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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 10 page

Das war Revetcki. Er war nicht immer so harmlos. Er war tückisch: „Gomulka, Sie hinterlistiges Dreckstück, Ihre Ge­danken möcht ich lesen, Ihre Maske möcht ich herunter­reißen, das müßte mir Wollust sein, Sie zu entlarven, Sie verkappter Meuterer! Aber warten Sie, ich schreib Ihnen eine Beurteilung, daß Sie in der Strafkompanie enden!“ Er war ge­mein: „Wiese, Muttersöhnchen, lasches Knäblein, puh, wann schreiben Sie an Ihre Mammi... aber ehrlich! So, heute abend? Das werd ich Ihnen vermanschen!“ Und am Abend nach Dienstschluß: „Wiese, den Brief an Ihr Mütterlein be­kommen Sie nie fertig! Los, mein Drillich waschen!“ Und, so unglaublich das war, er prügelte! Jemand gab beim Unter­richt eine falsche Antwort, Revetcki tobte, plötzlich wurde er sanft. „Heute abend, mein Guter, da hol ich Sie zu einem kleinen Privatschliff, der Himmel erbarme sich Ihrer! Und wenn Ihnen das Bauchfell platzt!“ Er stellte sich vor das ein­geschüchterte Opfer und flötete: „Früher... lang ist’s her, in längst verschollnen Zeiten ... da war es einfacher, da wurde körperlich gezüchtigt! Mir ist das verboten, da werde ich eingesperrt. Es sei denn, Sie bitten mich, daß ich Sie aus Barmherzigkeit und Spaß verdresche!“ Meist hieß es sogleich: „Ich bitte darum, Herr Unteroffizier!“ Revetcki schrie: „Sie haben es alle gehört! Er wünscht es, und es ist Spaß!“ Dann hieb er mit der Gerte los, auf die Hände, ein böses Fun­keln in den Augen, und sagte mit verzerrtem Mund: „Du willst es? Gut, dann hau ich dich mit meinem Stecken fürchter­lich!

„Das glaubt uns später kein Mensch!“ sagte Holt zu Gomulka. Gomulka nahm Holt beiseite. „Revetcki war erst Hilfsausbilder bei der Genesenenkompanie. Du weißt ja, die Leute aus den Lazaretten werden ganz schön geschliffen. Dort hat er einen alten Fronthasen zu Tode gehetzt. Der wollte sich krank melden, weil er vor Leibschmerzen kaum noch gerade­stehen konnte. Revetcki hat ihn deshalb durch den Zielgarten gejagt, bis er zusammenbrach. Aber da war die akute Blind­darmentzündung schon in die Bauchhöhle durchgebrochen, und die Operation kam bei diesen Ärzten hier viel zu spät. In der Genesenenkompanie hagelte es Beschwerden. Revetcki wurde zwangsversetzt. Nicht an die Front, nein, zu uns.“ – „Woher weißt du so was?“ fragte Holt. Gomulka wich aus. „Erkundige dich. Ich sage dir, er ist pervers, er ist ein Sadist. So was brauchen die hier.“

Neben Revetcki sank das Zerrbild des Unterfeldmeisters Böhm samt allem Geschrei in der Erinnerung zu völliger Be­deutungslosigkeit herab. Neben Revetcki konnte sich Unter­offizier Boek, der zweite Gruppenführer, ein Theologiestudent, nur gelegentlich seiner schrecklichen Jähzornausbrüche rüh­men, annähernd so gehaßt und gefürchtet zu sein. Zwei Ge­freite, die als Hilfsausbilder tätig waren, gaben nur die Ku­lisse für die Auftritte Revetckis ab. Revetcki war zudem der Scharfrichter des Zugführers. Der geschniegelte Leutnant war kein Rekrutenschleifer. Er sagte, wenn er auch vor Wut kochte, leise und beherrscht: „Ich mach mir doch an euch nicht die Finger schmutzig! Revetcki, nehmen Sie diese fünf Mann! Machen Sie die Leute fertig! Bis zum Zusammenbrechen!“ Revetcki führte die Delinquenten in ein schweres Gelände beim Zielgarten, wo es Gräben, Hecken, Hohlwege und Hügel gab, oder auf das Trichterfeld des Kasernenhofes, spitzte die Lippen und flötete: „Dies sind die Tage, von denen wir sa­gen, sie gefallen uns nicht, Prediger zwölf ,Vers eins.“ Dann wanderte er langsam über den Acker, die Hände mit dem Stöckchen auf dem Rücken, und ließ seine Opfer im Lauf­schritt um sich herumlaufen und ließ sie unter der Gasmaske brüllen: „Zicke-zacke-zicke-zacke-hei-hei-hei“, bis ihnen der Atem verging. Revetcki hatte es dabei nicht eilig, er wußte, daß unter der Maske bei genügender Bewegung jedem die Luft knapp wurde. Es gab körperliche Zusammenbrüche. Holt sagte nach einer solchen „Sonderbehandlung“: „Es ist das Gemeinste, das es gibt!“ Der Leutnant aber pflegte zu sagen: „Den Ker­len zittern ja bloß ein bißchen die Knie! Revetcki, machen Sie die Brüder doch gleich noch mal fertig, sonst denken die, hier ist ein Sanatorium!“



Das ärgste an Revetcki war, daß er die Rekruten zu ernie­drigenden Schaustellungen mißbrauchte. Das bekam Holt zu spüren. Ein zeitiger Winter mit viel Schnee und harten Frö­sten brach herein. In der Schneewüste des Zielgartens, drau­ßen, zwischen den Hügeln, wurden die fünf Stunden Infante­riedienst zu einer Strapaze. Eines Tages zogen sie wieder zu dem berüchtigten Übungsgelände hinaus. Holt marschierte an der Spitze des Zuges, ein MG über der Schulter, Vetter war Schütze 2 und schleppte ein paar mit Platzpatronen gefüllte Munitionskästen. Dann lagen sie hinter dem MG im Schnee. Holt sah in der Nähe die bullige Gestalt des Oberfeldwebels Burgkert, in einem verdreckten Fahrermantel; er trieb sich mal hier, mal da herum, man sah ihn gelegentlich mit einem Waffenrock voller Orden, man wußte nichts von ihm, als daß er der Liebling des Abteilungskommandeurs sei und etwas wie Narrenfreiheit genieße. Er sah verkommen aus und bewegte sich stets in einer Wolke von Schnapsdunst. Jetzt stand er be­wegungslos auf der Anhöhe, wo sie am zugigsten war, und schneite ein; schon reichte ihm die Schneewehe bis an die Knie. Holt blickte auf ihn. Er überhörte einen Befehl Revetckis. Revetcki sprang zu ihm hin. „Laufwechsel!“ Er stoppte die Zeit. „Fünf Sekunden!“ Holts Hände waren klamm vor Kälte. „Zehn Sekunden ... Fünfzehn ...“ – „Fertig!“ rief Holt. „Schlecht, sauschlecht, hundsmiserabel!“ schrie Revetcki. „Unfähig, faul, träge, minderwertig! Schwein, Dreckschwein, Wildschwein, es hat eine Sekunde zu lange gedauert!“ Holt rührte sich nicht. „Jetzt schleif ich dich zum Krüppel! Los, aufstehen!“ Holt erhob sich. Revetcki umkreiste Holt zweimal. Dabei schlug er mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Stiefel. „Ich weiß was Besseres! Sie werden den Himmel darum bitten, daß mir im Kriege kein Leides geschehe! Sie werden täglich für mich beten! Sie melden sich mit Vetter heute abend bei mir.“

Eine Stunde vor Zapfenstreich stieg Holt mit Vetter die Treppe zum dritten Stock hinauf, wo die Zimmer der Unter­offiziere lagen. Revetcki wohnte mit Boek und einem ruhigen, älteren Unteroffizier namens Winkler zusammen. Revetcki lag im Trainingsanzug auf seinem Bett. Er hatte sich viele bunte Kissen in den Rücken geschoben und hielt die Hände auf der Brust gefaltet. Unteroffizier Boek saß am Tisch, ra­sierte sich und grinste erwartungsvoll. Unteroffizier Winkler lag schon im Bett. Revetckis Gesicht zuckte. „Ich wünsche ab sofort allabendlich ein Nachtgebet zu hören“, sagte er. „Ich habe mich entschlossen, fromm zu werden, weil ich unter euch Teufeln Gefahr laufe, ein Leben zu führen, welches Gott nicht wohlgefällig ist. Holt, sagen Sie das Gebet auf!“

Boek feixte.

„Und Vetter, Sie beten anschließend mohammedanisch“, befahl Revetcki, „falls Allah größer als Jehova ist!“

Holt besann sich nicht länger und sagte, was ihm gerade in den Sinn kam: „Ich bin klein, mein Herz ist rein ...“

Revetcki schrie schon los: „Wahnsinniger! Irrsinniger! Schwachsinniger! Nennt Er das ein Nachtgebet für einen preußischen Korporal?“ Er äffte nach: „Ich bin klein ... Will Er seinen Korporal wegen seines geringen Wuchses verhöh­nen?“

„Nein, Herr Unteroffizier!“

„Ab!“ schrie Revetcki. „In einer halben Stunde wieder hier! Mit einem ordentlichen Gebet! Es muß zwei Teile haben! Der erste Teil muß traurig sein, daß ich an meine vielliebe Mutter denken und weinen kann! Der zweite Teil muß kernig sein, wie dies für einen Soldaten sich geziemt! Los, ab!“

Holt sagte draußen zu Vetter: „Er ist geisteskrank! Er ist ein geisteskranker Narr!“ – „Ach wo“, sagte Vetter, „der hat bloß seinen Jux mit uns, weil wir doch alles tun müssen!“

In der Stube berieten sie. Die Anteilnahme war groß, denn schon morgen konnte es jeden anderen treffen. Das Problem wurde mit Kindchens Hilfe gelöst. „Drei Zigaretten, und ich mach’s! Ich kann dichten, ich hab schon als Junge Festzei­tungen geliefert, Hochzeitsgedichte und so!“ Er nahm Papier und Bleistift. „Zwei Teile? Erst ernst, dann kernig?“ Er schrieb. Er fragte: „Was reimt sich denn gleich auf Furz?“ – „Sturz!“ rief Wolzow. „Kurz!“ schrie es aus einer Ecke. Kindchen war rasch fertig, las vor und erntete Beifall. Holt prägte sich die zusammengereimten Zeilen ein. Kindchen witterte ein Geschäft. „Wenn er jeden Abend so ein Gedicht haben will, und ihr bestellt sie bei mir wochenweise, dann geb ich bei sieben Stück dreißig Prozent Rabatt, sagen wir: fünfzehn Zigaretten die Woche.“

Holt und Vetter meldeten sich wieder bei Revetcki. „Der Abend sinkt“, begann Holt, „die Sterne scheinen, der Mond am Himmel leuchtet mild.“ Revetckis Gesicht verklärte sich. Holt fuhr fort: „Die Mütter in der Heimat weinen an ihrer Söhne trautem Bild.“ – „Schön!“ flüsterte Revetcki. „O so schön!“ Holt überlegte verzweifelt, wie es weitergehe. „Fern tönt des Glöckchens süß Gebimmel. Der Herr verhüte deinen Sturz.“ Revetckis Augenbrauen zuckten. Holt vollendete: „Ruh sanft. Es schenke dir der Himmel gesunden Schlaf und guten Furz!“

Unteroffizier Boek schlug ein brüllendes Gelächter an. Re­vetcki schrie: „Vetter! Auf die Knie! Das Gesicht gen Mekka! Los, heulen Sie wie ein Derwisch: Allah il Allah!“ Vetter ze­terte mit erhobenen Armen: „Aaalah il Aaalah!“

Holt sah abwechselnd auf Revetcki, dessen Gesicht eine unbekannte Begeisterung ausstrahlte, auf Vetter, der einen kläglichen Anblick bot, und auf Boek, der vor Lachen zu ber­sten drohte, beide Hände zwischen die Schenkel preßte und schrie: „Hilfe, ich ... schiff mir ... in die Hose!“

Holt sagte nachher zu Wolzow: „Ich soll jeden Abend kommen. Muß ich das?“ – „Mußt du nicht“, sagte Wolzow. „Beschwer dich, du wirst todsicher recht bekommen. Aber überleg dir das hundertmal. Die Ausbilder sehen dann einen Spielverderber in dir.“ Holt beschwerte sich nicht, obwohl er sich deshalb verachtete. Revetcki führte diese abendlichen Szenen dem Unteroffizierskorps der Stabskompanie vor. Kind­chen lieferte Gebete, die am Anfang immer mehr von Senti­mentalität trieften und deren Pointen immer lasziver wurden. Dann hatte Revetcki die Sache satt und erklärte, weiter ein „gottlos lüderliches Leben“ führen zu wollen.

Der Stabsgefreite Kindchen sagte: „Du hast doch Abitur, Holt. Da mußt du nach dem Krieg Kritiker werden! Da gehst du in die Stadt, wo der Revetcki am Theater ist, und schreibst in der Zeitung: ,Der Statist Alois Revetcki, dieser mittelmäßige Komparse, verfügt nicht annähernd über die notwendigen Gestaltungsmittel, eine Rolle mit Leben zu erfüllen.’ Dann gibst du ihm den Rest: ,Revetcki erwies sich wieder einmal als äußerst zweifelhafte Errungenschaft, auf die der Herr Intendant hätte verzichten müssen!’ Sieh mal, ich hab eine kleine Fa­brik, und unser Alter, der Reichert, also der hat mich mal ganz hundsgemein schleifen lassen. Von Beruf ist er Vertreter. Und nach dem Krieg...“ Und wieder einmal erzählte er, wie er sich nach dem Krieg am Kommandeur rächen wolle.

Der Führer des Ausbildungszuges, Leutnant Wehnert, war einundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, blond und blau­äugig. Seine schwarze Uniform mit den silbernen Totenköp­fen auf den Spiegeln war immer peinlich sauber und gebügelt. Wehnert sprach oft über sich selbst: „Ich bin Soldat durch und durch!“ Oder: „Ich bin ein politischer Soldat... Wir glühenden Nationalsozialisten“, sagte er, „kennen nur ein Gesetz: die Treue zum Führer!“ Er sprach gern und oft. „Das deutsche Volk hat den wertvollsten Zug seines Wesens, die nordische Treue, für das Linsengericht des welschen Huma­nismus hingegeben. Der Führer macht diesen verderblichen Tausch rückgängig. Es muß wieder gelten: Unsere Ehre heißt Treue! Das nenne ich deutsche Wiedergeburt.“ Er sprach nicht nur gern, er sprach auch fließend. Er zitierte oft „Mein Kampf“ und noch öfter Rosenbergs „Mythos“. Er war NSF-Offizier. Mit Leidenschaft hielt er „wehrpolitischen Füh­rungsunterricht“. Wehnert, fand Holt, ließ sich mit Ziesche vergleichen. „Vergeßt nie die strahlende Mission, die wir Deut­schen erfüllen!“ sagte er. „Seit zwei Jahrtausenden sehnt sich die Menschheit nach Erlösung. Die Welt wartet auf den Hei­land. Wir, Volk der Deutschen, sind der Heiland. Aber wir lassen uns nicht, wie jener falsche Erlöser, ans Kreuz schla­gen. Wir schlagen die anderen ans Kreuz. Unser Evangelium heißt Macht.“

Zu den Rekruten pflegte er zu sagen: „Panzerschütze Rei­mann! Sie sind nur ein Stück Dreck! Sie werden die Gnade nie begreifen, in dieser Zeit leben zu dürfen. Niemals wird die Erleuchtung über Sie kommen, welche Ehre es ist, für Adolf Hitler zu sterben. Sie leben stur dahin, fressen, saufen. Sie sind Dünger für den Acker, den wir Nationalsozialisten mit dem Schwert pflügen, damit das Reich wachse und gedeihe.“

Er hatte zwei Steckenpferde: Vorträge über Themen wie „Der Held und die Geschichte“, „Das Deutschtum und der heldische Gedanke“ und Kriegsspiele am Sandkasten. Er führte eine Reihe von Liedern ein, die von der SS gesungen wurden: „Kamerad, wo bist du“ lautete das eine, es kam etwas von einer „kleinen Freundin“ darin vor. Peter Wiese sagte zu Holt: „Die Sentimentalität dieser Lieder ist verlogen!“ Holt war das gleichgültig. Er schrie, was die Lungen hergaben, denn wenn der Gesang klappte, ließ man sie in Ruhe marschieren. Das war das wichtigste.

An der Front war Leutnant Wehnert nur kurze Zeit ge­wesen, ein paar Wochen in Frankreich. Wolzow sagte: „Re­den kann er sehr schön. Mal sehn, was an der Front aus sei­nem ,heldischen Gedanken’ wird. Was er sagt, unterschreib ich. Er könnte mein Ideal sein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, er trägt eine Maske, und in Wirklichkeit... Also abwarten!“ Einmal gerieten sie aneinander. Wolzow prahlte mit seinen militärischen Kenntnissen. Wehnert rief: „Sie sind ein Angeber, Wolzow! Ich habe schon manchen großmäuligen Feigling gekannt.“

Wolzow sagte am Abend: „Großmäuliger Feigling ... Das laß ich mir nicht bieten!“

Wenige Tage später war im Zielgarten das erste Werfen mit scharfen Handgranaten. In der Deckung eines Gebüsches händigte Revetcki Holt eine Stiel- und eine Eierhandgranate aus. Holt mußte sie schärfen, dann steckte er die Stielhand­granate durchs Koppel und kroch über das Feld zu dem Schüt­zenloch hin, wo Leutnant Wehnert wartete.

Der Leutnant, in dem engen Loch dicht an Holts Seite, er­klärte noch einmal: „Es wird nicht gezählt! Es wird abgerissen und geworfen.“ Etwa zwanzig Meter vor dem Loch war ein Pfahl als Ziel in die Erde gerammt. „Los!“ Holt schraubte den Stiel auf, die Schnur mit dem Porzellanknopf fiel in seine Hand. Er riß ab und warf. Leutnant und Rekrut duckten sich tief ins Loch, die Druckwelle der Detonation fegte über sie hin. Holt warf auch die Eierhandgranate.

Wolzow saß inmitten der Gruppe im Gebüsch und wartete. Er schwang wie üblich große Reden. „Die Wirkung einer Handgranate ist gering“, sagte er. „Es handelt sich vor allem um eine moralische Wirkung.“ – „Sie sollen heute noch ver­spüren“, deklamierte Revetcki, „wie tief moralisch mein Privatschliff wirkt!“ Wolzow schwieg. „Los, ab!“ befahl Revetcki.

Wolzow kroch ins Loch, wo Wehnert wieder seinen Spruch aufsagte: „Es wird nicht gezählt, es wird abgerissen und ge­worfen.“ – „Jawohl“, sagte Wolzow. Dann warf er die Stiel­handgranate. Als er sich die Eierhandgranate zurechtmachte, fragte er: „Ich bin doch recht unterrichtet: der Zünder brennt fünf Sekunden?“ – „Quatschen Sie nicht. Werfen Sie!“

Wolzow schob umständlich den Ärmel des Mantels und der Feldbluse hoch, legte das Zifferblatt seiner Armbanduhr frei, sah den Leutnant an und riß den Zünder ab. Dann hielt er die Eierhandgranate in der Faust und blickte auf die Uhr. „Noch vier Sekunden...“ – „Wolzow!“ schrie der Leutnant in Todesangst. – „Noch zwei Sekunden ... noch eine ...“. Der Leutnant sank zusammen, grau im Gesicht. „Weg!“ schrie Wolzow und schleuderte die Eierhandgranate von sich, sie de­tonierte in der Luft, Sand peitschte ins Loch.

Wehnert zitterte. Auch Wolzow zitterte nun. „Herr Leut­nant, eh Sie mich das nächste Mal ,großmäuligen Feigling’ schimpfen, da sehn Sie sich meine Ahnentafel an.“

Nur Holt und Gomulka erfuhren von dieser Begebenheit. Wolzow sagte: „Nun muß ich abwarten, ob er Tatbericht einreicht.“ – „Warum forderst du ihn so heraus?“ fragte Holt. – „Das verstehst du nicht. Von Wehnerts Beurteilung hängt meine Offizierslaufbahn ab. Ich muß schnell Unteroffi­zier werden. Entweder er macht mich jetzt fertig, oder... Ich glaub, ich hab ihm imponiert.“ Er nahm Holt beiseite. „Wie ihm in dem Loch das Zittern gekommen ist... Jetzt bin ich sicher. Alles Fassade! Der macht sich was vor, der redet sich was ein, weil er Angst hat! Der Wehnert fällt um!“

Holt antwortete nicht. Er sprach mit Wolzow eigentlich nur noch über den Dienst. Wolzow wurde immer härter, rück­sichtsloser, von vielem, was Holt bewegte, durfte er nichts wissen. Holt hatte sich nie mit ihm über die Erlebnisse in den Karpaten ausgesprochen. Er ließ sich von Wolzow mitschlep­pen, aber die Entfremdung wuchs.

 

Leutnant Wehnert reichte keinen Tatbericht ein, sondern zog Wolzow mehr und mehr vor. Wolzow wurde sein Lieb­lingsrekrut. Die Spiele am Sandkasten taten ein übriges. Die Ausbildung sah dann und wann Unterricht über „Taktik des Panzerkampfes“ vor, das Thema beschränkte sich auf Formationsfahren, Marsch- und Gefechtsformation, Geländekunde. Wolzow aber schlug mit Wehnert im Sandkasten wahre Mam­mutschlachten, Schachkämpfe der Strategie, wobei er den Leut­nant mittels klangvoller Phrasen einkesselte und vernichtete. Er lieferte ein klassisches Cannae nach dem andern, vereinigte seine getrennten Truppen mehr als einmal mustergültig auf dem Schlachtfeld – „Das Höchste, was ein Feldherr zu lei­sten vermag!“ – und meldete dann, mit schräggelegtem Kopf: „Herr Leutnant, ich muß schachmatt sagen! Ihre beiden Kampfgruppen dort, die dürften inzwischen längst verschos­sen haben!“

Holt ließ sich gern als Helfer heranziehen, er hörte gedul­dig Wolzows ausgefallene historische Parallelen an. Der Sand­kasten war zehn mal fünf Meter groß, ringsum führten ein paar Holzstufen empor. Wenn ein solches Spiel bevorstand, befahl Wehnert Holt und Vetter zu sich und ließ sie eine vielgestaltige Landschaft aufbauen, mit Flüssen, Bergen, Wäl­dern und Städten. Am Nachmittag wies er dann Revetcki für die vorgeschriebenen Formationsübungen eine schäbige Ecke an und rief Wolzow zu sich. „Ich hab uns da ein schönes Problem aufgebaut. Sie haben Rot. Ich hab Blau und greife an.“

Er verteilte die Figuren, kleine Panzer, Schützenpanzer, Ka­nonen aus Kunststoff, Symbole für größere Einheiten. Holt stand mit einem zwei Meter langen Zeigestab dabei, um die Figuren zurechtzurücken. Wehnert hockte geschniegelt auf der obersten Treppenstufe. „Ich bin mit starken Panzerkräften überraschend durch Ihre Linien gebrochen, mit zwei Panzer­korps, Infanterie, Artillerie und so weiter. Meine Reserven sind Ihnen unbekannt. Sie haben keine bedeutenden Reser­ven.“ Wolzow maulte: „Immer muß ich mit unterlegenen Kräften operieren, und dann kritisieren Sie, daß ich Ermat­tungsstrategie treibe! Wie sieht es denn in der Luft aus? Darf ich rauchen?“ Wehnert nickte. „In der Luft reichen die Kräfte gerade aus, jeweils die eigenen Erdtruppen zuverlässig abzuschirmen, das vereinfacht das Problem etwas.“ – „Hier, die Stadt, soll das meine Hauptstadt sein?“ – „Ja. Legen Sie los.“ – „Nein“, sagte Wolzow unlustig. „Ich muß doch erst mal sehn, wohin der Stoß zielt!“ Leutnant Wehnert zog die Spitze eines Panzerkeils näher an die Stadt heran. „So. Abend des vierten Angriffstages.“ Wolzow überlegte lange, ging um den Sandkasten herum und rauchte. „Ich beginne meinen Auf­marsch. Ich brauch acht Tage. Rücken Sie inzwischen weiter vor... Nein, Herr Leutnant, nicht gar so schnell, ich hab dort immerhin ein paar feste Orte und Artilleriekräfte, mit denen müssen Sie erst mal fertig werden. Bis an den Fluß, weiter kommen Sie in den acht Tagen nicht.“ Wolzow stellte seine Figuren auf und erklärte: „Ihr Angriff zielt auf meine Hauptstadt, die Situation ähnelt der Lage in Frankreich Juni 1940.“ Wehnert sah mit wachsendem Erstaunen zu. „Was ist denn los? Das ist doch Unsinn! Wollen Sie Ihre Kräfte nicht zur Verteidigung der Hauptstadt ansetzen?“ – „Wo steht denn geschrieben, daß ich meine Hauptstadt unbedingt decken muß, Herr Leutnant? Da werden Sie aber auch nicht eine Literaturstelle finden. Das kann ich doch machen, wie ich will! Ich hab eine starke Garnison dort, die wird natürlich alar­miert.“ – „Und wollen Sie mir nicht den Flußübergang ver­wehren? Das ist doch die letzte Barriere vor Ihrer Hauptstadt!“ – „Ich werd doch nicht wegen so einem bissel Flußsand meine besten Divisionen opfern!“ sagte Wolzow. „Hier, hinter meiner Hauptstadt, stell ich ein schwaches Korps auf das kann jederzeit zur Verstärkung der Besatzung eingesetzt werden. Ich erklär meine Metropole zur Festung, die müssen Sie belagern, Herr Leutnant!“ Wehnert zog seine Panzerspitzen bis an den Fluß. „Ich kämpfe mir den Flußübergang frei und setze über!“ – „Bitte!“ sagte Wolzow. „Ziehen Sie ge­gen die Hauptstadt, das kann mich gar nicht irremachen. Ich marschier in Ihrer Nordflanke auf, mit der Hauptmacht meiner Panzer- und Infanteriedivisionen, da wolln wir doch mal sehn, ob Sie wagen, weiter vorzugehn!“

Nun überlegte der Leutnant, verblüfft über die Wendung, die das Spiel nahm. Wolzow fuhr fort: „Wenn ich Ihnen meine Panzerdivisionen überstürzt in den Weg werfe, werde ich geschlagen und bin erledigt. So haben Sie sich das nämlich gedacht.“

Der Leutnant schwieg, noch immer betroffen. „Aber daß Sie mir einfach den Weg freigeben, ist das nicht gegen alle Regeln?“ – „Regeln, was man darf und was man nicht darf“, erklärte Wolzow großsprecherisch, „gibt es in der Strategie überhaupt nicht. Grundprinzipien, ja, aber sonst gilt nur eins: das jeweils Bestmögliche zu tun. Moltke hat die Strategie ein System von Aushilfen genannt. Bis Moltke hat es geheißen: Ein Feldherr muß als Wichtigstes seine Basis sichern, muß Flanken und Rücken decken, muß seine Kräfte zusammenhal­ten, soll vor der Schlacht Masse bilden, soll vordringlich auf die feindliche Hauptarmee marschieren ... Ein Feldherr soll und ein Feldherr muß und so weiter, das waren im neunzehnten Jahrhundert unumstößliche Gesetze. Moltke hat gegen alle diese Gesetze verstoßen und hat trotz dieser Riesenfehler ge­siegt. Da hat schon Schlieffen die Frage gestellt: War das bloß Glück? Es war mehr. Es war eben Moltkes System von Aus­hilfen.“

„Gut, gut“, sagte Wehnert. „Jetzt muß ich also eine Aus­hilfe finden. Sie sollen sich verrechnet haben, daß ich Sie dort in Ihrer Bombenstellung angreife. Ich lasse Ihren Auf­marsch in meiner Flanke stehen, natürlich drehe ich Teilkräfte nach Norden ein, im übrigen stoße ich weiter auf Ihre Haupt­stadt und beginne sofort mit der Belagerung. Holt, rücken Sie mal die ersten acht Abteilungen heran!“ Wolzow überlegte. Dann zog er seine Panzer im Bogen nach Osten. Wehnert sagte: „Ja ... aber ...“ – „Ging heut schnell, was? Sehn Sie, was jetzt passiert?“ Wehnert starrte auf den Sandkasten. Sein Gesicht rötete sich. „Ich bin aber doch stark genug, um einen Stoß in den Rücken aufzufangen! Ich beziehe hier in der Hü­gelgegend mit starken Teilkräften eine feste Rückenstellung.“

Wolzow grinste ungeniert. „Überall starke Teilkräfte! Teil­kräfte drehen nach Norden ein, Teilkräfte beziehen eine Hü­gelstellung, Teilkräfte belagern meine Hauptstadt; und mein Panzerkorps, Herr Leutnant, das schick ich jetzt auf Urlaub, für Ihre Teilkräfte reicht meine Garnison! So will Moltke ja nun auch nicht verstanden sein! Ihre Teilkräfte überrenn ich, wo ich will!“ Wehnert sah verblüfft auf Wolzow, der nun fragte: „Darf ich was Grundsätzliches sagen? Ihnen schwebte so etwas wie Cäsar bei Alesia vor. Die Deckung einer Belage­rung gegen Entsatzheere ist eine der schwersten Aufgaben für den Feldherrn, dabei ist schon vielen großen Männern eine Pleite passiert, und gelungen ist es nur wenigen.“ Er zog sein Taschenbuch. „Erstmalig wurde das Problem von Cäsar gelöst. Als die Gallier mit Übermacht den Vercingetorix entsetzen wollten, gab er die Belagerung Alesias nicht auf, sondern schloß sein Belagerungsheer selbst mit Wall und Graben ein. Moltke hätte das eine geniale Aushilfe genannt. Ob so was heute überhaupt noch möglich ist, das ist sehr fraglich. Im­merhin ist es den Russen bei Stalingrad gelungen, Mansteins Entsatzversuch abzuweisen, ohne die Belagerung aufzuge­ben. Aber der Wunsch, bereits errungene Vorteile nicht preis­zugeben, hat zum Beispiel 1683 dem Kara Mustapha den greifbaren Sieg gekostet! Er konnte sich nicht entschließen, seine Janitscharen gegen Karl von Lothringens Entsatzheer zu werfen, aus war’s! Ähnlich ging’s dem preußischen Fried­rich, als er mit Teilkräften nach Kolin zog. Richtig hat es Napoleon gemacht. Er hat 1797 die Belagerung von Mantua aufgegeben und bei Rivoli, Corona und La Favorita die Öster­reicher vernichtet, woraufhin ihm Mantua von selbst zufiel. Ich habe hier den Fehler vermieden, den Napoleon 1813 gemacht hat. Napoleon“, sagte er mit unüberbietbarem Selbstbewußtsein, „hätte wie ich sein Heer seitlich von Paris aufstellen müssen, da hätten es die Preußen nie gewagt, ein Korps auf Paris gehen zu lassen! Sie haben es gewagt. Wären Sie gegen meinen Aufmarsch nach Norden eingedreht, da hätte ich es sehr schwer gehabt.“

„Sie haben ein phänomenales Gedächtnis, Wolzow“, sagte Wehnert, „das hilft natürlich viel, wenn man solche Präzedenzfälle im Gedächtnis hat. Ich mach Sie zum Unteroffizier, ich schick Sie auf Offizierslehrgang. Erst müssen Sie natürlich durch den Schmelztiegel der Front. Denn Sie dürfen nicht denken“, meinte er, während er das helle Koppel zurecht­rückte, „daß militärisches Wissen allein die Führernatur aus­macht, dazu gehört selbstverständlich mehr, und nicht jeder wird Leutnant!“ Er nickte. „Sehen Sie mich an. Härte bis zur Grausamkeit, unerschütterlicher Glaube an die großdeutsche Sendung und vor allem bedingungslose Treue zum Führer über den Tod hinaus . .. Das sind die wichtigsten Eigenschaften eines nationalsozialistischen Offiziers.“ Er deutete auf den Sandkasten. „Morgen sind Sie vom Infanteriedienst befreit, da spielen wir noch einmal durch, wie es gekommen war, wenn ich Ihre Hauptmacht angegriffen hätte.“ Wolzow schrie: „Ja­wohl, Herr Leutnant!“

Leutnant Wehnert hielt Unterricht. Thema: „Ist Rasse Schicksal?“ Holt saß im Unterrichtsraum stets weit hinten, neben Peter Wiese. In seinem Rücken lümmelten sich Wol­zow und Vetter auf den harten Schemeln. Wehnert trat hoch aufgerichtet vor die Rekruten hin, in seinem Rücken thronte Revetcki auf dem Katheder, ein Auge halb geschlossen, das andere weit aufgerissen und den Blick starr in den Raum ge­richtet. Wehnert trug das runde Parteiabzeichen an der Pan­zeruniform. Der Blick seiner kalten Augen ging über die Re­kruten hinweg. Er hielt die Hände auf dem Rücken.

Jetzt konzentriert er sich, dachte Holt. Er stützte die Ellen­bogen auf die Tischplatte, aber Revetcki zog drohend eine Augenbraue hoch.

„Ist Rasse Schicksal?“ fragte Wehnert mit klingender Stimme. Holt dachte gespannt: Ob er jetzt endlich mal erklärt, was er unter Schicksal eigentlich versteht? Immerfort Schicksal, Herrgott, Vorsehung ...

„Das Schicksal einer Rasse bedeutet Selbstbestimmung“, begann der Leutnant. „Denn das nordische Blut...“ Holt war unaufmerksam. „... jeder einzelne daran Anteil hat...“, hörte er, „. . . die Möglichkeit, von sich aus zur Wiedervernordung unserer Nation beizutragen ... nordische Rasse und ...“


Date: 2015-12-24; view: 859


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