. Im Hause des Rechtsanwalts Gomulka wohnten Fremde. Alle Menschen waren fremd. Endlich erfuhr er: Gundel hatte die Stadt verlassen.

Er wanderte weiter. Er bettelte, immer wieder abgewiesen, schwach vor Hunger. Er schlief im Straßengraben.

Des Morgens, in der Kühle vor dem Sonnenaufgang, fühlte er sich frisch und ausgeruht, aber in der Hitze des Mittags schwanden die Kräfte. Er legte sich am Nachmittag ins Ge­büsch, zog die Zeltbahn über sich und schlief, bis ihn nach Mitternacht der fallende Tau weckte.

Er kam nur langsam voran, blind für alles, was ringsum ge­schah. Er sah nicht die Flugzeugtrümmer, die ausgebrannten Panzer im sommerlichen Land, sah nicht, wie die Ernte gebor­gen wurde, und nicht die zertrümmerten Dörfer, die ge­sprengten Brücken, den Strom der Heimkehrer und Umsied­ler auf allen Straßen... Er lief, von peinigender Unruhe ge­trieben, bis er irgendwo in einem Gebüsch einige Stunden schlief.

Einmal sah er sein Spiegelbild im Wasser eines Dorfteiches. Ein viel zu großer Schädel, ein hohlwangiges Gesicht, fiebrig glänzende Augen, struppiger Bart... Das bist du, das ist von dir geblieben. Einer zog aus, voller Kraft und Übermut, Aben­teuer zu erleben, Bewährungsprobe, Schmelztiegel, Schule der Mannestugend... Einer kehrt heim, zerbrochen, vernichtet. Er starrte gebeugt ins spiegelnde Wasser. Das kenn ich, das Bild! Jählings wurde die Erinnerung lebendig: Auf dem Wege zur Straßenbahn ... zur Batterie, er trug ein dickes Heft un­ter dem Arm... eine Zeitschrift... IB-Sondernummer: „Untermenschen ...“ Gesichter wie seines.



Er erreichte Weimar. Man redete von einer Demarkationslinie. „Sie können doch nicht zu den Russen ... es soll furcht­bar sein...“ Es kümmerte Holt nicht. Er legte sich im Park schlafen und sah ein paar Amerikaner über die Straßen schlendern. Er erwachte, und ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Pflaster. Auf dem Bock ein Rotarmist.

Holt stand am Straßenrand. Ein Lastwagen mit Soldaten rollte vorbei. Holt war zu schwach, um die tief verwurzelte Angst zu fühlen, die seinen fieberhaften Puls noch schneller schlagen ließ. Man beachtete ihn nicht.

Tausende zogen über die Landstraßen. Niemand wendete den Kopf nach einer der grauen Gestalten.

Ein Bahnhof, ein Zug unter Dampf, alle Trittbretter be­setzt, alle Abteile vollgepfercht, auf den Dächern Menschen in zerschlissenem Feldgrau. Holt fuhr auf einem Puffer mit. Am Abend hielt der Zug.

Anderen Tages nahm ihn ein Auto mit, dann wieder rollte eine Lok mit ein paar Güterwagen nach Norden. Er zählte nicht die Tage. Er fühlte nur unklar: es war Zeit, das Ziel zu erreichen.

An einem heißen, wolkenlosen Julitag hockte er am Stra­ßenrand. Der Schlaf erfrischte ihn nicht mehr. Tag und Nacht peinigten ihn Schüttelfrost und Fieberschauer in jähem Wech­sel. Er kaute Sauerampfer und Hirtentäschel. Ein Pferdewagen holperte vorbei, im Kasten stand ein braungeflecktes Kalb. Holt kletterte auf den Wagen, lag im Stroh, und das Kalb begann ihm das Gesicht zu lecken, mit einer großen, rauhen Zunge ... Am Nachmittag blieb er auf der Chaussee zurück. Er verfiel in einen schleppenden Schritt, während sein Kopf auf die Brust sank. So marschierte er eine Stunde lang. Müdigkeit lockte.

Ein Lastwagen überholte ihn und hielt. Der Fahrer rührte mit einer Eisenstange in dem qualmenden Holzgasgenerator. Holt fand sich auf dem Wagen wieder, zwischen Koffern und Bettenbündeln, Frauen mit Säuglingen, in Umschlagtücher ge­hüllten Greisinnen, Männern mit Krücken und Beinstümpfen. Der Wagen fuhr einer großen, zerstörten Stadt entgegen. Er stand am späten Nachmittag vor der trostlosen Kulisse ausgebrannter Häuser, zerschlagener Fassaden, und um ihn her hasteten Menschen. Eine überfüllte Straßenbahn rollte vorbei. Bei einem Trümmerberg reichten Frauen Ziegelsteine von Hand zu Hand. Holt lief durch die Straßen. Leirige, pie­pende Töne einer Drehorgel, ein Blinder mit gelber Armbinde. Die schmale Gasse, ein unzerstörtes Haus. Holt starrte die Fassade an. Weihnachten ... von hier war er geflohen, es war Ewigkeiten her.

Er stieg langsam die Treppe hoch.

„Doktor Holt? Wohnt nicht mehr hier! Den haben die Russen zum Fabrikdirektor gemacht. Spremberg-AG... in Mönkeberg...“

Holt lief zu dem Vorort hinaus.

Er fand ein rotes Backsteingebäude, über dem Werktor die Aufschrift „Spremberg-AG“. Ein Holzschild mit russischen Schriftzeichen. Durch den Torweg sah Holt ein weites Fa­brikgelände. Er ging am Schlagbaum vorbei. Eine Stimme rief ihn an. Ein Pförtner, einarmig, den linken, leeren Hemds­ärmel hochgesteckt. Holt lehnte schwer atmend an der Wand. Dann neigte er den Kopf zum Fenster der Portierloge. „Ich such Doktor Holt.“ Der einarmige Pförtner verbesserte: „Pro­fessor Holt. Das ist hier.“ Er langte nach dem Telefonhörer, ließ die Hand darauf liegen und fragte: „Wer sind Sie?“

Nein, dachte Holt, keine Heimkehr... des verlorenen Soh­nes ... das nicht! Ein Fieberschauer löschte alle Gedanken aus. „Ich will.. . eine Auskunft... Bitte, ob er... ob sich bei ihm... ob ihm etwas...“ Der Satz sträubte sich gegen seine Vollendung. „Ob er was von Gundel Thieß weiß. Adresse oder so.“

„Gundel?“ wiederholte der Pförtner erstaunt, ließ das Tele­fon los, zog ein paar abgelegte Passierscheine zu sich heran und blätterte. Aber er schob die Papiere beiseite und mur­melte: „Da will ich doch lieber...“ Er klemmte den Hörer mit der Schulter des amputierten Armes am Ohr fest und wählte. „Ist der Professor... Im Labor?“ Er drückte die Gabel nieder und wählte neu. „Herr Professor, hier ist ein... ein Heimkehrer, er will die Adresse von Fräulein Thieß!“

Holt hörte das alles nicht. Er sah nicht, daß der Pförtner nickte, den Hörer hinwarf und nun in offenkundiger Bestür­zung aus der Loge in die Tordurchfahrt trat. Er lehnte an der Wand und schaute auf die Straße hinaus, und die flimmern­den Lichtflecke der Abendsonne auf dem Pflaster begannen sich vor seinem Blick im Kreise zu drehen, immer schneller.

Er hörte hastige Schritte, er erblickte als weißen verschwimmenden Fleck den Labormantel seines Vaters, und dann be­gann sich auch der weiße Fleck im Kreise zu drehen.

Er erwachte für Augenblicke, in einem Bett, und nahm Gundels Anblick mit, als er in Fieberträume zurückfiel.

 

 


Date: 2015-12-24; view: 767


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