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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 9 page

Er sah an ihr vorbei. Vor seinem Blick verschwammen die Konturen des Fensters in der Dämmerung. „Ein Mädchen .., wie Sie“, sagte er, „genauso jung, eine Slowakin, auch blond .. . in der Notwehr hat sie einen von uns totgeschlagen... er wollte sie vergewaltigen. Dafür sollte sie erschossen weiden. Wenn ich den Befehl bekommen hätte... dann hätte ich es getan.“

„Aber... Sie haben es doch nicht getan“, sagte sie leise. „Da können Sie doch ruhig schlafen.“

„Ich hab sie sogar laufenlassen“, sagte Holt kaum hör­bar. „Aber das zählt nicht. Denn ich hab gewußt, daß es nicht rauskommt, sonst hätte ich nicht den Mut gehabt... Was ist das?“

Sie saß lange stumm. Dann sagte sie: „Versuchen Sie doch... zu beten!“

Er antwortete nicht. Er schüttelte den Kopf. Schicksal, Vor­sehung, Gott... Es regte sich in ihm wie Auflehnung: Ich will keinen Gott! Die Menschen müssen daran schuld sein, vielleicht weil sie unvollkommen sind oder wer weiß, warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär’s zum Verzweifeln!

Sie stand in einem plötzlichen Entschluß auf und holte die Spritze, nahm seinen Arm und stieß ihm die Nadel unter die Haut.

Er wurde rasch müde. „Ich hab eine Bitte, Schwester Re­gine. Kann morgen nicht Sepp Gomulka in Meiers Bett?“ – „Der Oberarmdurchschuß?“ Sie nickte. „Aber nun müssen Sie schlafen.“ Sie redete beruhigend auf ihn ein. „Es soll ein Lazarettzug durchkommen. Er geht bis ins Reich. Ich will ver­suchen, daß Sie mitgeschickt werden.“ Er lag mit geschlosse­nen Augen. Sie strich ihm mit der Hand über die Stirn. Er hörte im Einschlafen noch die rauhe Stimme Wolzows, der Meier wieder ins Bett steckte.

Am anderen Morgen lag Gomulka tatsächlich am Fenster, das Gesicht mit Pflastern beklebt, den Arm verbunden. Auf Holts Fragen gab er einsilbig Antwort. Wolzow, der hier seit dem Urlaub das erstemal wieder etwas wie gute Laune zeigte, sagte: „Meier ist operiert! Der Chef hat sich das nicht entgehen lassen.“ Holt döste vor sich hin. Erst am Abend, als die Dämmerung ins Zimmer kroch, erwachte er aus seiner Lethargie. Schwester Regine trat ihren Dienst an und fragte: „Wie steht’s auf der Kinderstation?“ Sie kümmerte sich nicht um Wolzows Protest, sie lachte und lehnte sich mit dem Rücken gegen das offene Fenster. Holt fragte: „Was Sie gestern gesagt haben von einem Lazarettzug, ist es wirklich wahr?“ – „Wir erwarten ihn schon morgen“, sagte sie. „Sie dürfen mit. Ich hab schon die Unterschrift.“ – „Aber wenn Sepp und Gilbert...“ – „Ich hab mir’s gedacht. Bei Ihnen, Wol­zow, hat der Doktor ein bißchen die Stirn in Falten gezogen, dann hat er aber doch unterschrieben. Ich soll Sie alle in eine Kinderklinik überweisen.“ Sie lachte abermals. Wolzow knurrte: „Die paar Jahre, die Sie älter sind als wir!“

Gomulka sagte auf einmal von seinem Bett her: „Daß wir hier wegkommen, daß es uns überhaupt wieder so gut geht, das haben wir gar nicht verdient!“ – „Verdient?“ Wolzow lachte. „Du hast wohl Fieber! Seit wann geht denn so was nach Verdienst? Beziehung braucht man! Diesmal hat der Werner die Beziehungen. Wenn es um Weiber geht...“ – „Gilbert!“ rief Holt böse. Wolzow fuhr ungerührt fort: „Sieht doch ein Blinder, Schwester, wie der Holt Sie mit Schmus ein­gewickelt hat!“ Sie stützte sich mit beiden Händen rücklings auf das Fensterbrett und lachte, daß ihre Zähne blitzten. „Paßt es Ihnen nicht, wenn ich Holt ein bißchen vorzieh? Ich zieh immer einen vor. Er brüllt ja auch nicht so rum wie Sieund ist nett, nicht so ein Landsknecht wie Sie!“



„Mit richtigen Schlafwagen reist ihr“, sagte sie am ande­ren Tag und packte die Sachen zusammen. „Ich wünschte, ich könnte mitkommen, aber ich darf noch nicht weg, erst wenn meine Zeit herum ist, dann such ich mir daheim in Schwerin was.“ Als die Krankenträger erschienen, hatte Schwester Regine das Zimmer verlassen. Holt dachte, während er die Treppe hinuntergetragen wurde: Ich hätte ihr gern auf Wie­dersehen gesagt...

Er bezog mit Gomulka ein zweibettiges Abteil. Wolzow lag nebenan. Holt hörte ihn durch die dünne Abteilwand schimp­fen: „Nimm doch deine Knochen zur Seite, Döskopp!“ Das Pflegepersonal war unfreundlich und mürrisch.

Am anderen Morgen erreichten sie Prag. Holt hatte nicht geschlafen, die Schienenstöße bereiteten ihm Schmerzen. Auch Gomulka fühlte sich elend. Zwischen Prag und Dresden hielt der Zug oft und lange auf freier Strecke. Sie brauchten vier­undzwanzig Stunden bis Schandau, dort standen die Wagen einen Tag lang auf einem Abstellgleis. Am anderen Morgen erreichte der Zug endlich Dresden. Sanitätskraftwagen brachten sie in ein großes Reservelazarett. Holt, Wolzow und Gomulka lagen wieder Bett an Bett.

Man sah von den Fenstern hinab zur Elbe. Der Lazarett­betrieb erinnerte eher an eine Kaserne als an ein Kranken­haus. Nach wenigen Tagen sagte Wolzow: „Ich hab das satt. Ich meld mich gesund!“ Am Nachmittag erhielt er einen Brief von Vetter. Der Rest der Abteilung sei wieder in einem La­ger, erzählte er. „Vetter schreibt, er wird voraussichtlich Mitte Oktober entlassen.“

Tags darauf stand Wolzow marschfertig an Holts Bett. Es war das erstemal, daß sie sich trennten.

Gomulka sprach kaum noch ein Wort. Er lag in seinem Bett und sah vor sich hin. Dann und wann besuchte ihn sein Onkel, der hier in Dresden als Zahnarzt praktizierte. Holt las in den Hölderlin-Gedichten.

Er gewöhnte sich schwer an das antike Versmaß. Nur we­nige der Gedichte erschlossen sich seinem Verständnis. Meist war es nur eine Stimmung, die er nachempfand, eine tiefe Me­lancholie. Doch Glanz und Wohllaut der Sprache berührten ihn auch dort, wo er die Worte nicht verstand. Es gab Verse, die sich ihm für immer einprägten, die zürnenden Worte des „Jünglings an die klugen Ratgeber“ und stärker noch die Ele­gie „An die Natur“. Er las, bis er die Strophen auswendig wußte. Daß der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt: Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden fortgerissen wie ein Vorhang, hinter dem sich das Leben verbirgt. Was bleibt zurück? Das ein­same, frierende Ich, dem es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen.

„Und Siegesboten kommen herab:“, las er, „Die Schlacht ist unser!“ Das erschütterte ihn. „Lebe droben, o Vaterland, und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen ...“ Könnte man doch so sprechen! dachte er. Könnte man den Krieg erleben als furchtbare, doch reine und heilige Aufgabe, wie man sich’s einmal erträumte ... Wüßte man doch: Es ist gerecht und darum sinnvoll und gut! Denn nicht der Kampf ist unerträglich und furchtbar, nur die Sinnlosig­keit, das Umsonst der Entschlüsse, das Unrecht der Taten ... Wolzows Kampf in der Mühle, dies erkannte er nun, war ein Symbol. Sich schlagen ohne Auftrag und Zweck, nur um eine grauenvolle Bluttat zu verbergen. Wer ist schuld, daß wir unsere Kraft, unser Leben, alles, was wir besitzen, hin­opfern müssen ohne Sinn, daß wir umsonst und vergeblich kämpfen, nur um die Nacht über tausend Sägemühlen festzu­halten?

So grübelte er, tagelang.

Er ließ sich in der Lazarettbibliothek Bücher geben und las, was ihm in die Hände geriet, Bücher, die hier herumstan­den und nie gelesen wurden: Griechische Kosmogonie von Hesiod bis zur Orphik, eine Abhandlung über Kants Antinomien der reinen Vernunft, Goethes „Faust“ und viele Romane, Bände, die wer weiß wie ins Lazarett gelangt waren.

Als er aufstehen durfte und auch Gomulka das Bett verließ, kamen sie wieder miteinander ins Gespräch. An manchem schönen Oktobertag wanderten sie durch die Anlagen des Krankenhausgartens. Die Sonne wärmte nicht mehr. „Ich überleg mir, wie’s nun weitergeht“, sagte Holt. Gomulka hob die Schultern. „Woher soll ich das wissen?“

Rechtsanwalt Gomulka besuchte seinen Sohn. Er übergab Holt einen Brief von Gundel. Dabei sagte er, in einem Ton, als gratuliere er einem Mandanten zum Freispruch: „Was das junge Mädchen betrifft, mein lieber Werner Holt, so sendet sie Ihnen ... Eigentlich“, unterbrach er sich, „müßte ich es sagen, aber man darf hier wohl das Genus naturalis dem gram­matischen Geschlecht vorziehen ... sendet sie Ihnen also dies hier mit den allerbesten Wünschen für baldige Genesung. Meine Frau hat recht viel Freude an Gundels gelegentlichen Besuchen.“ Als er wieder abreiste und sich verabschiedete, beugte er sich zu Holts Bett herab, „übrigens... Sie brau­chen nicht die geringste Sorge zu haben. Es ist alles bedacht, in casum casus. Was eventuell den Vormund erwartet, wird keinesfalls das Mündel treffen, dessen versichere ich Sie!“

Holt las Gundels Brief, dankbar, aber auch beschämt. Die Gedanken an Gundel hatten etwas Bedrückendes. Werde ich ihr jemals wieder unter die Augen treten können? Ich darf ihr niemals eingestehen, daß ich geschossen hätte, damals, auf dem Schulhof... Der Gedanke war wie eine Wunde, die nicht heilen will. Lind wenn nun so ein Befehl tatsächlich... und wenn ich ihn ausführe ... Dann ... Es sprach in ihm: Wie willst du weiterleben, das Kainsmal an der Stirn?

Die Gedanken quälten ihn. Er sagte im Garten zu Go­mulka: „Ich muß dich was fragen. Als du auf dem Schulhof hinter dem Hausmeister standst... wenn Böhm dir da befoh­len hätte...“ Gomulka bewegte ablehnend die Hand. Holt verstummte.

„Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, darüber nachzugrü­beln“, sagte Gomulka schließlich. „Drück dich nicht!“ sagte , Holt. „Hättest du ihn erschossen? Ja oder nein!“

„Damals: ja.“

„Und heute?“

„Heute...?“ Gomulka atmete rasch. „Ich würde auf Böhm schießen! Ich würde um mich schießen! Ich wär ja sowieso hin, wenn ich den Befehl verweiger. Dann soll aber noch jemand mitgehn von dem Gesindel, das uns so etwas befiehlt.“

Holt hörte die Stimme der Slowakin im Keller: Schlagt eure Anführer tot! Er fragte atemlos: „Würdest du das wirklich tun, Sepp?“

Gomulka schwieg. „Ich möchte“, sagte er dann. „Aber . .. ob ich den Mut habe ... Ich weiß nicht...“

„Ob es welche gibt, die so einen Befehl verweigern?“

„Ich glaub schon.“

Holt rief: „Aber wir müssen doch jeden Befehl ausführen! Das ist doch das oberste Gesetz des Soldaten! Wo kam denn die Wehrmacht hin, wenn wir Befehle verweigern! Befehl ist Befehl!“

Gomulka lächelte. „Wo die Wehrmacht hinkam? Wo kommt sie denn so hin, Werner! Und was du ,oberstes Gesetz’ nennst... Da haben längst alle Gesetze ihre Gültigkeit verloren, nur dieses eine nicht!“ Er holte aus der Brust­tasche sein kleines Notizbuch und blätterte darin. „,Es ist in keinem Kriegsgesetz vorgesehen’“, las er, „,daß ein Soldat bei einem schimpflichen Verbrechen dadurch straffrei wird, daß er sich auf seinen Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen An­ordnungen in eklatantem Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder internationalen Übung der Kriegsführung stehen.’ Wie findest du das?“

„Das?“ sagte Holt verwirrt. „Das ist... die Genfer Kon­vention, nicht?“

Da lachte Gomulka, bitter, verzweifelt. Er rief: „Denk an die Sägemühle! Das hier... das hat Goebbels zu Pfingsten im ,Völkischen Beobachter’ geschrieben! Gemeint sind die amerikanischen Flieger, die unsere Städte bombardieren.“

„Aber ... das ist doch richtig!“

„Und wer bestimmt, was ein ,schimpfliches Verbrechen’ ist? Und was ist ,menschliche Moral’? überhaupt...“, höhnte Gomulka, „,menschliche Moral’, das hätte uns der Ziesche um die Ohren gehauen, Herrenmoral des nordischen Menschen gibt es, sonst nichts!“ – Heilloser Wirrwarr! Es fehlt irgendwas, dachte Holt, es ein Maßstab .. .! „Ein Maßstab fehlt, Sepp“, sagte er, „an dem sich messen läßt, was gerecht und ungerecht ist!“

„Jeder behauptet, recht zu haben“, antwortete Gomulka. „Es kommt auf die Maßstäbe an. Es gibt einen sehr einfachen Maßstab, Ziesches Maßstab: Wir Deutsche haben recht, im­mer, auch in der Mühle, wir dürfen alles.“

„Aber so ... kann es nicht sein.“

„Wenn du auf das hörst, was die... die bei uns sagen“, fuhr Gomulka fort, „dann wirst du immer verwirrter, dann weißt du gar nichts mehr. Die drehn alles so, als ob sie recht hätten.“

„Der Archimedische Punkt fehlt“, sagte Holt.

„Ja... Hast recht. Es muß etwas geben, wo keiner lügen kann. Wo die Tatsachen sprechen. Wo man sagen kann: Sei ruhig, hier ist der Beweis, du hast unrecht, du hast schuld. Der erste Schuß ist es nicht, solche ... äußerlichen Tatsachen kann man organisieren, frisieren, verschleiern. Es muß etwas Innewohnendes geben, etwas im Wesen der Welt.“

„Nicht vielleicht außer ihr?“ fragte Holt.

„Du meinst Gott? So sagen viele. Dauernd wird von Gott geredet, von Vorsehung, Schicksal. Mir paßt das nicht. Die Alten, Werner, wo sie etwas nicht wissen, da muß es auf ein­mal Gott sein.“

„Früher war jedes Gewitter Gott“, erwiderte Holt, „und die Cholera auch. Mein Vater hat gesagt, da war ich noch ganz klein: Gott ist ein Virus... Das Unerkannte ist Gott, Sepp, solange es unbekannt ist. Die Wissenschaft hat Gott schon den Mantel ausgezogen und wird ihm auch noch das Hemd ausziehen.“

„Aber am Krieg soll er schuld sein!“ sagte Gomulka. „Nein, das ist ja genauso primitiv wie der ‘Weltjude’, da kann sich auch jeder darunter vorstellen, was er will.“ Er versank wieder in Nachdenken. „Bis man’s weiß, muß man sich an das wenige halten, was eindeutig ist.“

„An die Mühle?“ sagte Holt leise.

„Ja. Das genügt ja auch.“ Gomulka hockte trübselig neben Holt auf einer Gartenbank. „Mein Vater“, sagte er noch, „der gibt sich alle Mühe. Aber ich komm so schwer darüber hin­weg, daß die Alten uns das alles eingebrockt haben, und wir dürfen es auslöffeln!“

„Und dürfen dran krepieren!“ sagte Holt.

Holt erhielt einen Brief von Wolzow. Wolzow saß, vom Arbeitsdienst entlassen, in der öden Villa und spielte mit Vetter Offiziersskat. Seine Mutter, schrieb er, sei nun endgül­tig in einer Irrenanstalt untergebracht, nachdem sie noch „für eine Offiziersfrau schandbare Dinge“ getrieben habe ... Der Rest der Klasse sei in die Winde verstreut. Für den 20. Ok­tober habe er nun die Einberufung zur Panzer-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 26 erhalten, Vetter desgleichen. Auf dem Wehrbezirkskommando habe er erfahren, daß der gleiche Truppenteil auch auf Holt und Gomulka warte.

Holt erkundigte sich bei der Lazarettverwaltung. Dort lagen schon für ihn und Gomulka die Gestellungsbefehle. In der letzten Oktoberwoche wurden sie entlassen. Die Abteilung hatte ihnen die alten Luftwaffenhelfermonturen nachge­schickt. Sie waren laut Entlassungsbefund „k. v. Ersatz­reserve I“ geblieben. Genesungsurlaub, wie sie erhofft hatten, gab es nicht. Mit einem Personenzug fuhren sie von Dresden ostwärts.

Ein riesiges Kasernengelände nahm sie auf. Sie fragten sich durch ein halbes Dutzend Schreibstuben zur Stabskompanie durch. „Jetzt ist Mittag. Melden Sie sich nach zwei bei Leutnant Wehnert. Raus!“ Auf einem Korridor kam ihnen Wolzow entgegen, groß, finster, im Drillich, ein gefülltes Kochgeschirr in der Hand.

Er freute sich. „Ich hab bestens vorgesorgt. Dem Revetcki hab ich gesagt, wenn er die beste Korporalschaft haben will, dann muß er unbedingt für euch Platz halten. Hat er ge­macht. Revetcki ist unser Unteroffizier. Ein Urvieh, halb Wildschwein, halb Kasperle. Der Peter Wiese ist auch hier, den haben sie k. v. geschrieben! Er hängt an allen Ecken und ist für die Ausbilder der Fußabstreicher. Vetter ist natürlich auch dabei. Sind die alten Krieger wieder schön beisammen!“

Draußen heulte es: „Woooolzow!“ – „Das ist er! Mal sehn, was er will. Bin wieder so eine Art Adjutant. Unser Zugführer heißt Wehnert, Leutnant, ganz junger Kerl, von der Napola, leidenschaftlicher Soldat. Mal sehn, was Re­vetcki will.“

Holt sah sich in der Stube um und belegte eins der beiden leeren Betten. Von dem darunterliegenden Strohsack erhob sich ein baumlanger Mensch. „Stabsgefreiter Kindchen“, sagte er. „Könnt ,du’ zu mir sagen. Bloß wenn ich mal dienstlich werden muß, dann lieber ,Sie’. Bin hier Stubenältester. Außer­dem Schießunteroffizier.“ Er gab ihnen die Hand. „Ich hab ausgesorgt“, erzählte er in leicht sächsischer Mundart, „wun­derbar steifes Knie, hält ewig, g. v. H. bis ans Ende dieser Welt! Bin seit achtunddreißig Soldat.“ Er setzte sich wieder auf sein Bett, dabei mußte er den Rücken krumm machen, so groß war er. „Bin Fabrikbesitzer, ich mach feine Andenken, herrliche Sachen, kleine Schweine mit ,Viel Glück’ und Steirerbuam mit ,Gruß von der Bastei’, auch Gartenzwerge. Unser Kommandeur, Major Reichert, diese Sau, der ist Vertreter! Paßt mal auf! Nach dem Krieg wird’s bei mir klingeln. Ich sitz grad beim Frühstück. Wird meine Frau sagen: ,Fritzel, da ist ein Herr Reichert!’ Nehm ich die Tasse. Trink. Gähn. ,Soll warten!’ sag ich dann. Das wird herrlich!“

Holt warf den Rucksack aufs Bett. Es geht weiter, dachte er.

 

6.

Das Leben des Helden ist das Leben, das wir uns er­streben, das Leben der nach Beute und Sieg lüstern schwei­fenden blonden Bestie. Wir können nur dadurch Helden sein, daß wir unser Jahrhundert zum Beginn einer neuen Welt ge­stalten. Denn der Held steht immer in den Anfängen der Welt. Sein Gegenbild ist der Nachfahr.

Holt war Rekrut. Er nannte sich Panzerschütze. „Panzer­schütze Holt!“ Er sang, ein MG über der Schulter, mit rasselnden Stimmbändern: „Fern-bei-Se-dang! Auf-den-Höööö-hen! Stand-ein-Pan-zer-schüüüü-tze-auf-der-Wacht!“ Alles Bis­herige war Spiel gewesen, Vorspiel, bloßer Auftakt der militärischen Ausbildung. Nur selten noch dachte er nach. Die Aus­bildung war anstrengend, das Leben unmenschlich hart. Aber der Panzerschütze Holt wünschte sich nicht mehr fort aus dieser riesigen Kaserne, obwohl er sie wie ein Zuchthaus ver­fluchte, aus der Nähe der Vorgesetzten, obwohl er sie verab­scheute. Er schickte sich in alles, in Drill und Dienst und Schikane. Denn er hatte gelernt: Es wird immer noch schlim­mer, als es war. Diesmal stand die Front bevor, das Inferno der Durchbruchsschlachten im Osten. Die 11. Panzerdivision, für die man hier Ersatz bildete, gehörte zum Ostheer. Und im Osten erbebte in diesen Wochen das Reich. Also: wünsch dir nicht, daß es ans Rucksackpacken gehe!

Holt wurde als Panzerfunker ausgebildet. Sie durchjagten ein umfassendes Ausbildungsprogramm. Funkgeräte, Ultrakurzwellen- und Mittelwellensender, -empfänger. Funktion, Bedienung des Gerätes, Abstimmen, Frequenzwechsel, Sprech-und Tastfunk, Pflege und Wartung, Störungen. Täglich zwei Stunden Morsen. Man zog des Nachmittags mit einem zweirädrigen Karren los, worauf die Funkgeräte montiert waren, zog auf die umliegenden Dörfer und suchte sich dort einen windgeschützten Fleck, hinter einer Feldscheune oder auf dem Hof eines Bauern. Dann ging es los. Funksprechverkehr. Kaum hatte man ein warmes Plätzchen gefunden, schon trieb der Befehl die Bedienung des Karrens wieder hinaus, die Chaussee entlang, über die der Novembersturm pfiff.

An den Abenden paukte man Q-Gruppen, wie einst in der Schule Vokabeln. QZL hieß „Spruch hat keinen Sinn“, Merk­hilfe: „Quatsch zum Lachen“. Man sagte nicht mehr: „Wie spät?“ Man fragte: „QTR“, „erbitte Uhrzeit!“ Man lernte den Gebrauch der Funk- und Schlüsseltafel und des Raster­schlüssels.

Ausbildung am Panzer, an veralteten, nicht mehr einsatz­fähigen Wagen, die aus Benzinmangel nie die Fahrzeughalle verließen, an dem dreiundzwanzig Tonnen schweren Panzer III. Aus- und Einsteigen, Ausbooten nach Treffern, Ein- und Ausbau der Funkgeräte, Funker-MG und Turmwaffen, Richt und Ladeübungen an der Kanone. Einen fahrenden Panzer, von den klapprigen, turmlosen Gestellen der Fahrschule abge­sehen, auf denen hinten klobige Holzgasgeneratoren montiert waren, sah Holt in all den Wochen nur ein einziges Mal. Das war, als sie „Panzerüberrollen“ übten, in einem kleinen Erd­loch, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Karabiner zwischen den Knien. Die breite Kette des Panzers rollte über das Loch, deckte es zu, drückte Sand und Erde hinein, gab es wieder frei. Holt tauchte aus dem Erdreich, Sand in den Augen, und er mußte nun nach Befehl hinten auf den abfahrenden Panzer springen... Dann Waffendienst. Karabiner, Gewehr­granatgerät, die Maschinengewehre 34 und 42, die Pistolen 08 und 38, Maschinenpistole, Sturmgewehr 44, Stiel- und Eier­handgranate, geballte und gestreckte Ladungen, Kriegsmit­tel zur Panzerbekämpfung, Nebelkerze, Tellermine, Haft­hohlladung, Panzerschreck und Panzerfaust. Am strapaziöse­sten war die Infanterieausbildung. Nachtorientierungsmärsche, tagelange Quälereien im Zielgarten, gefechtsmäßiges Scharf­schießen, Dreieckszielen, Panzernahbekämpfung, Kriegsspiel Gruppe gegen Gruppe, wobei man die Platzpatronenvorräte des Stabsgefreiten Kindchen verknallen durfte, auf freiem Feld oder zu nachtschlafener Zeit in der Stadt, wo die Ein­wohner ängstlich durch die verdunkelten Fenster lugten. Nah­kampfausbildung, Bajonettfechten, Infanteriespaten als Waffe, Haltung des Gewehrkolbens beim Schlag, die Handgranate als Schlagwaffe, MG-Schießen aus dem Lauf, die eine Hand am Zweibein, die andere am Abzug. Man schrie dabei aus Leibes­kräften „Hurra!“. Gasausbildung, Gasplane, Entgiften, Filter­wechsel, Erste Hilfe. Und außerdem Unterricht über zwei Dutzend Themen, Spionageabwehr, Geschlechtskrankheiten, Panzererkennungsdienst, Taktik des Panzerkampfes am Sand­kasten.

Vierzehn Stunden täglichen Dienstes! Eins, in diesem Win­ter des Jahres 1944, gab es nicht mehr: Exerzieren, Kasernen­hofdrill. Die Ausbildungszeiten waren immer wieder verkürzt worden, und der Drill war in potenzierter Form in der Infanterieausbildung enthalten. Zwei Stunden im Zielgarten waren sechs Stunden Ordnungsdienst auf dem Kasernenhof wert. Aber es gab keine Gewehrgriffe mehr, keine Ordnungs­übungen, nur ein paar Wendungen, ein wenig Marschieren und Grüßen.

Sobald das Kasernengebäude verlassen wurde, war „kriegs­mäßiges Verhalten“ vorgeschrieben. Der riesige, mehrere Hektar große Kasernenhof war gesprengt und in ein künst­liches Trichterfeld verwandelt worden, in dessen Mitte wie ein drohendes Gespenst ein hundertmal ausgebrannter T 34 stand, ein grauenvolles Wrack, an dem man mit Nebelkerzen und Übungspanzerfäusten ausgebildet wurde. Wer aufrecht aus der Kasernentür trat, verfiel der Rache der Unteroffiziere. Selbst beim Essenholen setzte man mit dem leeren oder ge­füllten Kochgeschirr gebückt und sprungweise durch die Trichter.

Die Ausbilder brauchten kein Exerzieren, um die Rekru­ten „sauer zu machen“, wie der Fachausdruck hieß; man konnte ihnen beim Infanteriedienst „zeigen, was Preußengeist ist“, „die Gedärme rausleiern“, „das Gehirn ausschaben“, „die Seele verdorren“. Der UvD sorgte dafür, daß es in den Stuben nicht zu gemütlich zuging, und warf das Bettzeug nicht nur in der Stube umher, sondern auch aus dem Fenster, zwei Stock­werke tief hinab. Er kippte mit Vorliebe Spinde nach vorn ins Zimmer. Man erlebte nachts den „Maskenball“, es gab das Scheuern des Korridors mit Hand- oder Zahnbürsten, scham­lose Inspektionen bestimmter Körperteile, und es gab Gewehr­appelle, die Samstag am Abend begannen und Sonntag am Abend endeten.

Holt ertrug es stumm, auch Gomulka schwieg zu allem. Vetter stumpfte immer mehr ab. Wolzow nahm das alles als „Training für die Front“, wo es „weit ungemütlicher“ zugehe. Der kleine, schwächliche Peter Wiese aber verfiel körperlich und zerbrach. Wolzow sagte ungerührt zu Holt: „Er geht drauf, so oder so. Nur die Starken bestehen die Probe.“

Holt sah oft auf den schmächtigen Jungen. Er dachte: Drei Monate Ausbildung, noch acht Wochen, noch vier Wochen ... Also hat er noch zwei Monate, noch einen Monat zu leben. Wiese träumte vom Konservatorium. „Ich bin nun doch fest entschlossen, Pianist zu werden! Vor allem Chopin und Ru­binstein möchte ich spielen ... Ja, Rubinstein hab ich erst im letzten Jahr entdeckt. Ich weiß nicht, was mir an ihm so ge­fällt. Vielleicht, weil er in seinen Jugendwerken so ein ... Temperament hat, das mir selbst fehlt... Oder der Bal costum′e, das müßte ich dir vorspielen, es ist unbeschreiblich! Du hast recht, eigentlich liegt mir Schumann viel mehr, ich hab ihn leidenschaftlich gern gespielt, aber er liegt mir eben zu sehr, bei ihm verlier ich mich.“

„Da komm ich später in deine Konzerte“, sagte Holt. Wiese sah auf die Uhr. „Ich muß Revetcki und Boek die Schuhe putzen.“

Die beiden Gruppenführer des Ausbildungszuges waren der Schrecken der Rekruten. Unteroffizier Revetcki nannte sich einen „preußischen Korporal“. Wolzows Formel „Ur­vieh, halb Wildschwein, halb Kasperle“ war zu einfach. Re­vetcki war unberechenbar, herzlos, gemein, manchmal affek­tiert und albern, dann wieder roh und stampf, gleichzeitig brutal und triefend von Sentimentalität, heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders. Er war wortgewandt und flüsterte in wohlgesetzter Rede, dann wieder brüllte er, wüst und in schamlosen Ausdrücken. Er war von Beruf Schauspieler. Er spielte immer Theater, und wie er wirklich war, wußte keiner. Peter Wiese zitterte vor ihm, Holt nannte ihn einen Wahnsinnigen, Gomulka sagte: „Er ist pervers!“

Er war Ende der Dreißig, klein, nur etwa einen Meter und sechzig groß, von zierlichem Wuchs. Er pflegte sorgfältig seine schlanken Hände und parfümierte sich. Sein Gesicht war zerknittert, verfältelt; in der Mitte, über einem hölzernen ro­ten Mund, hing eine gurkenförmige Nase herab. Er konnte dieses Gesicht zusammenfalten wie eine auf Leinwand aufgezogene Landkarte, er konnte es strahlend ausbreiten wie ein frischgewaschenes Laken. Aber sein Blick blieb kalt und böse. Das Register seiner mimischen Verwandlungsmöglichkeiten war endlos. Er sprach abwechselnd in Jamben, gereimt und im übelsten Kasernenhofton. Sein Haarschnitt, eine lange, dauergewellte Mähne, widersprach allen militärischen Sitten, und auf diesem Bubikopf thronte das Schiffchen; unter der Feldmütze quoll die Lockenpracht rings hervor. Es blieb ein Rätsel, wie er diese Haartracht zu bewahren verstand. Vieles war rätselhaft an ihm.

Holt hatte ihn am ersten Tage kennengelernt. Er war noch keine halbe Stunde da und räumte seinen Spind ein, als sich die Tür öffnete und ein Männchen in die Stube trat, das Holt am liebsten für ein altes Weib gehalten hätte. Aber die Schul­terklappen eines Unteroffiziers ließen ihn Haltung annehmen und brüllen: „Panzerschütze Holt meldet sich zum Dienst!“ Der Unteroffizier hielt ein dünnes Rohrstöckchen in den ge­pflegten Händen. „Unteroffizier Revetcki“, sagte er und lä­chelte honigsüß. „Angenehm. Für mich! Ich bin Ihr Korpo­ral.“ Er deutete ringsum. „Beim Eintritt hier laßt alle Hoff­nung fahren!“ Er drehte das Stöckchen in den Händen. „Dies ist mein Korporalstock, bei mir wird noch geprügelt.“ Dann nickte er wohlgefällig mit dem Kopf. Er ging zweimal im Kreis um Holt herum und klopfte dabei mit dem Rohrstöckchen an die Schäfte seiner Knobelbecher. „Ein schmucker Rekrut“,, sagte er sanft, „ein hübscher Rekrut, ei, welche Augen­weide!“ Dann stand er wieder vor Holt, seine zerknitterten Gesichtszüge ordneten sich, er flüsterte mit einem drohenden Unterton: „Jetzt halten Sie mich doch nicht etwa für einen Urning?“ Er schüttelte sich vor Ekel. „Für homosexuell?“ – „Nein, Herr Unteroffizier!“ brüllte Holt. Revetcki nickte. „O welches Glück, daß mich ein Menschenherz begreift!“ dekla­mierte er mit hochgezogenen Brauen. Sein Gesicht war wiei der wüst zerknittert. Mit dem Stöckchen deutete er auf Wolzow. „Der Wolzow weiß, daß ich heterosexuell bin. Er kennt meine Alte, diese Toppsau, die mir das Mark aussaugt!“ Sein Gesicht verklärte sich. Holt glaubte zu träumen. Revetcki hüstelte. „Weiter­machen!“ Dann ging er zur Tür. „Wenn Sie mit Ihren Mist­sachen die Stube verdrecken!“ schrie er plötzlich und flötete „Darin bin ich komisch!“ und schrie: „Wenn ich nachher die Stube inspiziere und finde Staub, dann sehen Sie keine Betten mehr, dann sehen Sie keine Spinde mehr, dann sehen Sie keine Tische mehr, dann sehen Sie keine Stühle mehr, dann sehen Sie nur noch herumwirbelnde Hölzer!“


Date: 2015-12-24; view: 733


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