Wolzow blickte zu Holts Bett hoch und sagte: „Werner! Mensch!“
„Herr Leutnant“, sagte Holt, mit einer fremden Stimme, „ich auch.“
Aber nun blieb alles still. Der Leutnant sagte: „Ihr vier... Ich hab’s mir gedacht, Kameraden, ich danke euch. Ihr schlaft morgen aus, solange ihr wollt. Zwölf Uhr Schreibstube, Laufzettel holen. Gute Nacht.“
Holt sprang aus dem Bett. Revetcki stand in der Stube und schrie: „Und die anderen? Die anderen!? Kerls, wollt ihr denn ewig leben?“ Holt suchte Briefpapier im Spind. Revetcki schrie: „Ihr sollt es be-reu-en! Die Panzerjagd ist kurz, aber eure Reu ist lang! Ab morgen gewöhne ich euch den Selbsterhaltungstrieb ab, ihr Schweine, ihr trichinösen!“ Er warf krachend die Tür zu.
Holt schrieb. Jemand rief: „Licht aus, wir müssen in drei Stunden raus!“ Wolzow, der eine Liste für die Kleiderkammer entwarf, sagte: „Knäblein, halt deine Schnauze!“ – „Jawohl!“ sagte der Stabsgefreite Kindchen befriedigt. Er rief, von seinem Bett her: „Gib’s ihnen feste! Wenn ich nicht leider ein steifes Knie hätte, also wie ich hier lieg, so kam ich sofort mit!“
Holt schrieb: „Liebe Gundel! Ich geh morgen an die Ostfront zur Panzerjagd. Ich hab mich freiwillig gemeldet. Ich weiß nicht, warum.“
Er überlegte. Ich tu’s für Dich, wollte er schreiben.
Für Gundel?
Er hörte seine eigene Stimme sprechen und dann die Stimme des Rechtsanwalts Gomulka. Warten, worauf? ... Daß der Märchenprinz unser verwunschenes Kind bald befreie ...
Er starrte auf das weiße Papier. Alles falsch, dachte er. Alles falsch.
8.
Der Laufzettel schrieb vor: Abteilungsrevier, Kleiderkammer, Waffenkammer, Schießunteroffizier, Furier, Hauptfeldwebel und so weiter. Der Stabsarzt im Revier untersuchte sie flüchtig. „Kerngesund“, sagte er. „Panzerjagd ist das beste Mittel gegen Alterskrebs.“ Die Kleiderkammer war das Klatschzentrum der Abteilung. Ein paar Kommandos seien schon in der Nacht abgegangen, das erfuhren sie hier. Der Kammerunteroffizier brachte, was Wolzow haben wollte. „Der behandelt uns nachsichtig wie Todkranke“, sagte Holt, während er warme Wäsche auf die Arme lud, Pullover, Feldgrau mit kurzen, zweireihigen Blusen aus Wolltuch, Schnürschuhe, Gamaschen, Fäustlinge. Wolzows Liste war lang, Kopfschützer, wattierte Überkleidung, Schneehemden mit Kapuzen. Endlich protestierte der Kammerchef gegen weitere Wünsche, das sei alles gegen die Vorschrift. Wolzow sagte: „Vorschrift? Die Russenpanzer halten sich auch nicht an Vorschriften!“
Der Waffenmeister berief sich auf Anweisungen. „Jeder eine Maschinenpistole!“ Wolzow wies das neue Sturmgewehr zurück, er nannte den Unteroffizier „Mann“. „An der Front gibt’s nirgendwo die dreiviertellange Karabinermunition, Mann! Geben Sie uns die zweiundvierzig!“ Vetter bettelte um eine Parabellum. Wolzow packte die Leuchtpistole ein und ging zur Tür, aber der Waffenmeister brüllte: „Wollen die Herren nicht vielleicht das MG mitnehmen? Darf ich den Herren das MG auf die Stube tragen lassen?“ – „Und ich kann’s schleppen“, maulte Holt.
Kindchen, in seinem Munitionskeller, rief: „Kraftfutter! Schönes Kraftfutter!“ und baute einen Stapel Munitionsschachteln vor ihnen auf. „Zwanzig Gurte, beste Ware, meine Herren, jede dritte Patrone Leuchtspur!“ – „Beste Ware, so was!“ rief Vetter. Kindchen errötete bis in die großen Ohren. „Wer soll denn das schleppen!“ sagte Holt. „Und für die MP noch sechs Magazine! Und Handgranaten!“ rief Kindchen. Er brüllte hinter ihnen her: „Und Panzerfäuste! Für jeden eine Kiste! Die lade ich gleich aufs Auto, Dienst am Kunden, ganz groß!“
Beim Furier führte Vetter das große Wort. „Rücken Sie mal die guten Sachen raus, Herr Feldwebel, Schoka-Kola und solche Päckchen ,Für Panzerkämpfer im Großeinsatz’!“ –„Für meine Freiwilligen ist das Beste gut genug“, log Wolzow, „das hat der Major gesagt!“ Der Feldwebel stieg schimpfend in den Keller.
In der Stube wühlte Vetter in Schokoladen- und Zigarettenpäckchen. „Leute, genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar sein!“ Wolzow schärfte Handgranaten. Holt saß dabei und las in der Zeitung, in der ein Butterklumpen eingewickelt gewesen war. „Völkischer Beobachter“, „Vom Einsatz unserer Ostkämpfer“, las er. In seiner heimlichen, nagenden Angst versuchte er zu glauben, was da stand. Es sind also ganz minderwertige Kämpfer, die Russen! Ich bin gut ausgebildet, bin jung und kräftig. Wer soll es schaffen, wenn nicht wir jungen Kerle?
Ein Fußtritt warf die angelehnte Stubentür auf. Zwischen den Spinden stand Oberfeldwebel Burgkert, die schwarze Uniform voll Orden. Er sah grau aus, verfallen, auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen. Er sagte mit kratziger Stimme: „Ihr geht mit mir raus?“ Dann setzte er sich an den Tisch und spielte mit Wolzows Pistole. Er bekam einen Schweißausbruch, seine Hände zitterten. „Ich war auf ’mDach bei den Funkern“, sagte er heiser. „Die haben die ganze Nacht Hilferufe aufgefangen. Keine Front mehr. Alles eingekesselt. Unsere 11. P.D. steckt beim Korps Nehring, das ist bei Kaiisch eingeschlossen.“ – „Ich weiß“, sagte Wolzow gleichgültig. „Sie haben einen Spruch aufgefangen, von irgendeiner Kampfgruppe. ,Gott sei unserer Seele gnädig!’ Die haben alle die Nerven verloren.“
Ein Gefreiter trat ein, ein kleiner, untersetzter Mann, der von einem zum anderen blickte. „Gefreiter Horbeck.“ Er setzte sich. Holt erkannte ihn wieder. Der Gefreite hatte nach der Weihnachtsfeier am Tor der großen Fahrzeughalle gestanden, der einzig Nüchterne im Chaos der Betrunkenen. Holt sah, wie er Gomulka überrascht zunickte und dann Wolzow und Vetter musterte, er glaubte dabei in dem Blick der grauen Augen einen Ausdruck verborgener Wachsamkeit zu beobachten, der unversehens in Gleichgültigkeit hinüberwechselte. „Ich bin der Fahrer.“ Der Gefreite fragte, nun mit allen Zeichen prächtiger Laune: „Na, ist die Charge reif?“
„Was?“ fragte Vetter.
„Ich meine: seid ihr fertig?“ Wolzow zog sich ein neues, leuchtendes Ordensband durchs Knopfloch. Holt und Vetter hatten die Flakschießabzeichen angesteckt. „Meins ist weg“, sagte gleichmütig Gomulka, der blaß und stumm dabeisaß. „Ihr bekommt eigene Marschpapiere!“ sagte Burgkert. Sie gingen zur Schreibstube.
Leutnant Wehnert redete von Taten. Seine Augen waren blauer denn je. „Taten werden gebraucht!“ Er endete: „Mit Gott, Kameraden!“
Auf dem Hof wartete das Auto, ein offenes, achtsitziges Fahrzeug mit leichtem Verdeck, wie es die Polizei für Einsatzkommandos benutzte. Kindchen lud die Panzerfäuste auf. Der Gefreite Horbeck stand dabei, rauchte und machte keine Anstalten zu helfen. Er trug keine Tarnbekleidung und war nur mit einem Karabiner bewaffnet. Aber er schleppte einen prall gefüllten Rucksack, mehrere Decken, Zeltbahnen, Zeltstäbe und einen großen Kochkessel mit.
„Was willst du mit dem ganzen Mist?“ fragte Wolzow.
Der Gefreite wandte bei dieser Frage flüchtig den Kopf. Ein Zug von Mißtrauen stand in seinem Gesicht, aber das mochte Täuschung sein, denn nun schlug er Wolzow auf die Schulter und rief: „Wirst schon sehen.“