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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 11 page

Nordische Rasse, dachte Holt, noch keiner hat jemals er­klärt, was das eigentlich ist, die „nordische Rasse“, weder Kutschera noch Ziesche, noch Lesser. Er erinnerte sich an seinen Vater. Es lag weit zurück. Holt hatte gehört, wie sein Vater mit irgendwem über die Rassentheorie gesprochen hatte. Menschenblut in vier Gruppen, A, B, AB und 0, dachte er jetzt, noch etliche Untergruppen. Aber Eskimoblut, Japaner­blut, Schwedenblut, Indianerblut, da ist kein Unterschied, nur diese Gruppen. Was meinen die also mit nordischem Blut, was soll man sich darunter vorstellen?

„Soll das deutsche Volk sich seiner rassischen Aufgabe klar bewußt werden, muß ihm eine auserwählte Führerschicht, ein neuer Adel des nordisch reinen Bluts, vorangehen, sagt einer unserer Rassenforscher.“

Holt dachte: Vater hat gesagt, das ist alles Religion, Aber­glaube, Spuk, fauler Zauber. Aber er hat es nicht zu mir ge­sagt! Zu mir, dachte er bitter, hat er gar nichts gesagt, mich hat er laufen lassen, ins Elend, ins Unglück!... Die ständige Wiederkehr des „nordischen Blutes“ in Wehnerts Rede reizte ihn. Alles Quatsch, dachte er. Aber warum? Wozu dieser ganze Rassen-, Blut- und Nordmenschzauber? Das müßte man wissen!

„... daß die Rasse letzten Endes ein Mysterium ist“, sagte Leutnant Wehnert. Holt nickte unwillkürlich. „Man kann sie nicht erkennen, nur fühlen. Der Verstand faßt sie nicht, nur das Gefühl... durch die Rasse kann die heutige Welt den hel­dischen Gedanken zurückgewinnen.“ Wieder überkam den Leutnant jene eifernde Beredsamkeit. Holt beobachtete den Offizier mit Skepsis und Mißtrauen. Wozu das?

„... und zwar nur im nordischen Blut: die Germanen oder die Nacht, das ist heute wie einst die Losung.“

Die Rekruten dösten. Nur wenige hörten zu. Der Leutnant sagte: „Das Leben des Helden ist das Leben, das wir uns er­streben, das Leben der nach Beute und Sieg lüstern schwei­fenden blonden Bestie. Wir können nur dadurch Helden sein, daß wir unser Jahrhundert zum Beginn einer neuen Welt ge­stalten. Denn der Held steht immer in den Anfängen der Welt. Sein Gegenbild ist der Nachfahr. Darum hassen alle Späten das Heldische.“

Es ist klar, daß es keinen interessiert, dachte Holt. Wenn er sagen würde, wie der Krieg weitergeht, dann würden alle zu­hören. Außerdem hat er das Wesen des Helden schon ein paarmal erklärt.

„In der Kindheit ist der Held faul und lebt für sich. Es gibt eine heldische Faulheit.“

Wolzow stieß Holt in den Rücken und flüsterte: „Ich! Ich! Aber genau!“

„Heldische Faulheit ist Ruhen in sich selbst: gutmütig, wortfaul, gleichgiltig . . .“ Er sagte gleichmütig. „.. . bis dann der Berserkergang kommt, dieser urmenschliche Ausbruch von Kraft und Kampflust...“

„Jawohl“, flüsterte Wolzow in Holts Rücken. „Vier Wochen faul wie die Pest, aber dann mal richtig dreschen!“



„... erlebt der Held als Jüngling seine Einsamkeit, bis ihm als Mann die Einsamkeit des Helden Stolz und Kraft...“

Vetter nickte ein, aber Wolzow stieß ihn in die Seite.

„Darum liebt der Held das Meer und die Fahrt im Wikings­drachen, darum steigt er hinauf ins Gebirg. Droben fühlt er sich ewig, den Aaren des Anfangs gefreundet, und spürt, was einzig ihn ausfüllt: zeitlose Macht! Held und All, das ist der tiefste Blick in den Tag des Geschehens.“

Den Aaren des Anfangs gefreundet? Jetzt ist er ganz groß in Fahrt! Komisch, ich hör ihm zu und hör jedes Wort und hab doch keine Ahnung, was er eigentlich redet!

„Der Held hat’s gewagt, ein Schicksal zu leben, den Tod nicht zu fürchten und vielen verhaßt zu sein. Er kennt seinen Reichtum, er reckt seine Arme und schreitet hinein. Daß noch alles zu tun ist, daß rings ein Anfang und überall Bestätigung glänzt, das ist die heldische Zuversicht, die nur der Reine kennt, der Edelgeborene.“

Und vielen verhaßt zu sein! Holts Gedanken irrten ab. Das soll also etwas Großes, Heldisches sein, wenn man sich vielen verhaßt macht...?

„Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden... Revetcki!“ rief Wehnert plötzlich, und ein Ruck ging durch die Zuhörer. Das Gesicht des Leutnants war zornrot. „Menke, Hintz, Otzdorf und Pleß! Daß Sie mir nachher die Schweine fertigmachen, Revetcki, bis sie röcheln! Im Unterricht schla­fen! Ihr undeutsches Gesindel, ich treib euch den inneren Schweinehund aus!“

Jetzt hat er todsicher den Faden verloren, dachte Holt, wäh­rend er dem Leutnant aufmerksam ins Gesicht sah, aber er kann fortfahren, wo er will, es paßt immer alles überall.

„Es ist seltsam bestellt mit dem Schicksal des Helden“, wie­derholte der Leutnant. „Begreifen wir ihn und seine Schick­salsschau, so begreifen wir ihn und seine ganze Welt.“

Schicksal, immer wieder Schicksal, dachte Holt: Was ist Schicksal?

„Der heldische Haß, o dieser Griff Thors um seinen Ham­mer, daß die Knöchel der Hand weiß werden, diese Herrlich­keit heldischen Hassens, prasselnd in die Welt, daß den Star­ken in ihren Wäldern der Atem stockt! Erst seit der Haß, der heldische Haß wieder gelehrt werden darf, ist ein Anfang über Deutschland.“

Nach dem heldischen Haß kommt immer die heldische Sitt­lichkeit, dachte Holt.

„Aus der edlen Entfesselung der Sinne, die eine alte Zeit gekannt hat, sind die vielerlei Unzuchtsverfahren des Genie­ßers geworden. Die Unzucht früherer Zeit...“ – die Auf­merksamkeit hob sich – „...war ein Erlebnis, hatte ihren eigenen Spaß, ihr schenkelklatschendes Pathos und ihre bun­ten Galgenvögel, die etwas opfern konnten, damit es herrlich am Morgen in einer Gosse endete ...“

Vetter räusperte sich laut.

„So mag sein wildes Blut den Helden in den Urstreit schleu­dern des Geschlechtlichen und mag ihn ringen lassen um den Sinn von Mann und Weib, der zu erleben ist, nie zu erklü­geln! Und fessellos ausbrechen will das Geschlechtliche, darin liegt die Fragwürdigkeit der Ehe für manche Männer heldi­schen Blutes...“

Jetzt hörten die Rekruten tatsächlich zu. Man schaute ge­spannt auf den Leutnant. Aber Wehnert kehrte zur heldischen Rasse zurück, und das Interesse erlosch. Auch Holts Auf­merksamkeit ließ nach.

„Die heldische Rasse ... Blutserfahrung eines jeden einzel­nen sollte sie sein... Spricht der Führer: Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt... Alle Werte der Welt geschaffen von nordischen Menschen... Das klas­sische Griechenland eine Großtat nordischer Rasse, das Rö­merreich eine Rassentat nordischer Größe ... Die italienischen Künstler sind nordischen Blutes ... Nordischen Blutes waren Voltaire und ...“

Jetzt kommt die heldische Schönheit, dann ist er fertig, dachte Holt.

„... nicht nur der begabteste, auch der schönste Mensch ist der Mensch nordischer Rasse. Da steht die schlanke Ge­stalt des Mannes aufgerichtet zu siegreichem Ausdruck des Knochen- und Muskelbaus ... da blüht der Wuchs des Wei­bes auf mit schmalen gerundeten Schultern und breiter ge­schwungener Hüfte... So sind die nordischen Menschen als der Schmuck der Erde erschienen, als die strahlenden Kömmlinge aus der Freude der Schöpfung.“

„Amen“, sagte jemand ganz leise. Das war Gomulka.

„Uns aber“, rief der Leutnant, „denen das Ahnen er­schlossen ist um Würde und Wunder der Rasse, uns bleibt eine elementare Pflicht zu erfüllen. Wer aus tiefster Seele an die Sendung des nordischen Helden glaubt, der kann nie wan­ken und nie weich werden, wenn der Befehl auch dem Ver­stand unfaßbar ist, dem Verstand, der nur die Äußerlichkeit begreift, während der Glaube allein das Wesen erschließt.“

Wie war das? Wenn der Befehl auch dem Verstande unfaß­bar erscheint... ja, jetzt begreif ich!

„Das Schicksal des Helden ist seine Rasse, der Mythos vom Reich sucht gläubige Herzen. Es ist nicht die Kraft des Ver­standes, die das Reich erbauen wird, sondern die heldische Zuversicht, die Selbstbeherrschung, auch wenn der klügelnde Verstand sich meldet. Der Führer schrieb: Wenn unserer Ju­gend etwas weniger Wissen eingetrichtert worden wäre, so hätte sich das für Deutschland vielfach gelohnt. Der Weg zum Endsieg heißt nicht Denken–Wissen–Kritik, sondern Schick­sal–Mythos—Glaube! Die heldische Größe zeigt sich im Ge­horchen und im Handeln. Des Führers Partei schuf die Grundlage, die Partei, von der der Dichter singt: ,Aus dem Sumpf und seinen Niederungen stieg die Partei mit ihren Glie­derungen ...’“

Holt hörte nicht mehr hin. Jetzt begreif ich, wozu das er­funden worden ist, dachte er, und der Gedanke nahm ihm den Atem: Rasse, nordisches Blut, Arier, Übermensch, heldi­sche Zuversicht... damit ich die Slowakin erschossen hätte, ohne mit der Wimper zu zucken!

„Im Kampf um das Reich gilt keine Moral! Unser Dichter Hanns Johst spricht: ,Es läßt sich aus einer Moral aber kein Glauben gewinnen, nur aus dem Glauben eine Moral.’ Aus dem Glauben an die Urkraft der Rasse wuchs unsere Moral. Wo Glaube ist, so spricht Hanns Johst, dort ,ist Allmacht! Und wo Allmacht ist... ist das Reich und die Herrlich­keit!’“ – „... in Ewigkeit, amen . ..“, flüsterte Gomulka.

„Achtung!“ brüllte Revetcki. Die Rekruten sprangen auf. Leutnant Wehnert verließ kerzengerade den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

„So!“, sagte Revetcki. „Dienstschluß? Nein, Essig! Ich habe gesehen, daß ihr allesamt gepennt habt.“ Er lief vor den Tischen auf und ab und klopfte mit dem Stöckchen an seine Stiefel. „Warum spiegeln eure Visagen keine heilige Ergrif­fenheit? Warum glotzt ihr mich an wie tote Karpfen?“ Er
brüllte: „Jetzt werdet ihr einen Berserkergang erleben, ihr dreckigen Kömmlinge, bis ihr bei lebendigem Leibeverwest! Jetzt treib ich euch die heldische Faulheit aus, ich werd euch fessellos schleifen, bis es herrlich am grauen Morgen in einer Gosse endet! Ihr sollt den tiefsten Blick in den Tag des Ge­schehens tun! Los, in drei Minuten feldmarschmäßig und...Gaaaas!“

Sie rissen die Masken heraus, Revetcki führte sie auf das Trichterfeld des Kasernenhofes. „Jetzt treibe ich WF-Unterricht“, sagte er, „daß die Knöchel weiß werden!“ Boek grinste begeistert. „Karabiner im Vorhalt! Hüpft heldisch Häschen­hüpf, Hunde, hübsch durch die Trichter! Reckt die Arme und schreitet hinein!“

Er ließ sie erst nach einer Stunde auf die Stuben.

 

7.

Die trübe, gedrückte Stimmung der Rekruten besserte sich überraschend, als am 19. Dezember die Nachricht von der Ardennenoffensive eintraf. Wehnert und Wolzow standen bis tief in die Nacht am Sandkasten, wo sie die Landschaft zwi­schen Schneifel und Hohem Venn aufgebaut hatten. Holt mußte seinen Schlaf opfern und mit dem Zeigestock die klei­nen Panzer zurechtsetzen. Wehnert wußte mehr Einzelheiten, als der Wehrmachtsbericht meldete. Wolzow studierte die Karte, stocherte mit dem Finger im Sandkasten herum und sagte: „Die Offensive ist nach allen Regeln der Kriegskunst angelegt!“ Einen Tag vor Heiligabend standen sie das letztemal am Sandkasten. Bis zum Jahresende klangen die Be­richte vom Fortgang der Offensive optimistisch. Dann brachen jegliche Illusionen zusammen.

Wenige Tage vor Weihnachten wurden sie vereidigt. Es war eine flüchtige Zeremonie, die an den Rekruten ohne Eindruck vorüberging. Nur Wolzow nahm sie ernst. „Jetzt sind wir vereidigt“, sagte er, „jetzt haben wir bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, was auch kommen mag!“

Revetcki kündigte die Abteilungs-Weihnachtsfeier an: „Ich habe euch ab sofort seelisch zu läutern, damit ihr in der hohen Nacht der klaren Sterne mit schuldlosem Antlitz vor das heilige Jesulein tretet!“

„Seelisch läutern?“ sagte Holt. „Schleifen meint das schein­heilige Aas!“

Revetcki trat in die Stube. „Wiese! Öffnen Sie sofort Ihre Halsbinde!“ Wiese gehorchte. Revetcki besichtigte einen Spind. Dann fuhr er Wiese an: „Das ist un-möööglich! Der Kerl läuft mit offener Halsbinde herum! Dafür werden Sie sechs Stun­den sonderbehandelt! Machen Sie sich fertig, ehe ich Sie fertigmache, schreiben Sie noch ein paar Zeilen an Ihre Hin­terbliebenen!“

Peter Wiese wurde bleich.

Revetcki sagte: „Oder wollen Sie ein Ablaßbriefchen kau­fen? Was machen Sie in der stillen, heiligen Nacht mit Ihren Schnapsmarken?“

„Herr Unteroffizier“, stammelte Wiese, Tränen der Er­leichterung in den Augen, „die geb ich Ihnen!“ – „Welch liebliches Geschenk!“ rief Revetcki, und sein Gesicht warf abenteuerliche Falten. „Die geöffnete Halsbinde ist großzügig verziehen!“

Dann war Heiligabend. Wolzow, Holt, Vetter, Gomulka und noch ein paar andere waren zu Unteroffiziers-Ordonnanzen befohlen und holten sich in der Kammer neue, schnee­weiße Drillichjacken. Die größte der Fahrzeughallen war aus­geräumt und mit Tischen und Bänken vollgestellt worden. An der Wand zog sich eine Theke entlang. Vorn war ein Podium aufgebaut. Dort sang am Abend ein Soldatenchor: „O du fröhliche ...“ Zwei große Weihnachtsbäume warfen schwa­ches Kerzenlicht in die Halle. Major Reichert, der Abteilungs­kommandeur, hielt eine Ansprache. Holt, in der weißen Dril­lichjacke, stand an der Theke und hielt ein Tablett bereit.

Es war öde und leer in ihm. Weihnachten, dachte er... Niemand hatte ihm geschrieben, auch Gundel nicht. Wort­fetzen aus der Rede des Kommandeurs drangen an sein Ohr: „Sechste Kriegsweihnacht.. . Führer unerschütterlich ... Un­erschütterliches Vertrauen ... Fest der Hoffnung, Fest der Zu­versicht ... Endsieg.“ Der Chor setzte wieder ein, dann san­gen in der Halle mehr als tausend kratzige, rauhe Stimmen: „Stille Nacht, heilige Nacht...“ Holt lehnte an der Theke. Gomulka, neben ihm, verzog keine Miene. Wolzow trat an Holts Seite und stieß ihn in die Rippen. „Alter Krieger, trink einen Schnaps!“ Es war ein Bierglas, halb voll Korn, Holt rang sekundenlang nach Atem, dann wischte er sich über die Stirn. Ein dünner, durchsichtiger Schleier zog sich über seine Sinne: die Kerzen an den Bäumen strahlten heller, das einsetzende Summen der tausend Stimmen rauschte fern wie Meeresbrandung. Das war das letztemal, daß ich weich ge­worden bin! dachte er. Schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s ans Sterben, ich bin dabei... „Noch leben wir“, sagte er, und Wolzow knuffte ihn wieder in die Seite und meinte: „Und ob! Zwei alte Krieger wie wir!“

Der Abend entartete rasch zu einem Saufgelage. Holt trug Tabletts mit Schnaps- und Biergläsern von der Theke zu den Unteroffizieren, wischte Bierpfützen auf, sammelte Schnaps­marken ein und trug sie zur Theke. Anfangs wurden die Mar­ken nachgezählt, bald mußte Holt sie ungezählt in einen Kasten werfen, wobei er fleißig betrog. Mit der Zeit ging die Kontrolle verloren.

Die Unteroffiziere betranken sich rasch. Revetcki rollte mit den Augen, trank und rief: „Keinen Tropfen trinkt das Huhn, ohne einen Blick zum Himmel auf zu tun!“ In einer Ecke, umringt von Unteroffizieren und Feldwebeln, stand die Tochter des Kantinenwirtes, ein übles Frauenzimmer von drei­ßig Jahren mit weißgebleichtem Haar, leicht verwachsen, heute noch greller als sonst geschminkt. Sie hatte anfangs bei den Offizieren serviert, aber nun ließen sie die Unteroffiziere nicht mehr an die Arbeit. Am Offizierstisch standen Batterien von Wein- und Kognakflaschen auf der weißgedeckten Tafel, Kon­fektschalen und geöffnete Zigarrenkisten. Holt sah den Ab­teilungskommandeur, Major Reichert, zum erstenmal. Zu seiner Rechten saß der sagenhafte Hauptmann Weber, Chef der IV. Kompanie, sagenhaft ob seiner lückenlosen Sammlung von Kriegsauszeichnungen, mehrfach im Wehrmachtsbericht genannt und nun seit einem halben Jahr endgültig beim Er­satzheer gelandet: einarmig, den linken Ärmel der zweireihi­gen schwarzen Uniformjacke in die Achsel eingeschlagen, einäugig, das rechte Auge von einer schwarzen Binde bedeckt, das Gesicht von Narben zerhackt, so saß er kerzengerade neben dem Major und hob mit einer eckigen Bewegung das Weinglas zum Mund. Er trug heute an der Jacke keinen Or­den, keine Medaille, nur um den Hals das Ritterkreuz.

„Sieh ihn dir an!“ sagte Wolzow zu Holt. „Der Mann hat den Dnepr-Ubergang bei Rogatschow mitgemacht, dann war er bei Mogilew eingekesselt und hat sich mit seinen Henschel-Tigern nach Westen durchgeschlagen, da ist die ganze Kompanie drauf gegangen, einzig er ist mit dem Umsteige­wagen durchgekommen!“

„Ordonnanz!“ krakeelte Revetcki am Unteroffizierstisch. Er hatte trübe Augen. „Holt! Uns ist so kannibalisch wohl... Ganymed, du findiger Engel...!“ Der Schluckauf plagte ihn. „Hier fehlt nur eins: Schnaps und ... Holt! Wo ist die Topp­sau hin, die Bucklige? Das Aas verlangt zehn Mark!“ Er schrie: „Anstatt froh zu sein, wenn sie ein preußischer Kor­poral...“ Der Schluckauf zerrüttete ihn. „Da sagte ich: Nein danke! Dafür kann ich ja zweimal in den Puff gehn!“ Unteroffizier Boek brüllte: „Du wirst den Spund doch nicht etwa bitten! Seit wann werden die Dreckspunde denn gebeten! Gib dem Spund doch einen Befehl! Sag dem Spund doch, er wird morgen den ganzen Feiertag geschliffen, ge-schliii-fen, bis ihm das Hirn verdampft!“ – „Los, schaff uns Schnaps“, schrie Revetcki, „aber schnell, sonst schleif ich dich zum Eunuchen!“

Wolzow zog Holt zur Seite. „Wir müssen Revetcki und Boek jetzt derartig besoffen machen, daß sie morgen nicht schnaufen können!“ – „Also los“, sagte Holt. An der Theke füllte der Kantinenwirt Schnapsgläser.

Jemand faßte Holt von hinten am Arm und drehte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt herum. Das war Oberfeldwebel Burgkert. „Junge“, sagte er, „Ordonnanz, wie heißt du?“ – „Panzerschütze Holt, vom Ausbildungszug der Stabskompa­nie.“ Jeder kannte den Oberfeldwebel. Er ließ sich von niemandem etwas sagen, grüßte die Offiziere lasch, herablas­send und erwiderte den Gruß Untergebener mit einem Kopfnicken. Heute hatte er sämtliche Orden angelegt. Er war so groß wie Wolzow, aber viel breiter, bulliger. Holts Blick glitt über die schwarze Uniformjacke. EK I und EK II, zählte er, goldenes Verwundetenabzeichen, silberne Nahkampfspange, Deutsches Kreuz in Gold, am Ärmel sieben Panzervernich­tungsabzeichen ... – „Schau dir den Ramsch ruhig an, mein Junge!“ sagte der Oberfeldwebel mit heiserem Baß, und er hielt Holt noch immer am Arm fest. „Wenn du genug geglotzt hast, dann holst du für mich zwei Flaschen Kognak, aber nicht solchen Fuseldreck, sondern den gleichen, den die Offiziere bekommen! Zwei Flaschen, zwei Gläser, es müssen Schwenk­schalen sein! Das bringst du mir in die Ecke!“ Er deutete in das trüb erleuchtete Ende der Fahrzeughalle. „Los!“

Holt lief zur Theke. „Zwei Flaschen für den Kommandeur! Kognak! Und zwei Schwenkschalen!“ Die Schwenkschalen tilgten das Mißtrauen. Der Oberfeldwebel saß auf einem leeren Bierfaß, er nahm Holt die Flaschen aus der Hand und studierte die Etiketts. „Gut!“ Er stellte eine Flasche auf den Boden und füllte die beiden Schwenkschalen. „Trink, Re­krut!“ Der Lärm in der Halle ebbte ab. Irgendwo grölte ein Dutzend betrunkener Stimmen: „Wie einst, Lilli-Marleeeeen!“ Dann verstummte auch das. Bei der improvisierten Bühne war der Major, offensichtlich stark betrunken, auf die Offiziers­tafel geklettert, hielt ein gefülltes Sektglas in der Hand und brüllte: „Hoch ... Panzer ... elf!... Es lebe ... die ruhm­reiche ... ungeschlagene... 11. Panzerdivision!!“ – „Unge­schlagen!“ sagte der Oberfeldwebel. Seine Stimme hatte alles Kratzige verloren, und der Baß rollte grabestief. „Ungeschla­gen! Tula, November einundvierzig... Smolensk, September dreiundvierzig ... Mogilew, März vierundvierzig ... Minsk, Juli vierundvierzig . . . ungeschlagen, aber vernichtet. Es gibt keine 11. Panzerdivision mehr! Es gibt noch fünfhundert Ge­wehre und ein Dutzend Tiger, aber die sind schrottreif!“ – „Es lebe...“, schrie der Major, „unser großer General... und unser Führer Adolf Hitler...“ Die Halle zitterte im Ge­brüll der tausend Soldaten. „Junge, trink!“ sagte der Oberfeldwebel. „Nicht auf den General. Auf niemand. Auf den größten Beschiß der Welt!“ Holt trank gehorsam. „Abtei­lungsbefehl!“ hörte er den Major brüllen. „...Anbetracht der Lage ... noch vorhandenen Alkoholvorräte ... rücksichts­los zu versaufen!“ – „Wir sind ja so beschissen worden“, sagte der Oberfeldwebel. „Junge, du hast keine Ahnung!“ Er goß sich wieder das Glas voll. „Sauf, Rekrut! Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß.“ Holt starrte gebannt auf den rie­sigen Mann, der sich einschenkte, trank, wieder einschenkte und trank. Er hörte ihn zwischen zwei Schlucken sagen: „Sauf, Junge! Willst du nicht?“ Er nahm schon die zweite Flasche zur Hand. „Junge, wie man uns beschissen hat!“ Holt lief davon.

Beim Tisch der Unteroffiziere ging das Gelage seinem Ende zu. Revetcki trank aus der Flasche. Boek lag mit dem Ober­körper über dem Tisch. Der Stabsgefreite Kindchen torkelte zwischen den Tischen entlang, in jedem Arm eine Flasche, und sang: „Ein Pro-oo-sit der Ge-müüt-lich-keit!“ Die Offiziere waren verschwunden. Unteroffizier Winkler, der auf Revetckis Stube lag, wankte dem Ausgang zu, stolperte und schlug hin. Revetcki beugte sich über ihn, richtete sich auf und sagte grinsend: „Weitermachen!“ Holt eilte zu Winkler. Dort stand Burgkert und sagte: „Bring ihn weg, Rekrut! Er wird noch gebraucht. Wir werden alle noch gebraucht!“

Holt und Gomulka hoben Winkler auf. An der Hallentür stand ein Gefreiter, klein von Statur, vielleicht dreißig Jahre alt. Er rauchte und blickte ungerührt in das Chaos, mit einem aufmerksamen und wachen Blick. Er öffnete die Tür für Holt und Gomulka, die Winkler aus der Halle trugen, während Boek an ihnen vorbei ins Freie torkelte.

„Eure Ausbilder?“ fragte er.

Gomulka sagte: „Es ist widerlich.“

Der Gefreite lächelte. Er sagte, indem er mit einer Hand­bewegung in die Halle hineindeutete: „Warte nur, bis diese Fehlcharge abgestochen wird! Fliegt auf den Schrotthaufen, das dauert kein Jahr mehr!“ Holt und Gomulka schleppten Winkler über den zerklüfte­ten Kasernenhof in sein Bett. Gomulka lief zurück zur Halle, wo der Gefreite noch immer an der Tür stand.

Holt ging in die Stube. Die trübe Lampe erhellte den großen Raum nur schwach. In einer Ecke saß Peter Wiese. Er schrieb einen Brief.

Holt lehnte sich an einen Spind. Wiese lächelte. Der Lärm drang über den weiten Kasernenhof bis in die Stube. „Tja, Peter...“, sagte Holt hilflos. Er warf sich auf sein Bett. Weihnachten! dachte er ...

Am ersten Feiertag, als die Kaserne endlich aus der Betäu­bung erwachte, brachte Kindchen Post. Holt erhielt ein Päck­chen von Gundel. „Ich durfte bei Frau Gomulka für Dich backen“, schrieb sie. „Es ist das erstemal, daß ich gebacken habe. Darum ist es noch nicht restlos gelungen. Frau Gomulka meint aber, ich soll es trotzdem schicken. Die getrockneten Aprikosen hat sie mir für Dich geschenkt. Das Bild habe ich beim Photographen machen lassen, aber ich finde, so sehe ich gar nicht aus.“

Er faltete das Papier auseinander. Obenan lag ein einfacher Tannenzweig. Er sah lange auf die Photographie. Gundel... Sie lächelte nicht, sie war ganz ernst. Wie kann man so große Augen haben, dachte er.

Seinen Geburtstag verbrachte Holt im Gelände beim Übungs­schießen mit der Panzerfaust. Auf dem Rückmarsch schob Revetcki eine „Sonderbehandlung“ ein, und erschöpft fiel Holt auf sein Bett. Vetter sagte: „Jetzt bist du achtzehn! Jetzt darfst du auch als Zivilist in alle Filme!“

Eine Woche später traf die Nachricht in der Kaserne ein: „Die Russen sind an der Weichsel durchgebrochen!“ Wolzow breitete die Karte aus. „Hier! Aus dem Brückenkopf Sandomierz! Der Stoß zielt wahrscheinlich südwestlich nach Krakau oder westlich nach Kielce ... Hier! Aus dem Brücken­kopf Puławy, auf Litzmannstadt angesetzt. . .“ Neue Nach­richten langten an: „Sie sind auch in Ostpreußen durchgebrochen!“ In der Kaserne verbreiteten sich ununterbrochen Gerüchte. „Die zweite Kompanie geht an die Front, noch diese Nacht!“ Vetter schrie: „Wir solln weiter ausgebildet werden! Und eh’s rausgeht, solln wir alle in einen Puff!“ Noch eine Woche verstrich.

Der Ausbildungszug fuhr mit einem Lastwagen zum gefechts­mäßigen Nachtscharfschießen auf den benachbarten Truppen­übungsplatz. Die Rekruten auf dem LKW sangen. Dann stan­den sie lange in der Nacht und warteten. Wenig entfernt krachte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, Leuchtkugeln erhellten immer wieder die Dunkelheit. Holt stand mit ge­spreizten Beinen über seinem MG. Vetter hatte sich ein paar Gurte um den Hals gehängt und schleppte Munitionskästen den Karabiner auf dem Rücken. Sie nahmen die Helme ab und rauchten eine Zigarette. Wolzow gab die letzten Direktiven: „Leute, wenn ihr vorgeht, lauft den MGs nicht ins Schußfeld! Werner, wir geben uns gegenseitig Feuerschutz beim Stellungs­wechsel.“ Er sog an der Zigarette. „Bin gespannt, ob sie uns für frontreif erklären.“

„Abwarten“, sagte Holt.

Gomulka fragte: „Ob wir bald eingesetzt werden?“ – „Der kann’s gar nicht mehr erwarten!“ spottete jemand. Holt dachte: Ängstlich hat Sepps Frage wirklich nicht geklungen eher erwartungsvoll! „Hast recht, Sepp. Das Warten, diese Ungewißheit, das ist vielleicht das übelste.“ – „Vielleicht“ sagte Gomulka. Revetcki rief: „Fertigmachen!“ Sie traten die Zi­garetten aus und setzten die Helme auf. „Antreten!“ Revetcki gab sich freundlich und sagte zu den Rekruten „Musketiere“ oder „Füsiliere“. Er verkündete: „Ruhig Blut! Euer Korporal steht euch bei in der Stunde der Not!“ Dann befahl er: „Ge­wehre laden und sichern!“ Holt nahm das MG auf. „Schützen­reihe“, rief Revetcki, „mitkommen!“ Sie marschierten in Rich­tung der fingierten Hauptkampflinie. „Schützenkette links! Im Laufschritt... marsch, marsch!“ Die Gruppe schwärmte aus. „Vorwärts, Arkebusiere!“ rief Revetcki. Holt lief am rechten Flügel durch den tiefen Schnee. „Stellung!“ Vetter warf sich neben Holt zu Boden. Schloß zurück, Deckel hoch, Gurt ein­legen, Deckel schließen, entsichern, Kolben fest in die Schul­ter einsetzen... – „Visier vierhundert! Feuer frei!“ Eine Leuchtkugel stieg hoch, blendend weißes Licht lag über dem beschneiten Acker. Wolzows MG am linken Flügel schoß schon. Holt sah vor sich die Mannscheiben durchs Gelände ziehn und schoß in kurzen Feuerstößen. Vielleicht übe ich es zum letztenmal, dachte er.

Revetcki war zufrieden. Die Kritik des Leutnants fiel dürftig aus. Dann brachte sie der Lastwagen zurück in die Kaserne. Sie sangen während der Fahrt: „Schlägt uns die To­desstunde, ruft uns das Schicksal ab, dann wird uns der Pan­zer zum ehernen Grab ...“

Nach zwei Uhr langten sie auf den Stuben an. Wolzow brachte aus dem Waschraum Neuigkeiten: „Auf dem Boden haben sie ein Mittelwellengerät aufgestellt, mit einem Achtzig-Watt-Sender, damit haben sie Verbindung zu den Kampf­truppen, die schreien draußen um Hilfe! Die Russen sind über Krakau und Litzmannstadt hinausgestoßen. Bei der vier­ten Kompanie machen sie die Jagdpanther einsatzbereit, die noch in der Halle stehn, die gehn heute nacht ab, die Funker haben sie aus unserer Kompanie abgestellt...“ Revetcki riß die Tür auf. „Wolzow zum Leutnant!“ – „Der will doch nicht etwa noch am Sandkasten spielen!“ Wolzow zog die Jacke über und ging. Schon nach zehn Minuten riß er die Tür auf und ließ Leutnant Wehnert eintreten. Revetcki folgte. Wer schon in den Betten lag, richtete sich auf.

Holt sah auf Wolzows Gesicht und wußte alles.


Date: 2015-12-24; view: 1065


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