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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 8 page

„Sepp!“ rief Holt erschrocken. Gomulka ließ die Hände sinken. Er stöhnte. Er sah Holt an. Aus seinen Augen sprach unbeschreibliches Entsetzen. „Geh nicht rein!“ schrie er. „Mein Gott, geh nicht rein!“ Abermals bedeckte er das Gesicht mit den Händen.

Holt war ratlos. Das Gefühl einer unheimlichen Bedro­hung schnürte ihm die Kehle zu. Gomulka sagte dumpf: „Doch ... geh rein ... Los, geh!“

Holt nahm den Karabiner von der Schulter, aber er hängte ihn wieder um, zog die Parabellum und entsicherte sie. Er riß die Tür auf und schaute in einen schmalen Korridor. Er trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er spähte vor­sichtig in das kleine Büro. Nichts. Schließlich ging er in die Werkstatt.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Dann sah er. Was er sah, war so über alle Maßen grauenhaft, daß es sich in seinem Hirn erst wie aus Mosaiksteinchen zu einem vollständigen Bild zusammenfügen mußte. Aber dann begriff er. Alles um ihn begann sich zu drehen, vor seinen Augen wurde es rot und dann schwarz. Er hielt sich am Türpfosten fest. Er wollte fliehen, aber die Glieder versagten und begannen haltlos zu zittern.

Er sah: Eine Kreissäge. Auf dem mit Sägespänen bestreu­ten, blutgetränkten Boden lagen russische Uniformstücke verstreut, und dazwischen ein paar über den Knien abgesägte Beine, eine Hand, ein Stück Schenkel. Auf dem Tisch der Kreissäge lag der nackte, armlose Oberkörper eines Menschen. In die Brust war ein großer Sowjetstern geschnitten. Aus dem Leib hatte das runde Sägeblatt die Gedärme herausgezerrt, und Eingeweide, Fleischfetzen und Kot erfüllten den Raum mit einem unerträglichen Gestank.

Jemand polterte durch die Tür und prallte zurück. Es war Wolzow. Auch er wurde aschfahl. Er zog die Schultern nach vorn, sein Kopf kippte zur Seite. Dann packte er Holt am Arm und zog ihn ins Freie.

Holt wankte ein paar Schritte in den Abend hinaus. Er spürte, wie ihm der Mageninhalt hochkam. Er erbrach sich. Wolzow sagte neben ihm: „Immer raus damit... Jetzt geht’s schon wieder besser!“ Dann stieß er Holt mit der Faust in den Rücken. „Los, weg hier!“

Sie gingen die Straße zurück und trafen Vetter mit den anderen. „Zwei Gehöfte sind ganz ordentlich“, sagte Vetter, „aber keine Sau im Stall, nicht mal ’n Karnickel!“ – „Halt’s Maul!“ sagte Wolzow.

Er ging zu Böhm. Böhm fragte: „Wo?“ Wolzow deutete mit der Hand ins Dorf. Böhm hob die Schultern und schüttelte den Kopf, aber da rief Wolzow: „Wir haben auch Nerven, gehn Sie doch hin und sehen Sie sich an, was für eine Sauerei die SS dort angerichtet hat!“ Rischka zog Wolzow zur Seite, nestelte seine Feldflasche los, und Wolzow nahm sie und trank. Holt sah das alles teilnahmslos mit an. Wolzow reichte ihm die Feldflasche. „Trink! Los doch, es ist Schnaps, das hilft, nimm noch einen Schluck, du auch Sepp!“ Holt trank und gab die Flasche weiter.



Vetter führte den Zug zu den beiden Gehöften. Bald wurde es dunkel. Böhm stellte den Kommandotrupp an den Talweg. Holt und Gomulka wachten nach Osten hin, bei dem einsamen, ausgebrannten Gehöft.

Wolzow durchstreifte das Dorf. Gegen Mitternacht kon­trollierte Böhm die Posten, mürrisch und mißgelaunt. Als er gegangen war, kam Wolzow wieder und rauchte bei Holt und Gomulka eine Zigarette. Er erzählte: „Ich hab ihm noch mal vorgeschlagen, die beiden Züge ins Dorf zu holen. Ich hab ihm gleich vorhin gesagt, wir müssen die Mühle abbren­nen, aber er will nicht. Wenn sie das Dorf einnehmen und die Bescherung in der Mühle sehen, dann lassen sie ihre Wut an uns aus. Ich versteh die SS nicht! Wenn man so was macht, läßt man’s doch hinterher nicht offen rumliegen.“ Er trat die Zigarette aus. „Ich komm wieder.“ Er tauchte in der Nacht unter.

Gomulka hatte den Abend kein Wort gesprochen. Seine Be­wegungen waren fahrig. Jetzt, da sie in der Dunkelheit beieinanderstanden, sagte er plötzlich: „Ich hab es gewußt. Aber ich hab es nicht geglaubt.“ Erst nach Minuten fuhr er fort: „Jetzt glaub ich alles.

Holt nahm den Karabiner von der Schulter und legte ihn auf die Patronentasche. Auge um Auge, Zahn um Zahn, dachte er. „Gnade Gott uns allen, wenn wir nicht siegen!“

„Siegen!“ sagte Gomulka verächtlich. „Das gibt es nicht. Das darf nicht sein, daß so was siegt!“

Holt antwortete nicht. Eine halbe Stunde verging. Es war still, nur der Bach rauschte.

„Ich hab, seit ich in die Schule gehe, nicht mehr an Gott geglaubt“, sprach Gomulka wieder, und seine Rede war ver­worren. „Ich kann auch nie mehr an Gott glauben... Aber daß es den Teufel gibt, das glaub ich.“ Er sprach mit ent­stellter Stimme: „Seit ich das heute gesehen hab ... und wenn ich nun denk, wie es werden wird mit Deutschland, dann hör ich meine Mutter, wie sie mir früher einmal aus der Bibel vorgelesen hat: Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen und nicht finden ... und werden begehren zu ster­ben, und der Tod wird vor ihnen fliehen... Und ich seh das Kriegsende... das fahle Pferd, von dem es heißt: Und der daraufsaß, des Name hieß Tod. Und die Hölle folgte ihm nach...“

Holt schauderte. Nun wußte er das Gefühl zu deuten, das ihn seit Stunden nicht mehr losließ. Es war Todesangst. Er horchte mit allen Sinnen in die Dunkelheit. Der Mond ging erst frühmorgens auf. Das Rauschen des Baches deckte alles zu. In einsamer Nacht, und auf verlorenem Posten.

Wolzow rief die Losung, noch ehe seine Schritte laut ge­worden waren. „Was Neues? Nein? Es ist gleich eins.“ Er stand regungslos. „Böhm hat sich hingelegt. Ich geh jetzt mal zum dritten Zug. Wenn was ist... schießt lieber zu früh als zu spät.“

Die Nacht sog ihn auf.

Es wurde empfindlich kalt. In der Dunkelheit leuchtete nun blaß der weiße Nebel, der aus dem Bach stieg und langsam über die Wiesen kroch. Gomulka flüsterte an Holts Ohr: „Ich hör was!“ Holt starrte in die Nacht. „Dort vorn!“ Holt sah und hörte nichts. Gomulka hob das Gewehr.

„Warte!“ Holt ging langsam den Weg entlang. Er dachte: Das ist falsch, da kann Sepp nicht schießen. Aber er ging doch weiter. Endlich blieb er stehen und lauschte. Nichts. Nur der Bach rauschte. Holt drehte sich um und horchte nach Süden über die Wiesen hin. Nichts.

Ein klirrender Schlag traf seinen Helm, glitt ab, traf die Schulter, warf ihn hin, im Fallen drehte er sich um sich selbst, dann traf ein zweiter, kraftvoller Kolbenschlag seinen Körper. Der Klang einer gewaltigen erzenen Glocke dröhnte in seinen Ohren, hob ihn hoch über das Tal, bis er das ein­setzende Schießen nur noch von fern vernahm, das Geschrei der Kämpfenden, das Brüllen Wolzows, der den dritten Zug auf der Brücke in einen Feuerhagel hineinführte. Aber das alles war schon ausgelöscht. Ein großes, warmes Glücksgefühl erfüllte ihn.

 

5.

 

Heftiges Stoßen und Schaukeln löste unerträgliche Schmerzen aus. Holt stöhnte. Er drehte den Kopf zur Seite. „Lieg still!“ sagte Wolzow barsch. „Dir haben sie wahrscheinlich etliche Rippen eingeschlagen.“ Holt lag auf einem Lastwagen. Ne­ben ihm röchelte jemand. Er schloß wieder die Augen. Sein Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Er wußte nicht, was geschehen war. „Wo ist Sepp?“ fragte er schwach. – „Auch hier. Hat einen Schuß im Arm. Mir ist einer durch die Wade gegangen. Durch die Hand ein Bajonettstich. Lieg still, wer weiß, was bei dir alles kaputt ist!“ Holt wälzte sich auf die schmerzende Seite. So lag er besser. Das Röcheln neben ihm war grauenhaft.

Der Wagen erreichte bald einen Verbandplatz. Dort nahm man die Verwundeten nicht an. Auch der Hauptverbandplatz wollte nichts von ihnen wissen und schickte sie fort. Der Wagen fuhr weiter, immer weiter. Das Röcheln neben Holt ver­stummte. Erst tief in der Nacht erreichten sie eine Stadt. Dort wurden sie ausgeladen.

Holt wurde am Morgen geröntgt. „Schreiben Sie: Röntgen­aufnahme linkes Schultergelenk. Das Acromion zeigt eine Infraktionslinie ohne irgendeine Dislokation...“ Und weiter: „Röntgenbefund Thorax. Zwerchfelle glatt konturiert, Herz normal konfiguriert, Fraktur dritte, vierte und fünfte Rippe im Bereich der hinteren Axillarlinie ohne nennenswerte Dislo­kation ...“ Er wurde hinausgefahren und fand sich in einem Bett wieder, in einem richtigen, weißbezogenen Bett. Das Zim­mer war klein. Eins der drei Betten war leer, in dem anderen lag ein hohlwangiger, älterer Mann. Man sah durch das geöff­nete Fenster in den Garten.

„Das ist hier schon Protektorat, Kumpel“, sagte der Mann, „hier kannst du ganz ruhig schlafen!“ Holt war stark benommen. Am Abend stand eine junge Schwester in heller Tracht an seinem Bett und fragte: „Wie alt sind Sie?“ – „Bald achtzehn.“ – „Also siebzehn!“ rief sie teilnahmsvoll. „Haben Sie Schmerzen?“ Er drehte den Kopf zur Seite und sah hin­aus in den dunklen Abendhimmel.

Später kam sie abermals und gab ihm eine Injektion in den Unterarm. „Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus!“ – „Wie heißen Sie?“ flüsterte Holt. – „Schwester Regine. Aber jetzt wird geschlafen!“

Am anderen Morgen, nach der flüchtigen Arztvisite, hum­pelte Wolzow durch die Tür, guter Laune wie lange nicht mehr. Er hatte die Hose über das Nachthemd gezogen, das linke Hosenbein war abgeschnitten. „Wie geht’s, alter Krie­ger?“ Er setzte sich zu Holt aufs Bett. „Bei mir ist alles wie geölt durch die Glieder geratscht, saubere Fleischwunden, det Himmel verläßt die alten Krieger nicht! Der Chefarzt wollte mich gar nicht hierbehalten, ich sollte ins Garnisonsrevier, da hab ich eben ein bißchen simulieren müssen!“

„Simulieren?“ rief der Mann in der Ecke und richtete sich auf. Er war schrecklich abgemagert. „Und er hat’s nicht gemerkt? Ich denke, die Ärzte merken es immer, wenn einer simuliert?“

„Ach wo“, sagte Wolzow. „Ich weiß Bescheid, die Frage ist ausführlich untersucht worden, schon im Weltkrieg und noch früher, steht alles in Peltzers ,Kriegslazarett-Studien’, glaub ich, oder in Frölichs ,Militärmedizin’, ist ja egal. Ich hab ge­sagt, ich könnte mich nicht erinnern, wie das alles passiert war, ich hätte plötzlich dagelegen und immerfort gebrochen, auch auf der Fahrt hätt ich noch alles vollgekotzt, und so be­nommen war mir, und dann hätt ich fürchterliche Kopfschmer­zen, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll: ein bißchen hätten sie schon nachgelassen, die Kopfschmerzen! Da hat er natür­lich die Diagnose auf schwere Gehirnerschütterung stellen müssen, mindestens einundzwanzig Tage Bettruhe, was blieb ihm denn anderes übrig?“

Holt mußte lachen, aber das Lachen schmerzte in der Brust. „Wenn er dich hier erwischt!“ Wolzow schüttelte den Kopf. „Sind ja bloß zwei Ärzte hier, die operieren jetzt. Der Chef operiert für sein Leben gern; wenn es was zu operieren gibt, dann nimmt er jeden auf! Das ist doch kein Lazarett hier, das ist ein ganz gemütliches Kreisspital.“

Schwester Regine trat ins Zimmer. „Wolzow“ schalt sie. „Durch das Haus laufen, das gibt es nicht! Sofort ins Bett!“ – „Schwester“, sagte Wolzow, „wir sind ganz alte Schulfreunde, ich kriech dort in das freie Bett!“ Sie zögerte einen Augenblick, dann lächelte sie. „Schön. Da machen wir eben eine Kinder­station auf.“ Wolzow empörte sich: „Kinderstation! Von wegen . . .“ Sie befahl: „Sofort hinlegen!“ Sie gab Holt eine Tablette. „Gegen die Schmerzen.“

„Wie hab ich das gemacht?“ fragte Wolzow. Der Hohl­wangige in der Ecke aber sagte aufgeregt: „Hör mal, Kumpel, also weißte denn noch mehr solche Sachen, die was die Ärzte nicht rauskriegen?“ Wolzow war zurückhaltend. „Da müßte ich erst mal wissen, wie alt du bist und bei was für einem Haufen.“ – „Landsturm“, sagte der Mann, „bis dreiundvierzig war ich g.v.H., dann haben sie mich bedingt k.v. geschrie­ben. Ich war in Prag bei der Korpskommandantur, da sollte ich auf einem Gut in der Slowakei ein Schwein abholen, ein gemästetes, für den Korpsintendanten, die Sau, die hab ich mit ’m Opel-Blitz geholt, da haben sie mich zusammengeschos­sen, auf der Straße, grad als das dort losging. Das Schwein war auch hin. Hier ist es wie im Himmel, Kumpel! Es war ein glatter Lungenschuß, aber in drei Tagen werd ich entlas­sen, das ist furchtbar, denn der Korpsintendant soll so ge­tobt haben, weil das Schwein hingewesen ist, daß er mich wird an die Front schicken lassen. Ich heiße August Meier, bin drei­undfünfzig Jahre alt, evangelisch, verheiratet und hab vier Kinder. In der Partei bin ich aber nicht, weil ich früher Sozi war.“

„August Meier!“ sagte Wolzow und lachte laut. „Ausgerecht August Meier, da ist deinen Eltern wohl nichts Gescheiteres eingefallen, was? Also, alter Sozi oder was du warst, Stahlhelm, Volkspartei, war ja alles dasselbe, wenn du vierzig wärst, dann wüßte ich ja nichts, da würde ich dich an die Front jagen, aber mit dreiundfünfzig und vier Kindern, da will ich mal nicht so sein, da werd ich dir eine Blinddarmentzündung verpassen! Den Blinddarm hast du doch noch? Gut. Du mußt nach der Operation die Sache schön in die Länge ziehn, da kann man die Wunde eitern lassen und so, ich erklär dir das alles. Du hebst dir sofort alle Butter auf, du brauchst mindestens ein Viertelpfund ...“ – „Hab ich“, sagte Meier „sogar mehr, ich schick sie immer nach Hause.“ – „Da kannst du ja schon heute nacht operiert werden! Paß auf! Du be­kommst plötzlich Leibschmerzen, aber gräßliche! Du stöhnst und verziehst das Gesicht, so sehr du kannst, du hast ganz furchtbare Bauchschmerzen, und sie haben wie der Blitz aus heitrem Himmel angefangen...“

„Aber wenn das so sehr weh tut“, sagte Meier mit verzerr­tem Gesicht, „dann ist es vielleicht nicht das Richtige ...“ – „Du bist dämlich!“, rief Wolzow. „Mensch, es tut ja gar nicht weh, du tust doch bloß so, als ob es weh tut!“ – „Ja, richtig!“, sagte Meier. Wolzow fuhr fort: „Grad wolltest du sehn, wie spät es ist, ob es schon Zeit zum Schlafen ist, da war es drei Viertel neun oder so, das wirkt immer sehr überzeugend, wenn man die Uhrzeit noch weiß. Und der ganze Bauch tut dir weh, nicht bloß rechts, vor allem in der Mitte, so unterm Nabel...“

Holt lag unbeweglich. Die Erinnerung kehrte zurück. Die letzte Wache im Dorf. Der Kampf um die Schule. Die Slowa­kin. Das RAD-Lager. Gundel. Die Feuernacht in Watten­scheid. Er schloß die Augen.

„Ja, weiter!“, sagte Meier.

„Du legst dich nie auf die linke Seite, merk dir das, weil es da noch schlimmer weh tut! Du ziehst das rechte Bein an, weil das den Schmerz erleichtert, und wenn sie dir’s gewalt­sam ausstrecken, dann stöhnst du und ziehst es gleich wieder an. Verstehst du?“

Ich hab es gesucht, das...Abenteuer, dachteHolt. Nun darf ich nicht jammern und klagen, auch wenn darin umkomm. Aber ich hab es mir anders gedacht: reinigend, befreiend, und heroisch... nicht so sinnlos. Langemarck, wie es in den Lesebüchern stand, war immer das Ideal, singend für Deutschland in den Tod zu türmen... Alle die Bücher fielen ihm ein, er sah eine Seite mit gotischen Lettern aufgeschlagen vor ich: „...halbaufrecht emporgeworfen die Handgranate mit einem Jauchzen in das Maschinengewehr nestschleudernd... im Schwung noch von der Kugel getroffen und nieder sinken mit dem letzten Gedanken: ...Deutschland... Nahm den bitteren Kelch mit stolzem Heldenlachen ...“

Lüge! Die Bücher haben alle gelogen.

„Links tut’s nicht weh, beim Drücken, aber rechts ... Dann drückt er dir den Bauch ganz langsam tief rein, auch auf den rechten Seite, und läßt plötzlich los ... da schreist du ,Au!’ Und wenn er wieder reindrückt, da merkst du nichts, aber wenn er wieder losläßt, dann stöhnst du, was du kannst...“

Die Erinnerung an die Kindheit war heute klarer als sonst. Da bin ich noch nicht zehn gewesen, da haben wir Krieg gespielt. Ich hab gesagt: Wenn ich groß bin, dann will ich auch in den Krieg! Nun hab ich, was ich mir wünschte.

„... damit das Blutbild stimmt, mußt du zwanzig Minuten vor der Blutentnahme die ganze Butter auffressen, so schnell du kannst. Schaffst du das?“ – „Ich denke doch“, sagte Meier. „Mal so richtig Butter essen, warum nicht?“

Aber die Erwachsenen haben es zugelassen! Die haben mich hineingetrieben. Sieh dir den Werner an, der wird be­stimmt einmal ein tapferer Soldat! Ich bin nicht schuld, ich wußte es nicht besser. Die Erwachsenen hätten es besser wis­sen müssen. Sie haben mich mit schönen Sprüchen auf den Weg geschickt, auf diesen Weg.

„Und wenn du alles richtig machst, dann müssen sie dich operieren, und kein Mensch kann dir was beweisen!“

Holt drehte das Gesicht zum Fenster. Das Laub in den Baumwipfeln färbte sich braun. Wolzows Geschwätz drang immer wieder in sein Bewußtsein. Am Morgen, als er erwacht war, hatte er geglaubt, ihm sei die Flucht geglückt. Aber das Leben folgte ihm nach. Es folgte ihm in Wolzows Gestalt, das Leben, der Krieg. Wenn ich nicht wieder aufgewacht war, dachte er, dann war jetzt alles vorbei. Es war gar nicht schlimm. Es war schön. Nur die Angst ist schlimm, vorher, aber das Sterben ist sanft.

Wolzow wiederholte seine Anweisungen und paukte sie Meier ein. „Am besten, wir machen’s gleich heute abend“, sagte Meier, „weil du mir da noch helfen kannst!“

Holt hatte keine Schmerzen mehr. Die Benommenheit war gewichen. Ein Gefühl der Gelöstheit und der Ruhe überkam ihn. Die Ereignisse des letzten Jahres zogen wie Bilder an ihm vorbei, Ereignisse, die jedes für sich nicht viel mehr als einen Schock, vielleicht sogar nur ein Erschrecken bedeutet hatten, doch nun, da er sie überschaute, waren sie ineinandergeschmiedet wie die Glieder einer Kette, und diese Kette band ihn an das Leben und gab ihn nicht frei.

Es begann mit der Marie Krüger, dachte er. Bis dahin war alles leicht und klar. Als sie mir das von Meißner gesagt hat, da fing es an. Dann, in den Bergen, hat einer erzählt, wie man in der Ukraine Vieh requiriert und einen Bauern samt Familie erschossen hat. Dann Uta: Es ist ja doch alles um­sonst! Dann Frau Ziesche und die unbeschreiblich dreckige Arbeit ihres Mannes. Dann Vater: ... tötet die SS in den polni­schen Konzentrationslagern Hunderttausende ... Dann die Russengeschichte in der Batterie. Dann die Nacht in Kutsche­ras Baracke. Dann Gundels Schicksal. Dann die Slowakin. Dann die Sägemühle.

Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Parti­sanen zu Tode gefoltert. Ich weiß es. Ich hab versucht, das alles zu vergessen. Immer wenn ich es vergessen hatte, ist etwas Neues geschehen. Es läuft mir nach, es drängt sich mir auf, ich bin mittendrin, ich komm nicht mehr frei. Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muß durch die sieben Höllen. Eher ist nicht Schluß, eher gibt es keine Ruhe, kein Vergessen.

Ich weiß es nicht nur, dachte er, sondern: Etwas davon ist auch in mir. Etwas? Ich mach alles mit. Wenn Böhm befoh­len hätte: Erschieß sie!, ich hätte sie erschossen. Wenn der gleiche Befehl morgen wieder kommt... ich würde sie er­schießen.

O mein Gott!

Aber der sie erschossen hätte, grübelte Holt, der wär nicht ich gewesen. Ich hatte ja Lessers Befehl, in der Nacht, ich hab ihn nicht ausgeführt, ich hab sie laufen lassen, ich hab auch die Russen in Schutz genommen, damals. Der da im Geist schon visiert hat: zwischen den Schultern, etwas links, der bin nicht ich gewesen. Doch wir beide, er und ich, wir werden weiter machen, wie das Gesetz es befiehlt. Geradeaus schauen, irgendwohin, und vorwärts, marsch!

Vielleicht muß das so sein... damit wir endlich wir selbst werden. Vielleicht muß es so sein, daß alles dies erst über uns selbst kommt: Elend, Zerstörung, Qual und Tod, in den Bom­bennächten, und nun wohl bald überall, im ganzen deutschen Land. Er lag im Dämmerschlaf.

„Wo ist Sepp?“ fragte Holt. „Wo ist Christian? Was war überhaupt los? Gilbert, wo hast du den Bajonettstich her?“

Wolzow kaute, er sagte mit vollem Munde: „Sepp ist auch hier. Christian? Der wird halt irgendwo rumkrebsen, froh und munter, der überlebt uns alle, den hat der Schmiedling un­sterblich gemacht, von wegen ,Leiche’. Ich war mit ihm bis zu­letzt zusammen. Ich hätt ihm nie zugetraut, daß der mal so ein eiskalter Hund wird.“ – „Wie sind wir in den Lastwagen gekommen?“ – „Das war so: Die Doppelposten fielen ohne einen Schuß. Schon waren sie im Dorf. Als die Knallerei losging, war ich beim dritten Zug. Wir sind gerannt, was wir konnten. Als wir am Bach waren, da hatten sie im Dorf schon alles überwältigt, nur aus einem Gehöft hat es noch ein bißchen geschossen. Sie haben uns nicht über den Bach gelas­sen. Wir haben es zweimal versucht, aber sie haben uns zusammengeschossen. Auf der Brücke hab ich auch mein Ding verpaßt bekommen, durch den Stiefel. Sind wir also in die Sägemühle, noch einundzwanzig Mann.“ – „Und der erste Zug?“ – „Der hat draußen auf der Wiese gelegen und hat zugeschaut. Wir haben die Mühle verteidigt. Ich hab einen Melder losgeschickt, zum ersten Zug, über die Wiesen, später noch einen, aber keiner ist durchgekommen. Wir haben die ganze Nacht gekämpft. Zweimal waren sie bis im Hof und ein­mal schon im Korridor, da mußten wir sie mit dem Seiten­gewehr zurückwerfen, Vetter ganz vorneweg, wie ein Wilder. Wir haben uns geschlagen wie die Berserker, für keinen Kampf­auftrag, für keinen Zweck, nur, damit sie uns nicht dort schnappen, wo unten noch die ganze Sauerei herumlag. Das hab ich den Leuten vorher gezeigt. Hier, hab ich gesagt, jetzt wißt ihr, daß ihr bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen müßt! Haben sie auch getan. Aus Angst! Als es hell wurde, haben wir zwar besser gesehen, aber da haben sie uns an den Fenstern abgeschossen, daß man hätte seine helle Freude dran haben können, so gute Schützen waren dort dabei. Bei uns wurde die Munition knapp. Zuletzt waren noch neun Mann kampffähig. Ich hab nur immer überlegt, was ich mach, daß sie mich nicht in der Mühle erwischen. Schließlich kam eine Lastwagenkolonne von Osten den Talweg entlang, da fuh­ren als Bedeckung drei Schützenpanzer mit, Panzergrenadiere drauf, MGs und eine Zweizentimeter, die haben sämtliche Ge­höfte in Klump geschossen und uns aus der Mühle rausgeholt, sozusagen in letzter Minute. Der erste Zug hat unterdessen in den Löchern gelegen und hat es knallen lassen, weil sie keinen Befehl hatten, stell dir so was vor! Als es hell wurde, wollten sie ins Dorf, aber auf dem offnen Gelände ist der An­griff natürlich liegengeblieben. Als die Panzergrenadiere ka­men, sind die Partisanen in die Wälder. Es waren höchstens dreißig Mann, aber alles Scharfschützen. Nun hör dir an, was dem Sepp passiert ist. Er ist mit einem Schuß im Arm in das ausgebrannte Gehöft gekrochen und hat sich im Kel­ler versteckt, über ihm in der Ruine haben die Partisanen ein MG aufgebaut und zu uns in die Mühle gefunkt. Und die ganze Nacht hindurch haben sie die Hingerichteten, die beim Wirtshaus lagen, in den Keller getragen. Sepp hat sich hinter Gerumpel verkrochen, er ist fast gestorben vor Angst. Dich haben wir am Talweg aufgelesen. Ein Wagen hat die Verwun­deten weggebracht, vier sind unterwegs gestorben. Den Rest der Abteilung haben die Panzergrenadiere auf ihren Wagen mitgenommen.“ Er verschränkte die Hände unter dem Kopf. Holt lag wieder mit geschlossenen Augen. Sepp hat es also auch überstanden. Ich hab es überstanden. Wozu eigentlich?

Am frühen Abend begann Meier tatsächlich zu simulie­ren. Wolzow leitete ihn an. Schwester Regine versah den Dienst, wer weiß, wann sie einmal frei hatte. Sie stand an Meiers Bett. „Aber nun strecken Sie doch mal das Bein aus!“ – „Nein!“, stöhnte Meier. „Da soll es ja noch mehr weh tun!“ – „Soso“, sagte sie, „da will ich mal den Arzt holen!“ „War’s gut?“ fragte Meier. Wolzow rief: „Himmelhohes Rindvieh, du darfst doch nicht sagen, es soll weh tun, du mußt sagen, es tut weh! Und wenn er dich abfühlt, dann mußt du ,Au!’ brüllen!“

Der Assistenzarzt, ein noch recht junger Mann mit star­ken Gläsern in der dunklen Hornbrille, beugte sich über Meiers Bett, wobei er Wolzow den Rücken zuwandte. Er schlug die Decke zurück. Schwester Regine stand neben ihm. „Tut das weh?“ – „Überall!“ ächzte Meier. Er drehte das Gesicht zu Wolzow hin. Wolzow kniete im Bett und gab Meier Zei­chen. Meier verstand nicht. Er hatte offenbar so große Angst, als Simulant entlarvt zu werden, daß er ganz leidend aus­sah. – „Tut es hier weh?“ – „Stöhnen!!“ rief Wolzow ungeduldig. Meier stöhnte. Der Arzt drehte sich herum. „Was ist denn mit Ihnen los?“ – „.. tut der Kerl“, sagte Wolzow rasch, „stöhnen tut der, daß einem ganz bange wird!“ Der Arzt sagte unwillig: „Sie haben wohl schwache Nerven!“ Dann untersuchte er weiter. „Tut das weh?“ – „Nein... Auu“ schrie Meier. – „Drehn Sie sich zur Wand!“ Meier wälzte sich auf die linke Seite und stöhnte. – „Was ist denn?“ – „Es tut... weil es immer mehr, auf dieser Seite“, stammelte Meier. – „Einwandfrei“, sagte der Arzt zu Schwester Re­gine, „alles hübsch beisammen, komischerweise keine Ab­wehrspannung, die fehlt aber öfter mal. Rektal sparen wir uns, es ist einwandfrei.“ – „Und brechen!“ sagte Meier zaghaft. „Vorhin, da war mir so übel, und der ganze Bauch tut weh, nicht bloß rechts!“

„Geben Sie ausnahmsweise Dilaudid“, sagte der Arzt. „Und früh gleich fertigmachen und in den Opeh, der Chef operiert grundsätzlich nicht im Intermediärstadium, ich seh ihn heut noch und sage Bescheid. Aber vorher brauch ich den Leuko­zytenwert, läßt sich das machen?“

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, rief Wolzow: „Die Butter! Rasch, friß die Butter auf!“ Meier holte mit zitternder Hand eine gelbe Bakelitdose aus dem Nachttisch, fuhr mit zwei Fingern hinein und strich sich die gelbe Butter in den Mund, wieder und wieder. Dann warf er die Dose ins Schub­fach und schluckte. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er schluckte, er würgte. „Nicht brechen!“ rief Wolzow. „Zwing’s runter!“ Meier preßte die Hand vor den Mund. Er würgte immer qualvoller. Schwester Regine trat ins Zimmer und machte sofort kehrt, aber als sie mit einer Brechschale zurückkam, da hatte Meier es geschafft und lag schweißnaß und erschöpft in seinem Bett. „Geht es jetzt besser?“ fragte sie mit­leidig. „Warten Sie, ich mach Ihnen erst die Spritze zurecht!“

„Siehst du!“ sagte Wolzow triumphierend. „Der August Meier wird operiert! Und dann schön die Wunde eitern las­sen, du mußt dir den Dreck von deinem Furunkel reinschmie­ren, das haut hin! Aber jetzt müssen wir unbedingt erst noch zwanzig Minuten vergehen lassen, am besten, ich bring dich solange aufs Klo. Los, Tempo!“ Er sprang aus dem Bett. „Kumpel“, sagte Meier, „das vergeß ich dir nie! Wenn der Krieg aus ist, mußt du mich besuchen, du auch, Holt, ich hab ein Stück Acker, da schlacht ich die beste Gans!“ Sie ver­schwanden durch die Tür, beide im Nachthemd.

Schwester Regine sah erstaunt auf die leeren Betten. „Na­nu?“ Sie legte die Spritze auf den kleinen Instrumententisch am Fenster, dann stellte sie sich zu Holt ans Fußende des Bet­tes. Es dunkelte. „Und wie geht’s uns?“ fragte sie. – „Danke. Ich hab bis jetzt keine Schmerzen gehabt. Die Tablette war so schön beruhigend.“ – „Sooo?“ sagte sie gedehnt. „Aber das will ich nicht gehört haben, von wegen schön beruhigend, sonst gibt’s nichts mehr, das war Eukodal!“ Wie sie an seinem Bett stand, im letzten Tageslicht, erschien sie ihm ganz traum­haft und unirdisch, in der hellen Tracht, mit dem Häubchen auf dem blonden Haar. Er schaute sie an, schweigend, er dachte: Wenn es Gerechtigkeit gibt auf der Welt, dann wird auch hinter ihrem Rücken einmal einer stehen und wird visie­ren: zwischen den Schultern, etwas links.

„Schwester Regine...“, sagte er, „Sie sind doch ein... guter Mensch, bestimmt...“ Sie lächelte. „Was soll das?“ Er sagte: „Aber es wird über uns alle kommen, auch über Sie“. Sie neigte den Kopf, dann setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante. „Was reden Sie!“


Date: 2015-12-24; view: 727


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