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Holt beobachtete es. Er dachte: Was ist das für einer?

Es dunkelte. Niemand kümmerte sich um sie. Der Ausbil­dungszug war zum Infanteriedienst ausgerückt. Burgkert setzte sich ganz hinten zu Wolzow. Sein Baß dröhnte. Wenn er aus der Feldflasche trank, verbreitete sich Schnapsgeruch. Go­mulka hatte vorn neben dem Gefreiten Platz genommen, hin­ter ihnen saß Holt. Am Kasernentor prüfte der Posten um­ständlich die Papiere. Der Fahrer schaltete. Holts Blick streifte einen Wegweiser: „Görlitz 58 km.“

 

Fahrt durch die Nacht. Holt zog die Decke über die Knie. Die Winterkälte pfiff eisig durch das dünne Verdeck. Schnee fiel. Es stürmte. Als Holt sich umwandte, sah er Burgkert zur Seite gegen Wolzow gesunken. Beide schliefen. Der Kopf des Gefreiten stand als schwarze Silhouette vor der Windschutzscheibe, durch die der Schnee leuchtete. Der Gefreite sprach mit Gomulka, und nun hob er den rechten Arm vom Lenkrad und verstellte den Spiegel über der Windschutzscheibe, als wünsche er, das Innere des Wagens zu überschauen. Manch­mal, wenn draußen der heulende Schneesturm abflaute, fing Holt Gesprächsfetzen auf, die das gleichmäßige Summen des Motors immer wieder übertönte.

Gomulkas Gesicht war nach links gewendet. Er sagte, und das mußte die Antwort auf irgendeine Frage sein: „...den müssen Sie ja besser kennen als wir.“ Eine Bö warf Schnee über den Wagen. „... Wolzow hört manchmal ein bißchen auf Holt, sonst auf keinen“, sagte Gomulka.

Worüber reden die? fragte Holt sich schläfrig. Das Auto bockte durch ein Schlagloch, er fiel zur Seite. Er hörte, als er sich zurechtsetzte, den Gefreiten fragen: „Und der Blonde?“ – „Gehorcht Wolzow wie ein Hund“, antwortete Gomulka, „aber wenn er allein ist...“ Das Brummen des Motors verschluckte die Worte. Dann hörte Holt, wie Gomulka sagte: „... nein, eigentlich mein Vater...“, und er beugte sich vor, um besser zu verstehen.

„Hab Ihnen ja damals erzählt, wie das gekommen ist“, sagte Gomulka. „Leicht war es nicht für mich. Es mag ja Leute ge­ben, die von Anfang an wußten, was gespielt wird. Der Holt hat im Urlaub ein Mädchen kennengelernt, deren Vater ist in einem Lager umgekommen, und die Mutter wurde hingerich­tet. Solche...“ Wieder übertönte das Motorengeräusch die Worte.

Holt dachte verwundert: Sepp erzählt von Gundel? Der Gefreite hob wieder die Hand zum Spiegel, verstellte ihn ein wenig und warf einen Blick nach hinten, wo Burgkert und Wolzow im Schlaf zusammengesunken waren. „... und ob du alles verstehst, das ist die Frage“, sagte er, „ganz abgesehen davon, daß man heutzutage über so was am besten den Mund hält.“ – „Man wüßte halt manchmal ganz gern etwas ge­nauer, mit wem man’s zu tun hat“, erwiderte Gomulka. Der Gefreite wandte ihm das Gesicht zu. „Genau das ist es“, sagte er betont. Dann schwieg er, und der Wagen raste mit verdun­kelten Scheinwerfern durch die Schneewehen. Sie hielten in Görlitz lange an einer Kreuzung. Burgkert erwachte und stieg aus. „Seht euch das an!“ Holt stand frie­rend neben dem Wagen. Ein lautloser, spukhafter Zug wälzte sich langsam vorbei, Fußgänger, Handwagen, Schlitten, Pferde­fuhrwerke, mit Koffern, Bettenbündeln, Hausrat bepackt, end­los, lautlos, nur das Wimmern von Kindern drang durch die Dunkelheit, das Kratzen einer Schlittenkufe am Bordstein.



Burgkert trank aus der Feldflasche. Hupend schob sich dann der Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern zwischen die Menschen. Auf der Chaussee nach Lauban zog ihnen der gleiche endlose Flüchtlingsstrom entgegen. An allen Kreuzun­gen gab es Aufenthalt. Kontrollposten, SS, Gendarmerie. „Papiere vorzeigen!“ Morgens gegen sechs erreichten sie Bres­lau. „Frontleitstelle, oder wie nennt sich das?“ Niemand wußte Bescheid. Endlich ließ Burgkert halten, ungeduldig und nervös. Vor einem Gebäude patrouillierte ein Doppelpo­sten. Burgkert kam zurück. „Ich muß mich hier erst mal um­sehen. Wolzow, kümmern Sie sich, wo wir hin solln. In einer halben Stunde wieder hier, wenn ich nicht komm, dann ziehn Sie allein los.“ Er verschwand in der Dunkelheit. Wolzow sah ihm verblüfft nach. „Weißt du, was der sucht? Schnaps! Der ist ja schon ganz konfus, weil er nichts mehr zu saufen hat!“

Überall herrschte das Chaos. „Hier, Einsatzstab ... Halt mal!“ Ein Feldwebel brüllte Wolzow an: „Panzerjagddivision? Quatschen Sie nicht! Papierdreck!“ Schließlich hieß es: „Ver­suchen Sie, nach Klein Nieritz durchzukommen, dort liegt der Stab der 17. P. D.“

Sie warteten lange vergebens auf Burgkert. Der Gefreite sagte: „Wir fahren. Wer weiß, wann der wiederkommt!“ Wol­zow überlegte. Auch Gomulka drängte: „Jawohl, wir brau­chen den nicht! Wir haben eigene Papiere!“ Wolzow zögerte, aber der Gefreite rief: „Los! Fort! Wozu warten?“

„Die Panzerjagddivision gibt’s offenbar gar nicht“, sagte Wolzow endlich. „Das ist aber ein böses Zeichen! Also los! Dies ist die Stunde der Einzelkämpfer.“ Holt zog Gomulka zur Seite. „Der Gefreite... was ist das für einer?“ – „Ein Stahlwerker aus Wuppertal“, antwortete Gomulka. „Er war bis vor kurzem als Ofenmeister u. k. gestellt.“ – „Wieso kennst du ihn?“ – „Ich hab ihn nach Weihnachten dann und wann in der Kantine getroffen.“

Sie stiegen ein. Der Gefreite gab Gas. Klein Nieritz war ein winziges Dorf. „17. Panzerdivision?“ Kopf schütteln. Ein undefinierbarer Stab einer undefinierbaren Einheit, bestehend aus drei Feldwebeln, ein paar Kraftfahrern und einem Dut­zend konfuser Offiziere, befand sich in Auflösung. Vor dem Haus standen Lastwagen mit laufenden Motoren. Wolzow fragte. Einer schob sie zum anderen ab. Schließlich schickte man sie in ein Zimmer zu einem Major.

Der Major telefonierte, mit hochrotem Gesicht. „Aber ich sage Ihnen doch, zwischen hier und dem Russen ist nichts! Nein! Kein Panzerkorps, nur Volkssturm! Nein! Wer das sagt, ist ein Narr! Nein! Keine Nachrichten! Die letzten Nach­richten sind überholt! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Korps Nehring kämpft sich von Kalisch auf die Oder zurück! Nein! Die Russen sind mitten dazwischen! Nein! Da sind Sie falsch unterrichtet! Saucken steht noch weiter östlich als Neh­ring! Nein! Sie sind auf Breslau angesetzt. Nein! Wenn sie die Oder überhaupt erreichen, dann viel weiter nördlich! Nein! Von hier bis Oppeln ist ein Loch! Nein, Oppeln kann jede Stunde fallen! Nein! An der Oder soll die neue Linie aufgebaut werden, Ohlau–Brieg–Oppeln ... Nein! Ich muß hier weg, sofort!“

Er horchte und musterte Holt und Wolzow. Dann rief er ins Mikrophon: „Was? Nein? Gut! Nein! Schluß!“ Er warf den Hörer auf den Tisch und schrie: „Was wolln Sie!“ – „Wir suchen die Panzerjagddivision, Herr Major“, sagte Wolzow. Der Major brüllte unbeherrscht: „Aber doch weiß Gott nicht hier! Suchen Sie, wo Sie wollen, aber doch nicht hier!“ Hand­bewegung im Kreis. „Hier gibt es Wald, Eis, Schnee, Sumpf und Russen! Gleich gibt es so viel Russen, wie Sie wollen!“ Er brüllte immer lauter: „Ja, bin ich denn unter Narren gefal­len? Ich hab keine Zeit! Raus! Es gibt überhaupt keine Panzerjagddivision, das ist Narretei!“

Wolzow grinste, und das Grinsen schien den Major merk­würdigerweise zu beruhigen. Er fragte leiser, in zitternder Nervosität: „Was wollen Sie? Ich hab keine Zeit.“ – „Pan­zerjagdkommando, motorisiert“, sagte Wolzow, „gut bewaff­net, Herr Major, wir brauchen einen Kampfauftrag, Karten und etwas Benzin. Wenigstens einen Tip, wo wir hin solln.“

„Sie sind ein Narr!“ schrie der Major wieder. „Karten?“ Er sah sich um. „Hier, Karten, da haben Sie! Haun Sie ab mit Ihren Karten!“ Er schmiß Wolzow einen dicken Packen vor die Füße. „Benzin? Auf dem Hof ist Benzin! Das Benzin tanken morgen die Russen!“ – „Und wo sollen wir hin?“

„Ins Narrenhaus!“ schrie der Major und tastete mit fliegen­den Händen über sich hin, vom Hals zum Koppel, vom Koppel zum Kragen. Dann legte er beide Hände an die Schläfen. „Fahrn Sie nach Ohlau oder nach Brieg oder nach Oppeln, melden Sie sich bei Major Lindner! Raus!“

Draußen sagte Wolzow kopfschüttelnd: „Als Stabsoffizier müßte er sich etwas mehr in der Gewalt haben!“ – „Das kann heiter werden“, sagte Holt. Der Gefreite holte Benzin­kanister vom Hof. „Zurück nach Breslau, ob wir den Burgkert wiederfinden!“ befahl Wolzow und studierte die Karte.

In Breslau gab es eine „Auffangstelle“, dort hieß es: „Sie kommen in eine Alarmkompanie!“ Wolzow protestierte so lange, bis sie vor einen Oberstleutnant gerieten. „In Klein Nieritz liegt ein Divisionsstab, die 17. P.D. Zeigen Sie erst mal Ihre Papiere!“ – „In Klein Nieritz gibt es keine 17. P. D.! Ein Major hat uns zu einem Major Lindner geschickt!“ – „Major Lindner? Der ist doch in Klein Nieritz!“ So ging es weiter. Ein Hauptmann mit dem Gesicht eines Gallenleiden­den, trüben Augen, gelber Gesichtsfarbe sprach in gequältem Ton: „Keine Ahnung, Major Lindner liegt mit seinem Stab in Oels, falls da nicht schon der Russe ist! Zur Kampfgruppe Buchert müssen Sie! Zeigen Sie mal die Papiere!“ Sie sind alle verrückt geworden, dachte Holt. „Von der Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26? Da gehören Sie doch zur 11. P. D.! Die liegt auch hier irgendwo!“ – „Nein, Herr Hauptmann.“ – „Keine Ahnung“, schrie der Hauptmann. „Funker? Pan­zerfunker? Hier wird eine Kampfgruppe aufgestellt. Sie blei­ben hier. Die Panzer sind noch nicht da!“ Aber im nächsten Zimmer drückte ein Offizier mit müder Bewegung die nötigen Stempel auf die Papiere, ohne viel zu fragen. Sie erhielten freie Fahrt Richtung Oberschlesien. „Beeilen Sie sich! über­all werden die Brücken gesprengt!“

Der Gefreite schlug frierend die Arme um den Körper. Es schneite und stürmte. Gomulka unterhielt sich mit ein paar alten Soldaten. Dann fuhren sie los, am westlichen Ufer strom­aufwärts. Bald erreichten sie eine kleine Stadt. Sie hielten bei dem großen Kasernenkomplex. Dort zerrte man ein paar 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze aus den Hallen. Der Ka­sernenhof war mit alten Männern vollgestopft, die hier eingekleidet, bewaffnet und zu Volkssturmeinheiten zusammenge­stellt wurden.

Wolzow fragte sich zum Hauptkommandanten durch. Holt stand an der Straße und sah den Strom der Flüchtlinge vor­beiziehen, Frauen, vom Schneesturm weiß überstiebt, in Decken gewickelte Kinder, Schlitten und Handwagen, Bettzeug, Hausrat, armselige Habe, Greise an Stöcken wankend, zer­lumpt, alte Frauen in Umschlagtüchern, ein furchtbarer Zug des Elends, der Verzweiflung. Holt dachte an die verhungern­den Gestalten der Gefangenen in der Batterie. Nun ist es über uns gekommen. Schnee fiel, immer mehr, und deckte alles zu.

Wolzow kam zurück. „Ich hab einen Kampfauftrag! Los, ab!“ Auf der Fahrt erzählte er. Am östlichen Oderufer stand ein Verband Volkssturm. Ob es kampffähige Truppenreste der zerschlagenen Front gab, wußte auch hier niemand. „Wir verstärken die Besatzung einer Panzersperre. Kampfauf­trag: Panzer aufhalten, solange’s geht, bis hier eine Linie auf­gebaut worden ist. Truppen sind im Anmarsch.“

Die Straße führte zur Brücke. Das Ufer fiel steil zum Was­ser ab. Soldaten würgten hinter dem Damm die 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze in Stellung. „Von der Artillerieabtei­lung 64, die hier in Garnison liegt“, erzählte Wolzow, „ist kaum noch was da. Der Kommandeur, ein steinalter Major, ist Kampfkommandant... Blödsinn, hier Langrohrgeschütze auf­zustellen!“ schimpfte er. „Die gehören fünf Kilometer hinter die Front!“ Der Wagen rollte langsam über die Brücke. „Der Kommandant hat hier Rekruten ausgebildet. Seit Verdun, sagt er ganz hilflos zu mir, hat er keine Front mehr gesehen. Ein letzter Rest vom Ersatzhaufen, ein paar Alarmkompanien aus Klein Oels, ein Haufen Volkssturm, das ist seine Truppe.“

Die Oder, dieser mächtige Strom, war an beiden Ufern ver­eist. In der Mitte trieb die Strömung Schollen mit sich, preßte sie an den Buhnenköpfen zu Packeis auf, das sich über die glatte beschneite Eisfläche bis zu den Ufern hinschob. Zwi­schen den treibenden Schollen glänzte das Wasser grauschwarz und ölig.

Auf der Brücke begegneten ihnen Flüchtlingstrupps, auch auf der Chaussee. Wolzow ließ immer wieder halten. „Wo ist der Russe?“ Man deutete nach Osten. „Sie sollen schon in Namslau sein!“ – „Ist dort Militär?“ – „Nur Volkssturm.“ – „Weiter, Horbeck!“

Leer und einsam lag die Chaussee vor ihnen. Der Sturm wehte den Schnee zu weißen Dünen auf. Langsam kämpfte sich der Wagen voran. Ein Dorf, menschenleer, verlassen. In den Ställen brüllte Vieh. Vetter rief: „Also, hier könnte man eine Sau rausholen!“ Wolzow studierte die Karte. „Die Pan­zer werden unbedingt auf diese Brücke stoßen!“ Er sprach, als spiele er mit Leutnant Wehnert am Sandkasten. „Von Kreuz­burg her über Namslau... Es gibt keine Nachrichten, keine Luftaufklärung, nichts! Bei Oppeln sollen sie angeblich schon über die Oder sein. Ich hab jedenfalls keine Lust, unter ir­gendein Volkssturmkommando gestellt zu werden.“ – „Das ist richtig!“ rief der Gefreite. „Wir bleiben am besten allein!“ – „Mein ich auch“, sagte Gomulka. Holt fragte: „Wie kom­men wir über die Oder zurück, wenn sie die Brücken sprengen?“

„Das soll uns jetzt aber verflucht egal sein!“ sagte Wolzow ungehalten. „Fahr los, Horbeck! Fahr vorsichtig!“ Er sah zum Himmel. „Es schneit nicht mehr. Da stinkt’s nach Tiefflie­gern.“ – „Ich denk, die haben keine Luftwaffe?“ fragte Vet­ter. „Was haben die nicht?“ rief der Gefreite und wendete den Kopf. „Mann, die haben Schlachtflieger, daß dir noch Hören und Sehen vergehen wird!“

Die Chaussee führte durch einen Laubmischwald. Geäst und Holz waren von funkelnden Schneekristallen überzogen. Dann und wann leuchteten weiße Eisflächen zugefrorener Sümpfe durch die mächtigen Stämme. Fern dröhnte der Don­ner einer schweren Kanonade. Horbeck stoppte. Wolzow horchte. „Das ist weit weg! Fünfzig Kilometer vielleicht. Geht uns nichts an! Weiter!“ Der Wald wich zu beiden Seiten der Straße zurück. Verschneite, sumpfige Wiesen, am Hori­zont der dunkle Waldstreifen, der bald wieder nahe heran­rückte. Dann stieß die Straße in tiefen Wald und bog scharf nach rechts. Etwa sechzig Meter vor der Biegung lag die Pan­zersperre. Sie stiegen aus.

„Das ist gut gemacht“, sagte Wolzow. „Der Panzer kommt aus dem Wald und sieht die Sperre erst, wenn er unmittelbar davor ist.“ Zwischen Sperre und Wald blieb beiderseits der Straße ein schmaler Streifen Wiese, links sumpfig, von Eis bedeckt. Ein paar Volkssturmmänner standen unbeweglich auf der Fahrbahn.

Der Gefreite lenkte den Wagen nach rechts auf die Wiese hinab, fuhr um die Sperre herum und am Waldrand ins Unter­holz. Holt, die Maschinenpistole um den Hals, folgte Wolzow. „Wer kommandiert hier?“ Am Waldrand sah Holt einen Schuppen, wie ihn Waldarbeiter zu benutzen pflegen. Aus der Tür trat eine Gestalt, bei deren Anblick Wolzow zu grinsen begann. Vetter brach in Gelächter aus.

Es war ein kleiner und dicker Mann von fünfzig Jah­ren, der da herankam. Er trug eine quittegelbe Uniform mit der Hakenkreuzbinde, bunte Norwegerhandschuhe und eine Schirmmütze. Da er ohne Mantel war, fror er. Seine Ohren standen ein wenig ab und sahen weiß aus. Sein Gesicht war rot und blau gefroren. Aus den Augen liefen Frosttränen. Am Arm baumelte ein Stahlhelm.

„Na, Sie?“ sagte Wolzow.

Der Mann wußte nicht, was er von Wolzow halten sollte. Auf den weißen Tarnmänteln waren keine Rangabzeichen zu sehen. Er entschloß sich zu grüßen. „Heil Hitler! Melde Blockwart Kühl mit zwölf Mann Volkssturm auf Feldwache!“

Vetter meckerte los. „Kühl!“ rief er. „Mensch, Blockwart Kalt müßten Sie heißen, Eiskalt!“ Wolzow schüttelte den Kopf. „Was wollen Sie hier? Sind Sie etwa der ,Verband’ Volkssturm?“

Der Blockwart sah von einem zum anderen, empört über Vetters Spott und doch hilflos. „Wir sind die Nachhut einer Volkssturmeinheit, die heute morgen abgezogen ist. Wir haben Befehl, hier die Panzer aufzuhalten.“ Wolzow musterte den Blockwart, von den Füßen bis zum Kopf, dann flog sein Blick über die Volkssturmmänner, Gestalten in blaugrauen Mänteln, mit dem langen Gewehr 98 und Panzerfäusten bewaffnet. Er schüttelte den Kopf. „Mensch, Kühl! Sie werden hier zer­manscht!“ Der Blockwart sagte frierend: „In dieser entschei­denden Stunde gibt es keine Rücksicht auf den einzelnen! Des­halb werden wir...“ – „Abhauen“, sagte Wolzow. „Schnell abhauen werden Sie! Lassen Sie sich in die Oderlinie stecken, dort macht’s die Masse. Hier kommt es auf den einzelnen an! Los, ich gebe Ihnen den Befehl, Sie ziehn sich auf die Oderlinie zurück.“

„Befehl?“ Der Blockwart, das erkannte Holt, schwankte zwischen Mißtrauen und Hoffnung. „Wer sind Sie denn?“ – „Leutnant Wolzow“, sagte Wolzow, ohne mit der Wimper zu zucken, „von der Panzerjagd-Divi...“ Er schwieg mitten im Wort, hob das Gesicht und fuhr mit der Hand unter den Kopf­schützer, um besser hören zu können. „Weg!“ schrie er und sprang mit Riesensätzen zum Wald. Holt warf sich neben Vet­ter ins Unterholz, aber die zwölf Volkssturmmänner und der Blockwart standen noch erschrocken auf der Chaussee, als schon eine Maschine über die Wipfel raste, hochzog, wendete und steil auf die Straße hinabstieß, aus allen Rohren feuernd. Eine zweite Maschine fegte die Straße entlang, Panzersperre und Volkssturmmänner verschwanden in Rauch und Feuer, Geschosse klatschten in den Asphalt. Die beiden Schlachtflieger rasten in Richtung Oder davon.

Holt lief zur Straße. Die Volkssturmmänner standen ver­stört um einen Gefallenen. Der Blockwart war schweißnaß und zitterte. In der Ferne dröhnte Artilleriefeuer. Wolzow fuhr den Blockwart an: „Vielleicht glaubst du mir jetzt! Haut ab!“ Und als der Blockwart noch immer ratlos von einem zum an­deren sah, schob sich der Gefreite in den Vordergrund. „Willst du sie wirklich wegschicken?“ – „Hast du was dagegen?“ – „Ich? Dagegen? Bewahre!“ Er zwinkerte. „Bloß weil es heißt, du möchtest hier gewaltig kämpfen ...“ – „Deswegen will ich das Kroppzeug doch los sein! Das vermanscht mir doch bloß die Disposition!“

„In Ordnung!“ Der Gefreite steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. Dann brüllte er: „Achtung! Lassen Sie antreten, Mann!“ – „Kann er prima“, sagte Vetter. Der Block­wart ließ antreten. „Die Panzerfäuste bleiben hier!“ rief Wol­zow. „Melde mich ab“, sagte der Blockwart stramm, und seine Glieder bebten. „Heil Hitler! Rechts um... marsch!“ Sie sa­hen den Gestalten nach, die mit gesenkten Köpfen durch den Dunst zogen.

Wolzow untersuchte die Panzersperre. „Hat das Ding über­haupt einen Sinn?“ fragte Holt zweifelnd. Der Asphalt war aufgerissen. In den Unterbau der Straße hatte man zwei Reihen starker Baumstämme gerammt. Der Zwischenraum war mit Steinen und Erde ausgefüllt. Die Erde stammte aus einer kleinen Feldstellung, die am Waldrand ausgehoben worden war, aus Löchern und Gräben.

„Jedenfalls müssen die Panzer stoppen“, erklärte Wolzow nachdenklich. „Der T 34/85 fährt auf der Chaussee fünfzig Kilometer pro Stunde, in diesem Tempo triffst du ins Blaue. Vor der Sperre müssen sie die Straße verlassen und nach links auf die Wiese. Rechts geht es nicht, da ist Sumpf.“

„Das Ding taugt nicht viel“, meinte Holt, „die Bombe hatdie Stämme ganz schön schiefgedrückt!“

„Ich hab eine Idee!“ Wolzow schritt die Strecke zwischen Sperre und Waldrand ab. „Fünfzig, sechzig Meter, gut! Sie werden einen Marschabstand von fünfzig Metern halten. Neh­men wir an, der erste Wagen rollt vor die Sperre und hält. Den schießen wir ab. Jetzt kommt der zweite aus dem Wald. Den schießen wir auch ab. Jetzt hat höchstens noch ein dritter Platz, merkst du was? Die stecken im Wald, durchfahren können sie ihn nicht, da sind die Stämme viel zu dick. Wir schießen also die ersten drei ab, dann ist die Ausfahrt aus dem Wald verstopft, und wir können sie nachher aus dem Unter­holz der Reihe nach abknallen. Laß ruhig eine ganze Kompanie kommen; mit denen wird ein Taktiker wie ich fertig!“

„Hm“, machte Holt. Die Rechnung ging gar zu glatt auf. „Der erste Panzer ist am schwersten abzuschießen“, erklärte Wolzow weiter, „aus moralischen Gründen! Vor dem ersten hat man Angst; wenn es gekracht hat und einer hochgegan­gen ist, dann sieht es schon besser aus. Ich brauch also was Idiotensicheres, damit der erste erledigt wird. Wir werden ihn verlocken, einfach über die Sperre wegzufahren, und ich leg mich dahinter und spreng Sperre samt Panzer in die Luft...“ Er untersuchte noch einmal die Baumstämme. „Los! Von jeder Seite eine Panzerfaust dagegen, daß die Erde runtersackt...“ Er kniete schon mit einer Panzerfaust im Straßengraben; die anderen verkrochen sich im Unterholz. Mund auf! Es krachte gewaltig, Holzstämme und Erdreich wirbelten durch die Luft. Der Rauch verzog sich. Durch eine breite Lücke rutschte das Erdreich auf die Straße. „Noch eine von der anderen Seite!“ befahl Wolzow. Holt schoß, probeweise aus der verschneiten Feldstellung am Waldrand. Wolzow besah sich zufrieden die Verwüstung. „Jetzt rollt der erste Panzer kurz entschlossen über den Haufen weg.“

Holt fuhr zusammen. Eine ferne, mächtige Detonation erschütterte die Luft, dröhnte sekundenlang und grollte noch lange nach. Wolzow fluchte. „Jetzt haben’s die Idioten kra­chen gehört und haben die Brücke gesprengt!“ Holt schrie: „Und wie kommen wir zurück?“ – „Irgendwie“, sagte Wol­zow. „Das werden wir dann schon sehen.“

Sie schraubten die Köpfe der Panzerfäuste ab, die von den Volkssturmmännern zurückgelassen worden waren, und häuf­ten sie samt Sprengkapseln auf den Trümmerhaufen der Sperre. „Handgranaten!“ befahl Wolzow. Holt lief zum Auto.

Dort stand der Gefreite und rauchte. Vetter schanzte ab­seits am Waldrand, er verlängerte den Graben bis ins Unter­holz. Holt sagte: „Du könntest ihm helfen!“ – „Blinder Eifer schadet nur“, spottete der Gefreite. Dann wurde er unvermit­telt ernst. „Hör mal, Holt. Willst du hier wirklich...“ Er machte eine Kopfbewegung zur Panzersperre hin; er zwinkerte.

Holt blickte befremdet auf. „Was soll das...“

Der Gefreite sah ihn merkwürdig an. „Na schön“, sagte er. Dann schlug er Holt auf die Schulter. „Nichts für ungut.“

Holt trug die Handgranaten zu Wolzow. Er dachte: Was ist mit dem los? Das ist doch... alles Maske! Er erinnerte sich an die Gesprächsfetzen, die er nachts mit angehört hatte und die nun einen Doppelsinn erhielten... Der ist in Wirk­lichkeit ganz anders!

Wolzow häufte die Handgranaten auf die Panzerfäuste und betrachtete mit schräggelegtem Kopf sein Werk. „Das haut die ganze Sperre kurz und klein! In dem ersten Panzer möcht ich nicht sitzen!“ Er sah zum Himmel. „Schneit wieder, das ist die beste Tarnung.“ Er nahm Holt am Arm. „Den Russen werd ich zeigen, was überlegene Taktik vermag! Ich bring die bes­sere Stellung ins Spiel! Ich nütze das Überraschungsmoment zu meinen Gunsten aus! So kühn, wie ich geplant habe, hal­ten wir hier eine ganze Kompanie auf! Die Sache mit der Panzersperre hätte Moltke eine geniale Aushilfe genannt!“ Holt nahm den Helm ab, zog den Kopfschützer ab und fuhr sich durchs nasse Haar. Aber Wolzows Zuversicht riß ihn doch mit. Er erinnerte sich an das Zeitungsblatt. Die Russen sollen ganz minderwertige Kämpfer sein, dachte er, vor allem die Panzerbesatzungen sollen gar nichts taugen ... Er schnallte den Spaten vom Koppel und half Wolzow, ein Schützenloch jenseits der Sperre auszuheben. Der Tag ging zur Neige. „Von hier schieß ich eine Panzerfaust drauf, wenn der erste Pan­zer mit der Wanne schön über dem Haufen ist!“ sagte Wol­zow. Es dunkelte. „Vetter! Du gehst mit dem MG drüben am Waldrand in Stellung!“ – „Das Auto lassen wir erst mal stehn“, sagte der Gefreite. „Das bring ich in der Nachtschicht weg.“ Vetter blieb als Wache draußen.

In der Hütte spuckte ein kleiner Kanonenofen wohlige Wärme. An den Bretterwänden standen rohe Holzbänke. Durch die Ritzen pfiff der Schneesturm.

Wolzow saß am Ofen. Holt lehnte mit dem Rücken an der Wand und versuchte im Sitzen zu schlafen. Der Gefreite hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen. Ein Hindenburglicht warf flackernde Schatten durch den Raum. Wolzow schmolz Schneewasser, ließ es kochen und brühte Pfefferminz­tee. Gomulka sagte: „Wolzow... Jetzt erklär mir noch mal genau, warum du den Volkssturm weggeschickt hast.“

„Weil die Leute ohne jede Kampfkraft sind“, antwortete Wolzow. „Ich kämpf doch in so einer komplizierten Lage nicht mit Leuten, die eigentlich gar nicht wollen und nur ge­zwungen mitmachen. Das bringt doch nichts ein, auf solche Leute ist kein Verlaß!“

Gomulka stand auf und ging ein paarmal in der kleinen Baracke auf und ab, die Maschinenpistole unter dem Arm. Dann blieb er am Eingang stehen, an den Türpfosten gelehnt. „Du kämpfst nicht mit Leuten ... die nur gezwungen mit­machen und ... eigentlich gar nicht wollen“, wiederholte er stockend.

Holt blickte auf. Gomulka hatte die Maschinenpistole an der Hüfte angeschlagen, sie war entsichert. Der Finger lag am Ab­zug. Die Mündung wies auf Wolzow. Gomulkas Gesicht war kreideweiß.

Was ist... was ist los? dachte Holt.

„Gilt das bloß für den Volkssturm“, hörte er Gomulka fra­gen, „oder auch für andere?“

Wolzow hob den Blick, sah lange auf Gomulka und fragte dann: „Versteh ich dich recht, Sepp?“

„Ja“, sagte Gomulka. „Ich denke, jetzt hast du mich ver­standen... Bleib sitzen, Wolzow!“ rief er, als Wolzow sich bewegte, und fügte hinzu: „Ich hab dir was zu sagen!“

Der Gefreite, in seiner Ecke, in die nur blasses Kerzenlicht fiel, beugte sich nach vorn. Er blickte abwechselnd auf Go­mulka und auf Wolzow und warf dann einen prüfenden Blick auf Holt. Holt saß unbeweglich auf der hölzernen Bank, faszi­niert durch das Schauspiel, das vor seinen Blicken in Szene ging, das er nicht begriff oder nicht begreifen wollte.

„Ich hab mich ... aus einem Grund hab ich mich hierher­gemeldet“, sagte Gomulka, atemlos vor Aufregung. „Ich mach nicht mehr mit. Also, ich geh zu den Russen!“

Es blieb lange still.

Wolzow sagte: „Du hast einen Eid geschworen, Sepp!“ „Ich hab ihn schwören müssen“, rief Gomulka, „man hat ihn mir abgepreßt!“

„Du bist Kriegsfreiwilliger“, sagte Wolzow. „Ein Kriegsfrei­williger kann nicht sagen, daß ihm der Eid abgepreßt worden ist.“

Gomulka atmete so erregt, daß sich seine Schultern hoben und senkten. „Egal! Dann werd ich eidbrüchig!“

„Ein Lump, wer seinen Kriegsherrn im Stich läßt!“ sagte Wolzow in einem kalten und feindlichen Ton.

Aber da brüllte Gomulka los, und die Narbe schwoll in sei­nem Gesicht: „Kriegsherr ... Das ist nicht mein Kriegsherr! Das ist nicht mein Krieg! Du nennst den Hitler deinen Kriegs­herrn und hältst ihm den Eid . . . Ich nenn ihn einen Ver­brecher . . . einen wahnsinnigen Mörder! Ich gehorch nicht mehr! Ich ... hab gekämpft bei der Flak, ich hab geglaubt, es ist für Deutschland . . . Ich hab nicht hören wollen und nicht sehn, wie er alles in den Dreck gezogen hat und Deutschland zur Sau gemacht. .. und wie wir für ihn zu Verbrechern wer­den müssen! Aber dann ist mir’s klargeworden! Und jetzt mach ich Schluß!“

In der Stille, die diesen Worten folgte, erhob sich der Ge­freite in seiner Ecke, aber niemand achtete darauf.

„Ich hab auf dem Hof gestanden“, rief Gomulka leiden­schaftlich, „und wenn es der Böhm befohlen hätte, da war ich zum Mörder geworden an dem Hausmeister, obwohl der recht hatte, als er schoß, denn der Schulze gehörte hin, dieses Un­tier. .. Aber ich sollte drüber zum Mörder werden! Ich laß mich nicht zum Mörder machen von dem! Eh so was wie­derkommt, geh ich! Jawohl... ich geh!“

Schweigen.

„Und du“, fuhr Gomulka ruhiger fort, „du kannst nicht sagen, daß ich was Falsches will, außer daß ich meinen Eid brech! Aber ein Eid, den ich diesem Gesindel geschworen hab, der bindet nicht!“ Und nun schrie er seine Anklage Wolzow ins Gesicht. „Du kannst gar nichts dagegen sagen, Wolzow, überhaupt nichts; denn du weißt alles! Denk an die Sägemühle! Du weißt viel mehr, als du zugibst! Du hast uns nie die Wahr­heit gesagt, wenn sie dir nicht in den Kram gepaßt hat! Du willst uns zugrunde richten, Wolzow, damit du deine Freude am Kriegsspiel hast! Und daß er für eine Lumperei ist, der ganze Kampf, das weißt du am besten! Du weißt alles! Du kennst den Kommissarbefehl, durch den schon dein Vater zum... zum Verbrecher geworden ist, jawohl, zum Verbre­cher! Du kennst den Nacht-und-Nebel-Erlaß, du kennst die ,Endlösung der Judenfrage’, du weißt genau, was Auschwitz ist, du hast die Zähneeinschläger bei der Gestapo in Essen selber gesehn! Du weißt überhaupt alles! Denn es steht alles in den Tagebüchern deines Vaters. Deine Mutter hat es da­heim vielen Leuten erzählt, und du weißt auch, daß dein Va­ter seine Offiziersehre tausendfach besudelt und geschändet hat!“

Der Schein des Hindenburglichts flackerte noch trüber über Wolzows Gesicht, das nun weiß wie die gekalkte Barackenwand war. Aber Gomulka schwieg noch immer nicht. Es brach aus ihm hervor und wollte gesagt sein: „So einem Führer bin ich keine Treue schuldig! Ich mach nicht mehr mit! Und jetzt gib mir dein Wort, Wolzow, daß du mich gehn läßt!“

Wolzow stand auf und legte die Rechte auf die Pistolen­tasche. Er wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung zu Gomulka herum. Die Mündung der Maschinenpistole war auf seine Brust gerichtet. „So nicht“, sagte er drohend. Er sah mit einem dunklen Blick auf Gomulka. „Nimm die MP weg! Ich zähl bis drei.“

„Und dann? Was ist dann?“ schrie Gomulka.

„Dann knall ich dich ab ... Eins ...“

„Ich schieß!“ schrie Gomulka außer sich. „Eh ich einen Schuß auf die Russen abgeb, schieß ich dich zusammen, es ist mein heiliger Ernst! Du weißt, daß ganz Deutschland wie die Sägemühle ist, Wolzow, und du willst weiterkämpfen, damit die Sauerei nicht ans Licht kommt...“

„Zwei.. .“, zählte Wolzow, ging einen Schritt auf Gomulka zu und duckte sich zum Sprung.

„Wolzow!“ schrie Gomulka, und die Hand am Abzug krampfte sich schon zusammen. Holt warf sich dazwischen. Er begriff nur eins: Sepp wird schießen! „Wahnsinnig seid ihr! Die Maschinenpistole weg! Gilbert... zurück! Eh ihr auf­einander schießt...“ Er wußte nicht, was er tat, er riß eine Handgranate aus dem Koppel und hielt schon die Schnur in der Faust. „Ich zieh ab!“

Gomulka senkte widerwillig den Lauf der Maschinenpistole und sagte dabei: „Ich geh! Mich hält keiner! Und ich laß mich nicht von Wolzow abknallen!“

„Gilbert!“ rief Holt. „Zum ... zweitenmal im Leben erinner ich dich ... du hast mir geschworen ...“

„Ich knall ihn ab, den Lump, den Verräter“, sagte Wolzow haßvoll. Die Waffe, die noch immer auf ihn gerichtet war, er­regte ihn mehr und mehr. Holt schrie: „Sepp! Die MP weg!“ Gomulka gehorchte zögernd. „Gilbert... setz dich dort hin!“ Wolzow setzte sich endlich, Wut in den Augen. Holt atmete auf. Als er sich umwandte, sah er den Gefreiten in der Ecke den Karabiner absetzen.

„Läßt du ihn gehn?“ fragte Holt. Wolzow schwieg und warf wortlos ein paar Holzscheite in den Ofen. Gomulka hängte die Maschinenpistole um den Hals.

Jetzt erst erfaßte Holt die volle Tragweite dessen, was Go­mulka vorhatte. „Die Russen!“ rief er. „Die schlagen dich tot! Sie bringen doch alle um!“

Da rief der Gefreite in der Ecke: „Hör auf! Hör mit dem Schwindel auf. Ich hab das lange genug herunterschlucken müssen!... Ja ... im Nahkampf, wenn dir’s da plötzlich ein­fällt, dann ist es längst zu spät, längst! Aber nicht, wenn wir ruhig ankommen, mit einem Auto, und ich kann ein paar Worte Russisch ... Was meinst du, wie die sich da freuen!“

Sie sahen alle auf den Gefreiten. Gomulka fragte verwun­dert: „Wir?“

„Ja ... was denkst du denn von mir! Was meinst du denn, warum ich mich freiwillig gemeldet hab! Panzerjagd? Nie! Bei mir ist Generalstreik, mein Lieber, aber nicht Krieg. Krieg ist einwandfrei Fehlcharge bei mir!“

Holt sah auf den Gefreiten und sah auf Gomulka. Eine Ahnung dämmerte in ihm, ganz fern zeichnete es sich ab wie ein Weg... Und nun sagte Gomulka: „Werner...“ Und sagte: „Komm mit!“ Nur diese drei Worte.

Da hob Wolzow den Kopf und sah Holt an.

Holt schwieg.

„Komm mit!“ sagte Gomulka noch einmal.

Holt schwieg.

Der Gefreite rief: „Besinn dich nicht lange, los!“

„Ich kann nicht!“ rief Holt. Im Bruchteil einer Sekunde lie­fen all die eingedrillten Begriffe durch seine Gedanken: Va­terland, Treue, Ehre, Pflicht. „Ich kann doch nicht zu den Russen! Ich bin doch Deutscher!“

„Junge!“ rief der Gefreite. „Mach Schluß mit den Phrasen! Damit haben sie die Arbeiter lange genug aufeinandergehetzt! Sieh endlich ein, wer unser Todfeind ist!... Es heißt nicht: Russen und Deutsche, sondern es heißt immer noch: Bour­geois und Proletarier! Bist du Fabrikbesitzer? Heißt du Krupp? Also! Worauf wartest du?“

„Bourgeois und Proletarier ...“, sagte Holt, „was soll mir das! Damit kann ich nichts anfangen! Wir sind alle Deutsche!“

„Auch deine Gundel“, sagte Gomulka. Holt senkte den Kopf.

Die Dunkelheit des kleinen Raumes war auf einmal wie ein Vorhang vor seinen Blicken aufgezogen. Gleißende Helle war da, und sie blendete ihn, sonnendurchglühte Landschaft, blauer Himmel über wogendem Korn. Und Gundels Stimme: Auch ich bin schon angespuckt worden, nun weißt du’s, alle waren besser als ich und haben auf mich geschrien: Dreckstück.

Dann war wieder Dunkel, vom Licht der Kerze durchflackert.

Gundel, Deutsche, solche und solche, Deutsche bespucken Deutsche, die einen zittern vor dem Ende, die andern warten auf das Ende. Zu welchen gehör ich?

„Gilbert!“ rief Holt. „So sag du doch was!“ Wolzow erhob sich. Er setzte den Helm auf und zog den Riemen fest, daß er ins Fleisch schnitt. „Ich geh den Vetter ablösen. Und du, Werner? Wer noch Mark in den Knochen hat, der kämpft!“

„Und wofür?“ schrie der Gefreite, nach vorn geneigt, und in seinen Augen glühte ein Haß, wie ihn Holt im Leben nur ein einziges Mal gesehen hatte, damals, im Schuppen, als sie das Beil hob, und diese Erinnerung stieß ihn noch tiefer in die Verzweiflung.

„Für wen? Für Krupp und die IG und alle die Blutsauger, damit das faschistische Gesindel noch ein bißchen länger leben und die Völker schinden kann! Dafür kämpfst du!“

Wolzow tippte mit dem Finger unter dem Helmrand an die Stirn. „Ich will dir sagen, wofür! Kapieren wirst du Stückchen Plebs es doch nicht!“ Er ging zur Tür. „Für meine Soldaten­ehre!“ Er warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Der Gefreite sprang auf, er wies mit der ausgestreckten Hand zur Tür. „Das sind sie! So sehn sie aus, die Halsab­schneider, die Verrückten, das Generalsgesindel und Junker­pack! Sie sind genauso schlimm wie die Faschisten! Sie sind noch schlimmer! Die Faschisten verschwinden, die fliegen auf den Schrotthaufen, und zwar bald, die warn nicht lebensfähig, jawohl, Fehlcharge ... fort! Aber das Militaristengesindel, das ist zäher, das will nicht aussterben, das lebt weiter, das hetzt weiter, das mordet weiter!“

„Sei doch still!“ sagte Holt. Er sah auf Gomulka und hörte ihn noch einmal sagen: „Komm mit, Werner!“

Holt stand auf. War doch alles vorbei! Er band den Helm fest und nahm die Maschinenpistole. „Ich kann nicht.“

„Werner! Mach die Augen auf! Eh es zu spät ist!“

Holt sprach gegen die Wand. „Ich kann nicht. Ich hab einmal alles geglaubt, weil ich nichts gewußt hab. Jetzt, wo ich alles weiß, und alles war falsch und umsonst und ganz an­ders, da kann ich nichts mehr glauben. Ich werd draufgehn, oder ich werd einmal dastehn als... Verbrecher, mag sein, es ist alles gleich. Nur eins darf nie sein: daß ich vielleicht doch einmal aufwach und sehen muß ... ich hab Deutschland verraten in seiner schwersten Stunde.“

„Deutschland?“ rief der Gefreite. Er trat vor Holt hin und packte ihn am Arm. „Du nimmst mir das Wort nicht in den Mund! Hitlers schwerste Stunde, meinst du, jawohl... aber das wird Deutschlands schönste sein!“ Er schob ihn zur Tür. „Hau ab, Bourgeoissöhnchen!“

Holt trat verstört ins Freie.

Es schneite nicht mehr. Der frischgefallene Schnee lag knie­hoch und war an der Straße zu weißen Dünen verweht, über die noch immer ein eisiger Wind pfiff. Der Himmel war stern­klar.

Vetter und Wolzow standen am Rande des Waldes, wo sich der Wind in den Bäumen verfing. Wolzow sagte: „Na also, Werner! Ich hab’s ja gewußt!“ – „Sei still“, sagte Holt. Dann zog er die weiße Kapuze über den Helm. Vetter rief: „Also, der Sepp, der muß ja übergeschnappt sein! Wo das doch noch gar nicht feststeht, ob wir den Krieg verlieren! Nach­her kommen die neuen Waffen, und wir gewinnen! Na, dann haben sie den Sepp aber am Arsch!“ – „Halt den Mund!“ rief Holt. Wolzow erklärte: „Christian, du sicherst mit dem MG am Waldrand, du läßt aus dem Panzer keinen aussteigen, das ist deine Hauptaufgabe! Ich lieg hinter der Sperre. Werner, du gehst vorn am Waldrand in ein Loch und schießt auf den zweiten, sobald er aus dem Wald kommt.“ Holt nickte wortlos.

Die Mondsichel stieg über die Wälder. Der Schnee glänzte in weißem, gespenstischem Licht. Die Landschaft war wie ver­schleiert.

Gomulka und der Gefreite verließen die Baracke. Holt ging zu den beiden hin. Wolzow stand auf der Straße. Der Wind schlief ein. Gomulka zog ein kleines Kärtchen aus der Ta­sche, ein Bild seiner Mutter. „Schick das meinem Vater, Wer­ner. Kannst schreiben, du hättest es mir selber abgenommen, er weiß auch so Bescheid, wenn ich hier die obere Ecke ab­reiß.“ – „Nichts als weg!“ sagte der Gefreite. „Los, abstechen, ehe die Charge rückphosphort... eh der Kerl wieder verrückt spielt, mein ich.“ Er befestigte einen Fetzen Bettuch an einem Ast und ließ den Motor des Wagens Warmlaufen.

„Leb wohl, Werner!“ sagte Gomulka.

Holt lief zu Wolzow. Wolzow hielt die entsicherte Maschi­nenpistole in den Händen, und sein Gesicht war verzerrt. Aber Holt stellte sich dicht vor ihn hin, bis hinter seinem Rücken der Wagen mit aufheulendem Motor auf der verschneiten Chaussee davonrollte.

Wolzow sagte finster: „Es war das letztemal, daß ich mich hab beim Wort nehmen lassen, damit du’s weißt! Mein Sol­dateneid geht über den kindischen Schwur von damals. Von jetzt ab wird jeder Verräter umgelegt, und wenn’s mein eige­ner Bruder wär!“ Wolzow und Vetter gingen in die Baracke. Holt blieb am Waldrand stehen. Die Leere in ihm füllte kein Gedanke, keine Hoffnung mehr aus.

 

Es war gegen sechs Uhr morgens, als Holt zusammenschrak. Er horchte. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, daß er lange Zeit nichts vernahm. Dann war es wieder da, das ferne, leise Klirren. Ein dunkler Brummton summte dazwischen. Pan­zer!

Er lief schreiend zur Baracke. Wolzow und Vetter fuhren aus dem Schlaf, warfen das Sturmgepäck auf den Rücken, Gasmaske, Koppel, fertig! „Christian... ans MG!” Vetter hetzte über die Wiese.

„Still!“ Das Klirren näherte sich. Es war nicht festzustellen, in welcher Richtung die Panzer fuhren, es klirrte im Osten, es klirrte im Süden, lauter und lauter. Dann blieb es als gleich­mäßiger Ton im Norden und Südosten, wohl eine Stunde lang, ohne näher zu kommen.

„Was müssen das für Panzermassen sein!“ sagte Holt. Wol­zow antwortete: „Aber die kommen nicht hier lang, sonst wären sie schon da, sie stoßen wohl südlich auf Brieg und im Norden durch Namslau nach Oels... Vielleicht kommen hier bloß ein paar Einzelgänger vorbei!“

Sie kamen, als fahles Morgenlicht über die Wälder stieg: dreizehn Panzer T 34, dicht gefolgt von einem Dutzend Schüt­zenpanzerwagen mit Infanterie. Der Stoß traf die drei Jun­gen mit der elementaren Gewalt einer Naturkatastrophe. Es dauerte nur eine Minute.

Plötzlich schwoll das Klirren der Panzerketten, das Sum­men der Motoren an und kam rasch näher. Holt kroch in sein Loch, Wolzow verschwand hinter der Sperre. Der erste Pan­zer, in ohrenbetäubendes Gerassel gehüllt, raste aus dem Wald, sah die zertrümmerte Barrikade und bremste scharf. Dann nahm er mit aufbrüllendem Motor das Hindernis an. Holt, wie hypnotisiert, sah das stählerne Ungetüm auf die Sperre klettern... da traf ihn zugleich mit einem grellweißen Licht­blitz die Druckwelle wie ein Keulenschlag und warf ihn in sein Loch. Die Detonation war gewaltig, fuhr wie ein Orkan in die Bäume des Waldes und brach mit hohlem Ächzen ein paar Stämme... Ein pfeifender Luftsog trieb Rauch und Schnee zum Himmel hoch und fetzte die Dunstwolke ausein­ander. Die Sperre war weggefegt. In einem flachen Trichter, zur Seite gesackt, lag qualmend der Panzer. Wolzow taumelte über die Wiese. In diesem Augenblick rollte der zweite Panzer aus dem Wald, und Wolzow flüchtete. Der Panzer drehte sich mit einem einzigen Ruck um neunzig Grad und stieß schon von der Chaussee auf die Wiese hinab. Holt sank in sein Loch. Eine MG-Garbe warf Schnee und Erde auf ihn, dann rollte der Panzer über ihn hinweg und gegen den Graben. Holt tauchte auf, feuerte seine Panzerfaust ab und traf viel zu nied­rig. Die Druckwelle warf ihn zu Boden. Aus dem Heck des Panzers troff brennendes Öl. Aber der Turm schwenkte mit unheimlicher Geschwindigkeit nach hinten. Holt kroch ins Ge­büsch am Waldrand. Krachend barst eine Sprenggranate zwischen den Bäumen. Nun schmetterten zwei Panzerkanonen zu­gleich, denn der dritte Panzer war weit nach vorn auf die Straße gerollt, mit seitwärts gedrehtem Turm, aus dem Rohr fuhr ein meterlanger Flammenstrahl. Dann war schon mit ent­nervendem „Urrä“ ein Zug abgesessener Infanterie über ihnen.

Holt hatte das Grabenstück erreicht, dort feuerte Vetter mit dem MG blindlings über die Lichtung. Eine Handgranate überschüttete sie mit glühenden Splittern. Zwei, drei Gestal­ten in Schneemänteln waren am Graben, sie schössen im Lau­fen, Feuer spritzte, Erde stiebte. Vetter floh nach hinten in den Wald. Holt prallte mit Wolzow zusammen. Wolzow floh. Dichtes Unterholz nahm sie auf. Holt rannte tiefer in den Wald.

Sie wurden nicht verfolgt. Der Feuerlärm war verstummt. Sie hielten atemlos und horchten: Motoren dröhnten, Panzer­ketten klirrten, rasch schwächer werdend, nun schon wieder weit entfernt.

„O verdammt!“ keuchte Wolzow. „O gottverdammt...“

Holt lehnte mit jagendem Herzen an einem Baum. Was nun? Er zitterte noch immer. „Nichts als zurück!“ befahl Wol­zow. „Vielleicht schaffen wir’s noch irgendwie über die Oder!“ Er rückte sich das Koppel zurecht. „Unseren Kampfauftrag haben wir jedenfalls erfüllt: Panzer aufhalten, solange es geht. Länger ging’s nicht.“

Flucht. Nach Westen durch die Wälder, über brechendes Eis der Sümpfe, uferlose Felder und durch struppiges Dickicht. An der Oder rollte der Donner einer Kanonade aus Panzer­kanonen. Nach Stunden erreichten sie den Strom, dicht unter­halb der kleinen Stadt. Nur zwei Kilometer aufwärts sahen sie die Panzerspitze am Ufer, bei der gesprengten Brücke. Der Donner der Kanonen, die flach über den Strom feuerten, war so laut, daß sie sich nicht mehr verständigen konnten. Am an­deren Ufer brüllten dann und wann die 15-Zentimeter-Langrohre auf. Als ein Sturmboot die drei über den Strom holte, durch Packeis und treibende Eisschollen, setzte stromaufwärts schon die Infanterie über und stürmte den Damm. Die Langrohre schwiegen.

 

 

9.

Holt kletterte die steile Uferböschung hoch. Er war in einem solchen Maß demoralisiert, daß er sich am liebsten in einer Schneewehe verkrochen hätte. Er wankte den ersten ländlichen Häusern der Stadt entgegen und schob im Laufen ein paar Täfelchen der koffeinversetzten Schokolade in den Mund. Die lähmende Erschöpfung ließ ihn das Kommende wie im Halb­schlaf erleben: ein Auffangkommando, ein Haufen herunter­gekommener Gestalten, Volkssturm, halbinvalide Reservisten, schlecht bewaffnet... in einem Gehöft Sammeln zum Gegen­stoß! Ein Leutnant voran, durch Gärten, durch winklige Gas­sen, dann die breite Straße hoch zur Brücke... Schlachtflie­ger, Splitterbomben, Motorengedröhn und Bordwaffenfeuer ... Tote, überall Tote... der Leutnant bewegungslos im Schnee... Wolzows Stimme: „Zurück!“ Ein Haus am Straßenrand... Wieder Wolzows Gebrüll: „Sie greifen an!“ Von der Brücke her, locker geordnet, in Schneemänteln, stürmende Infante­rie...

Holt kniete keuchend hinter dem Fensterloch eines niedrigen, erdgeschossigen Hauses. Wie durch einen Schleier sah er Wolzow ein neues Magazin in die Maschinenpistole einsetzen. „Zurück!“ Flucht durch Gärten... Wieder in einem Haus festgekrampft... Ein Dutzend zermürbter Gestalten, führer­los, waffenlos, ist das die Truppe? Und nun das Heulen der Granaten, berstende Einschläge, fern vom rechten Oderufer her Abschüsse von Feldgeschützen ... Schlachtflieger, dröh­nende Motoren, das Hämmern der Bordkanonen, Flucht von Haus zu Haus, hinwerfen, auf und hinwerfen, Christian, gib mir ein Magazin, nur noch Einzelfeuer, schieß doch! Da!... Und wieder Wolzow: „Zurück!“

Im Keller eines Hauses an dem kleinen Marktplatz kam Holt zu sich. Die angreifende Infanterie ließ sie zur Besinnung kommen, stieß nicht weiter vor. „Jetzt setzen die erst einmal Truppen über, Panzer, Artillerie“, sagte Wolzow. „Prima Brückenkopf“, meinte Vetter. Ein Donnerschlag ließ den Keller erbeben, das Dach rasselte auf die Straße. Schlachtflie­ger strichen über die Ruinen. Wolzow schickte Vetter ins Un­gewisse.

Nach einer Stunde keuchte Vetter mit einer Kiste Pistolen­munition in den Keller. Im Halbdunkel saßen Volkssturmmän­ner bewegungslos an den Wänden, stumpf, wie tot, unfähig zur Flucht. Wolzow fuhr sie hart an, ließ die Magazine fül­len. Ab und zu schlugen aus den gegenüberliegenden Häusern Schüsse gegen die Ziegelwände.

„Was ist draußen los, Christian?“

Vetter setzte die Feldflasche ab. „Das solln sibirische Schüt­zen sein, die uns angreifen, Russen aus Sibirien, mit einer be­sonderen Nahkampfausbildung, solche Sturmspezialisten! Hier ist fast alles getürmt. Aber in Strehlen . . . Gibt’s das? Da soll heut nacht eine Division losgeschickt worden sein, mit Panzern, wir sollen aushalten, bis sie kommen.“

„Die müßten längst hier sein“, sagte Wolzow.

Aus den gegenüberliegenden Häusern schlug heftiges Feuer. Holt hockte apathisch in einer Ecke. Er dachte an Gomulka. Wolzow brüllte: „Raus!“ Auf den Markt rollten die ersten Panzer. Sprenggranaten krachten in die Keller. Flammen, ein­stürzende Häuser. Klirrende Panzerketten überall. Panik. Re­gellose Flucht.

Eine kleine, beschädigte Holzbrücke, davor ein schreiender Menschenhaufen, in den die Panzer hineinstießen. „Nach links!“ kreischte Wolzow. Breit und offen eine Straße, bren­nende Häuser. Holt wußte nicht, was er tat, er handelte wil­lenlos, aber sein Blick nahm alles auf: Wieder, in weißen Schneemänteln, dicht hinter ihnen, die stürmende Infanterie. Panzer folgten nach, überholten sie feuernd. Rechts das Gelände einer brennenden Gasanstalt, Wolzow floh voran, Vetter wie ein Schatten an seiner Seite... Hinter verschneiten Koks­haufen eine leichte Pak, zwei ältere Artillerieoffiziere knieten dabei, die Pak feuerte, der erste Panzer walzte Kanone und Bedienung in den Koks... Hinwerfen! Hinter einer umge­stürzten Kipplore rang Holt nach Luft, ließ den Panzer vor­überrollen, schoß auf die nachfolgende Infanterie. Flucht. Ein Bretterzaun! Verzweifelter Sprung. Er fiel samt den Plan­ken auf die Straße. Brennende Villen. Panzer vor ihm, links, überall... Eine Tankstelle, aus der fauchend ein Riesenfeuer schlug. „Schneller!“ Wolzow war neben ihm, Vetter folgte. Eine Parkanlage, in der Sprenggranaten krepierten. Große, zugefrorene Teiche, splitterndes Eis unter den Stiefeln. End­lich ... der Bahndamm!

Hier hielt die Garnisonstruppe eine Feldstellung. Wolzow, Holt und Vetter krallten sich am Bahndamm fest. Hundert Me­ter rechts lag der Bahnhof, dahinter, am Bahnübergang, roll­ten die Panzer ungehindert über die Gleise, gewannen die Chaussee und jagten weiter. Fern, in Holts Rücken, wurden sie von ein paar Feldgeschützen empfangen. Das Duell der Geschütze schwoll bei sinkendem Abend zu einer mächtigen Kanonade an.

Holt lag keuchend und tödlich erschöpft im Schnee. Es dämmerte. Die Infanterie in den Schneemänteln stürmte den Bahndamm. Nahkampf. Und wieder Flucht: das Eis eines kleinen Flusses barst. Flucht durch eine tief verschneite Ebene, baumlose Weite, nur kahles Weidengebüsch, bis weit nach Westen. Hinter ihnen verstummte das Schießen.

Sie wankten zurück. Ein Haufen müder Soldaten scharte sich um Wolzow, geschlagene, zerlumpte Gestalten. Der Frost wurde noch grimmiger. Schneesturm setzte ein.

Sie erreichten ein Dorf.

Hier gab es einen Gefechtsstand, gab es Offiziere, Truppen, Pak und Feldgeschütze, Depots mit Munition. Vetter brachte eine warme Feldküchenverpflegung. Holt saß im Schnee. Vet­ter reichte ihm ein Kochgeschirr mit Erbsen.

„Der Russe!“ Geschrei, Schüsse, im Dorf beginnende Pa­nik. Nichts geschah, Wolzow fluchte: „Die sehn Gespenster!“

Weit vor dem Dorf im Weidengebüsch bezogen sie Stel­lung. Noch einmal flammte das Gefecht auf. Die Schützen in den Schneemänteln rückten in der Dunkelheit vor und nahmen das Niederungsgelände in Besitz. Einen Kilometer vor dem Dorf wurde eine improvisierte Hauptkampflinie gehalten. Fern klirrten Panzer durch die Nacht. Die Hauptkampflinie war nichts als ein paar eilig ausgehobene Schützenlöcher hinter kahlen Weiden, von den Resten ausgebluteter Alarmeinheiten besetzt. Holt grub sich ein. Neben ihm schanzten Wolzow und Vetter. Sie verbanden ihre Schützenlöcher zu einem Graben­stück und hockten nun eng beieinander. Seit Stunden sprach Holt das erste Wort. „Gib mir Feuer, Christian!“ Der Funke des Feuerzeugs sprang auf. Die kleine Flamme brannte ruhig hinter der hohlen Hand.

„Da sind wir aber mitten in den dicksten Matsch geraten“, sagte Vetter.

Holt starrte ins Dunkel. Nicht klagen! Ich könnte auch ir­gendwo mit Bauchschuß liegen. Mit abgewalzten Beinen. Als Treibeis in der Oder. Nicht klagen! Ich hab’s nicht anders ge­wollt.

Wolzow erhob sich und schlug die Arme um den Körper. „Komm, Werner... ins Dorf! Vielleicht klappt’s mit Papie­ren.“ Auf dem Weg redete er vor sich hin. „Die bringen jetzt Panzer rüber, immer mehr Panzer, Ari, Granatwerfer. Morgen setzen sie Schlachtflieger ein.“ Sie stapften durch den Schnee.

Im Dorf vor dem Gefechtsstand hielten Lastwagen. Dort stand ein bulliger Kerl im Dunkeln, sein weißer Tarnmantel leuchtete. „Der Burgkert! Herr Oberfeld!“

„Ach! Lebt ihr auch noch?“ Der Oberfeldwebel war nüch­tern. „Mich haben sie nach Brieg geschickt. Dort sollte unsere Elfte liegen.“ Er spuckte aus. „Scheiße lag dort!“ Ein paar Offiziere verschwanden im Haus. „Das Bataillon will türmen“, sagte Burgkert. „Sie laden schon ihre Privatvorräte auf.“

„Was gibt’s Neues an der Oderfront?“ fragte Wolzow. „Niemand weiß Bescheid.“

Der Oberfeldwebel war mürrisch und böse. „Frag nicht so dämlich! Hilf mir lieber, ich such Leute. Wir greifen an!“

„Angreifen?“ rief Holt entsetzt. „Aber das ist...“ – „Der Führer soll’s persönlich angeordnet haben, daß der Brücken­kopf heute nacht zu zerschlagen ist.“

Eine Schar Offiziere trat ins Freie. Ein Hauptmann, mit dem spitzen Kinn eines Greises unter eingefallenen Kiefern, sagte zu Burgkert: „Sie kämmen das Dorf durch! Da steckt alles voll Drückeberger!“ Er verschwand. Burgkert sagte wütend: „Affenarsch! Ein verramschter Kapitän von einem Fliegerhorst. Keine Ahnung! So was will rumkommandieren!“

Er rührte sich nicht vom Fleck. Ordonnanzen trugen Ge­päck auf den LKW. Kaum waren die beiden Soldaten wieder im Haus, da sprang Burgkert zum Wagen, zerrte eine kleine Kiste herab und lief damit weg. Wolzow schüttelte den Kopf. „Das nenn ich marodieren!“ Burgkert stand abseits und stopfte sich eine Flasche Kognak in die wattierte Jacke. „Holt, Sie tragen die Kiste in Ihr Loch! Gut aufpassen, daß keine Flasche verlorengeht. Wird alles noch gebraucht. Wolzow, Sie kom­men mit, Leute suchen!“

 

Die verwilderten Soldatenhaufen wurden zu einem „Sturm­bataillon“ zusammengefaßt und in den Löchern und Gräben vor dem Dorf bereitgestellt. Gegen drei Uhr morgens begann in ihrem Rücken die Feldartillerie zu feuern. Als Antwort fiel ein Hagel von Granaten ins Dorf. Häuser und Ställe und Scheunen barsten. Die Munitionsdepots gingen in die Luft, die Feldartillerie verstummte. Das Dorf brannte.

Holt saß in seinem Loch, die Zeltbahn über den Kopf ge­zogen. Wolzow schob ein MG zu ihm hin. Burgkert sah auf die Uhr. Er war aufgeräumt, sein Baß grollte wieder tief und mächtig. „Wir sind erste Welle“, sagte er. „Holt, mit dem MG schön sauber nachziehn.“ Er reichte Holt die Kognak­flasche, packte sechs Schnapsflaschen in Decke und Zeltbahn, schnallte das Paket mit Riemen fest und befestigte es auf dem Rücken. „Fertig!“ Er sah wieder auf die Uhr und hob die Leuchtpistole. Eine grüne Leuchtkugel stieg in die Nacht. Fah­les, geisterhaftes Licht.

Trunkenheit breitete sich wie Nebel über Holts Sinne aus. Er kletterte aus dem Graben und lief schwerfällig durch den tiefen Schnee. Vereinzelte Schüsse. Warum... feuern die nicht? „Weiter!“ Das war Burgkert. Hurra, wer schreit da Hurra? Dort... der Graben! „Stellung!“ Hinwerfen! Vor ihm Gebrüll, Schüsse, Detonationen von Handgranaten. Rote Leuchtkugeln, was soll das? Holt lief. Vetter keuchte neben ihm, sie warfen sich zu Wolzow in den Graben. „Die Stel­lung war so gut wie leer!“ rief Wolzow. „Weiter!“ schrie Burgkert. Holt lag hinter dem MG. Leuchtkugeln! Eine jäh­lings hochschlagende Welle von Feuer und Geschrei fegte über ihn hinweg.

Aus der Tiefe der Nacht, aus der weiten Flußniederung, prallte der Gegenstoß stürmender Infanterie auf den vorspü­lenden Angriff. Sturmtrupps, das Bajonett gefällt, im Laufen aus Maschinenpistolen feuernd, tauchten aus dem Dunkel und zertrümmerten, zerrieben die Angreifenden, fegten über ihren Graben hinweg und weiter nach Westen, warfen sich auf die zweite Angriffswelle, brachen ins Dorf zwischen die brennenden Häuser, stießen auf die letzten zusammengewürfelten Haufen, und es gab kein „Sturmbataillon“ mehr, gab keine Reserven mehr, und die Reste der Alarmkompanie flo­hen regellos nach hinten. Weit im Rücken der ehemaligen Front blieben ein paar überlebende zurück, in Löchern, zwi­schen Büschen, nach allen Seiten Front.

Holt lag im Graben, neben ihm ein erdfarbener Leichnam. Der Stoß war über Holt hinweggegangen wie ein grauenvol­ler Spuk. Schatten und Schemen waren im Licht der Leucht­kugel vor ihm aufgetaucht, die Maschinengewehrgarbe peitschte ins Leere, die Schattengestalten sprangen über ihn hinweg, ein Bajonett fuhr zu ihm herab, die Kugel der erhobenen Parabellum warf einen schweren Körper auf Holt. Der nach hinten flüchtende Wolzow fiel in das Loch, riß das MG hoch und zerrte schließlich den Leichnam zur Seite. Auch Vetter und Burgkert kehrten zurück. Wolzow keuchte: „Wie die Teu­fel... Wie die leibhaftigen Teufel!“ Burgkert schrie: „Nicht liegenbleiben! Zurück!“

Versprengte schlossen sich an, Männer mit flackernden Augen, und an dem brennenden Dorf vorbei flüchteten sie nach Westen, bis ihnen Feuer entgegenschlug. „Durch!“ brüllte Burgkert. „Durch! Hurra!“ Die Schützen in den Schneemänteln waren dabei sich einzugraben, warfen die Spaten weg und griffen zur MP. Handgemenge. Urrä und Hurra in einem. Schmetternde Detonationen von Handgrana­ten, splitternde Kolben, Miindungsfeuer. Holt stolperte, fiel aufs Knie. Die Maschinenpistole verschaffte ihm Luft. Vor ihm war Dunkel. Flucht!

Dann endloses Wandern über die Ebene, über der mil­chigweiß ein eiskalter Morgen empordämmerte. Holt tau­melte durch den Schnee. Es gab keine Gedanken mehr, nur noch furchtbare Bilder, Entsetzen, das sich in die Seele hin­einfraß für immer.

Sie rasteten an einem Wäldchen bizarr geformter, kahler Weidenstrünke. Alle Feldflaschen waren voll Schnaps. Trink, sauf, das hilft! Das gibt die Moral zurück. Jetzt fielen wieder Worte. „Junge!“ stöhnte Burgkert. „Drei Trupps auf einen halben Kilometer, aber die hält keiner auf!“ Wolzow trank.

Holt malte mit dem Löffelstiel Striche in den Schnee. Burgkerts Worte spülten Gedanken aus der Erschöpfung hoch.

Und wir? dachte er.

Wir werden geschlagen. Wir sind gut ausgebildet und be­waffnet, der Burgkert hat Kampferfahrung wie keiner, wir kämpfen verzweifelt. Aber wir werden geschlagen, gejagt, überrannt. Warum? Ich bin wie gelähmt. Ist es das Bewußtsein des... Unrechts? Ist es, weil wir wissen: Alles war falsch?

Und sie?

Versetz dich einmal in so einen hinein... Das hatte Gomulka gesagt, irgendwann... Versetz dich in so einen, dem die SS die ganze Familie erschlagen hat... Und: Sie haben nicht angefangen!... Er dachte, die erstarrenden Beine in den Schnee gestreckt: Wir sind mit sieggewohnten Truppen über sie hergefallen und haben an der Wolga gestanden und im Kau­kasus, und keiner von uns hätte mehr einen Groschen für diese Armee gegeben. Aber sie sind aufgestanden und haben uns geschlagen, immer wieder geschlagen und haben uns vor sich her getrieben, dreitausend Kilometer weit, und sind im­mer stärker geworden, immer stärker, und jetzt sind sie über die Oder.

Und da wird keiner dabeisein, der denkt wie ich: Alles um­sonst. Der heimlich weiß: Das darf nicht sein, daß so was siegt. Der sich sagen muß: Alles war falsch.


Date: 2015-12-24; view: 943


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