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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 7 page

Der Hausmeister lehnte den zerschlagenen Kopf gegen die Mauer des Schulhauses. Das Mädchen trat neben ihn hin. Holt stand dicht dahinter, das Gewehr in den Händen, er dachte: Gleich kommt Böhm wieder, dann muß ich schießen ...

Böhm brüllte von der Haustür her: „In den Keller! Los, viel­leicht bewegt ihr euch ein bißchen schneller!“ Böhm öffnete unten ein stockdunkles Loch, ein massives Gelaß mit eiserner Tür. „Schwedt, Sie bleiben als Posten hier, bis ich Ablösung schicke. Die andern mitkommen.“

In der Wachstube stand der Trupp beisammen. Wolzow meldete: „Wenskat tot. Vier Mann auf Posten!“ Böhm über­flog die Gesichter, er murmelte die Namen: „Gomulka, Holt, Vetter, Zöllner, Meermann, Matzke, Runge... Schwedt im Keller... Wolzow, Sie übernehmen den Trupp! Ich hab mit dem Oberfeldmeister telefoniert. Er ist am Bahnhof. Wenn er zurückkommt, will er die beiden verhören. Er sagt, es stinkt, es stinkt überall, und es stinkt auch hier ganz gewaltig... Der erste Zug ist zurückgerufen worden. Der dritte Zug war nicht zu erreichen. Die Wachen werden heut nacht verdoppelt. Wolzow... Schulze ins Krankenzimmer. Dann das Erdgeschoß von Stroh säubern, ist zu brenzlig, alles hoch ins Obergeschoß, bloß das Wachlokal bleibt hier. Ich muß zur Brücke. Sie melden die Wache beim Oberfeldmeister, sobald er zurückkommt. Lassen Sie sich Befehle geben.“

„Erster Trupp hört auf mein Kommando“, rief Wolzow. „Vetter, Posten verständigen, die werden vorläufig nicht ab­gelöst! Zöllner und Meermann, Schulze holen!“ Vetter ging durch die Tür. Wolzow rief: „Arbeitsmann Vetter, wollen Sie nicht den Befehl wiederholen?“ – „Jawohl“, sagte Vetter verdattert. – „Ich bin mit Truppführer anzureden! – „Ja­wohl, Truppführer! –„Los, ab!... Ordnung muß sein“,schrie Wolzow. „Wir räumen die Zimmer im Erdgeschoß aus.“

Der erste Zug rückte ein. Das Haus dröhnte von Hammer­schlägen. Sie nagelten von innen die herausgerissenen Türen gegen die Erdgeschoßfenster. Irgendwer befahl, auch die Flü­gel der Eingangs- und der Hoftür dazu zu verwenden. „Hauptsache, sie können uns keine Bomben durch die Fen­ster schmeißen“, sagte Unterfeldmeister Rischka, der den er­sten Zug befehligte. Gegen Abend kehrten Lesser und Bött­cher zurück. Wolzow meldete sich bei ihnen im ersten Stock. Als er die Treppe wieder herabkam, sagte er zu Holt: „Kannst die Parabellum tragen, er hat nichts dagegen.“ Am Abend war auch Böhm wieder da, und Holt sah ihn hinter dem Oberfeldmeister in den Keller steigen. Wolzow brachte die Nachricht: „Die beiden werden morgen der SS übergeben.“ Holt antwortete nicht.

Endlich wurde es ruhig im Haus. Der erste Zug unter Rischka übernahm mit je zwei Trupps die Bahnhofswache und den Streifendienst in der Stadt und rückte ab. Der zweite Zug wurde zur Brücken- und zur Quartierwache eingeteilt. Am späten Abend holte Böhm noch einen der beiden Trupps von der Schulwache zur Brücke. „Drei Trupps an die Brücke ...“, sagte Gomulka, „und nur ein Trupp für die Schule?“ – „Sie faule Sau!“ schrie Böhm. „Da werden Sie eben nur alle drei oder vier Stunden abgelöst, ich brauch die Leute! Die Brücke ist wichtiger als das Quartier, der Oberfeldmeister hat das so befohlen!“ Widerstrebend ließ er den Obervormann Rößler zurück. Wolzow stellte drei Doppelposten auf, vor dem Ein­gang auf der Straße und im Hof. Der dritte patrouillierte durch das Schulgebäude.



Sie saßen im Wachlokal, Wolzow, Holt, Gomulka, Vetter, auch der Obervormann Rößler, ein ruhiger Mensch, der nur manchmal im Jähzorn üble Schimpfwörter hervorstieß. Wol­zow rauchte eine dicke Zigarre und kommentierte die Tages­ereignisse. „Wir sind vierzehn Mann hier, dazu Böttcher und Lesser. In der Nacht soll der dritte Zug zurückkommen, dann sind wir genug Leute.“ Vetter meinte: „Also diese Nervosität, so was! Wenn sie so aufgeregt sind, dann gibt es mei­stens überhaupt nichts.“

Holt verließ das Wachlokal. Das Gerede war ihm zuwider.

Er stand einen Augenblick an der Haustür und sah die beiden Posten unbeweglich im Dunkel... Er dachte an das Mädchen im Keller; dieser Gedanke quälte ihn wie ein kör­perlicher Schmerz. Ich hätte sie erschossen, dachte er. Er war unfähig, damit fertig zu werden. Er warf sich im Obergeschoß ins Stroh, aber er fand keinen Schlaf.

Elf Uhr löste er mit Gomulka den Streifenposten ab. Go­mulka schärfte den anderen ein: „Daß ihr nicht etwa auf uns schießt!“ Sie liefen langsam ihre Runde, die Straße vor dem Schulhaus entlang, durch den Garten um den Hof herum und auf der anderen Seite wieder zur Straße. Der Zaun beiderseits des Schulhauses war niedergelegt worden. Sie schwiegen und horchten angespannt in die Dunkelheit.

Es war Mitternacht. Sie verließen den Schulgarten und tra­ten auf die Straße. In der Stadt, ganz nahe, knallte ein Schuß. Holt erstarrte. Eine wüste Schießerei begann. Rasche, dünne Feuerstöße aus Maschinenpistolen, dazwischen in immer dich­terer Folge Gewehrschüsse. Beim Eingang brüllte es: „Steh!“ Dann knallte es auch dort. Gomulka lief los, zum Eingang hin. Holt hörte hinter sich hastende Schritte durch das Gebüsch des Gartens brechen. Er schoß. Vor ihm in der Dunkelheit blitzte das Mündungsfeuer einer Maschinenpistole. Jenseits des Schulplatzes, wo die Straße zwischen den Häusern stadtwärts führte, setzte heftiges Feuer ein, verstummte, flackerte wie­der auf. Nun fielen auch aus dem Schulhaus Schüsse.

Holt hörte Schritte über das Pflaster hallen, jemand lief von der Stadt her auf den Garten zu, stürzte hin und schrie: „Hiiiilfe!“ Holt war mit ein paar Schritten bei dem Gefalle­nen, der auf dem Bauch lag, den Kopf hob und röchelte: „Die Stadtwache ... Die Streifen ... Alles...“ Dann klirrte der Kopf mit dem Helm auf das Pflaster. Am Straßenausgang jenseits des Schulplatzes begann ein Maschinengewehr zu feu­ern, in kurzen Stößen.

Holt flüchtete zwischen die Gartenbüsche. Aber auch auf dem Hof schoß es, hinter ihm im Garten, ganz nahe, überall. Er lief auf die Straße, lief nahe der Mauer am Schulhaus entlang, warf sich zu Boden und kroch zur Tür hin. Vor dem Eingang lag einer der Posten, der andere auf der Schwelle. Holt kroch über ihn hinweg ins Treppenhaus. Dort lag Rößler, unbeweglich.

Holt schrie: „Nicht schießen!“ Er rollte sich zur Seite aus dem Schußwinkel des Maschinengewehrs, das seine Feuer­stöße durch den Eingang ins Schulhaus schickte. Ununter­brochen fetzten Geschosse gegen die Wände. Oben, in der Vorhalle, blitzten in regelmäßigen Abständen die Abschüsse eines Karabiners auf.

Holt kroch, eng an die Wand gedrückt, die wenigen Stu­fen hoch und fand in der Halle endlich Deckung hinter dem Mauervorsprung. Wo die Tür ins Wachlokal führte, kniete Wolzow, in Hemdsärmeln und barhäuptig, und sandte Schuß auf Schuß durch die Tür ins Freie. Holt sah Vetter aus dem Wachlokal eine geöffnete Patronenkiste zu Wolzow hin­schieben.

Wolzow lud. Er brüllte zu Holt hinüber, und bei dem Lärm der Schüsse konnte man sich nur schreiend verständigen: „Hast du’s geschafft, Werner? Zum Hoftor! Dort steht bloß der Kranz!“

„Wo ist Sepp?“ schrie Holt zurück. Wolzow deutete mit dem Ellenbogen ins Wachlokal. „Streifschuß im Gesicht! Vet­ter hat ihn verbunden!“

Holt rechnete: Gilbert, Christian, Sepp und ich sind vier. Rößler tot: fünf. Die Straßenposten tot: sieben. An der Hoftür einer: acht. Schwedt und Schwerdtfeger standen auf dem Hof, die sind wohl auch gefallen: zehn. Fehlen sechs Mann.

„Wo sind denn die anderen?“ schrie er. Wolzow ließ sich von Vetter einen geladenen Karabiner reichen und gab das leergeschossene Gewehr zurück. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Die breite Holztreppe, die ins Obergeschoß führte, lag dem Eingang unmittelbar gegenüber. Ununterbrochen klatschten Geschosse in die Holzstiegen. Wolzow schoß wieder. Im Blitzen der Abschüsse sah Holt auf den zersplitterten Stufen drei regungslose Gestalten liegen, eine vierte lag am Fuß der Treppe in der Halle. Zehn und vier sind vier­zehn. „Und Lesser und Böttcher?“ schrie er. Wolzow antwortete zwischen zwei Schüssen: „Sind oben. Die traun sich nicht über die Stiegen runter!“ Eine Kugel schlug dicht vor seinem Gesicht in den Mauervorsprung, derPutz stiebte. „Vetter, meinen Helm!“ Schrie Wolzow. Vetter reichte ihm den Stahlhelm.

Holt sprang endlich die Treppe hinunter zur Hoftür. Zu seiner Rechten führte die Kellertreppe hinab. Auch durch die geöffnete Hoftür schlugen ununterbrochen Schüsse herein und klatschten in die Mauer. Kranz stand eng an den Türrahmen gepreßt und schoß auf den Hof hinaus. Er hörte, als das Schießen einen Augenblick nachließ, wie Böttcher im Obergeschoß laut „Obacht!“ rief, dann fiel in der Halle klirrend, ein Gegenstand zu Boden.

Holts Auge hatte sich an die Finsternis gewöhnt. Wolzow fischte mit dem Gewehrlauf ein in Papier gewickeltes Päckchen zu sich heran, las und warf es Holt hin. Dann begann er wortlos wieder zu feuern. Holt hob das Päckchen auf, ein Schlüsselbund fiel zu Boden. Er drückte sich tief in die Ecke
zwischen Hof-und Kellertür, entzündete ein Streichholz und las: „Befehl vom Oberfeldmeister. Sofort die Gefangenener­schießen! Schlüssel anbei. Böttcher.“ Holt warf das Streichholz weg. Die solln lieber sehn, daß sie runterkommen, dachte er. Er drehte den Zettel in den Händen. Er sah Kranz noch immer eng an den Türpfosten ge­preßt und dann und wann einen Schuß zum Brunnen hinüberfeuern. Von der Straße her schoß das Maschinengewehr wütend seine Feuerstöße durch die Tür. Die Treppe war der Kugelfang. Da kommt keiner runter, dachte Holt, der Lesser nicht, der Böttcher nicht. Er warf den Karabiner auf den Rücken.

Während er sich die Kellertreppe hinabtastete, begann sein Herz vor Angst wie rasend zu schlagen. Er zog die Parabellum und entsicherte sie. An der Mauer entlang fühlte er sich zu der Eisentür hin. Als er sie gefunden hatte, stand er und horchte. Er mußte sich erst beruhigen, so sehr zitterte er vor Angst und Aufregung. Von oben drangen gedämpft die Schüsse zu ihm herab. Er zog den Schlüssel und öffnete. Das Licht eines Kerzenstummels fiel auf ihn.

Der Hausmeister stand schützend vor seiner Tochter. Holt stieß hervor: „Ihr müßt weg hier! Aber ich kann euch nicht rauslassen, sonst erschießen sie mich! Das Mädchen starrte ihn an. Jetzt wird sie endlich begreifen, daß sie mir unrecht getan hat, dachte Holt. Der Hausmeister sprach mit seiner Tochter. Sie rief: „Schieß doch, Faschist!“ Er schrie unbe­herrscht, in seiner Nervosität durch dieses unverständliche Ge­baren gereizt: „Red doch keinen Unsinn! Ich muß euch er­schießen, und was ist, wenn jetzt einer kommt, dann bin ich dran, was soll ich denn tun?“

Sie redete hastig auf den Hausmeister ein, der mißtrauisch auf Holt und auf die Pistole blickte und dann irgend etwas antwortete. „Schnell doch!“ rief Holt ungeduldig. – „Haben Sie Schlüssel?“ – Holt nickte. – „Gegenüber ist Werk­zeug ... Eine Brechstange!“ – Holt blickte zu dem winzigen, vergitterten Fenster hoch. Er verstand. Er probierte die Schlüs­sel an der gegenüberliegenden Tür. Das Mädchen stand schon neben ihm. „Geben Sie her!“ Sie öffnete, und der Haus­meister schob Holt zur Seite und suchte in dem stockdunklen Loch, bis er ein großes, doppelt U-förmig gebogenes Eisen fand. Das Mädchen schloß ab und gab ihm die Schlüssel zu­rück. Holt steckte die Pistole weg. Der Hausmeister kletterte auf eine hochgekantete Kiste und wuchtete mit dem Eisen an den Gitterstäben. Holt sagte: „In fünf Minuten müßt ihr weg sein, dann kann ich melden, ihr wart schon fort, als ich run­terkam.“ Sie nickte. Er wollte die Eisentür schließen, aber plötzlich sagt er heiser: „Und wenn uns eure Leute heut nacht ... dann denk an mich!“ Sie sah ihn groß an. „Schlagt eure Anführer tot! Wir werden sagen, daßsie euch nichts tun!“ Verrückt, dachte Holt, sie ist verrückt! Er warf die Türins Schloß, drehte den Schlüssel um und lief nach oben.

Er trat gerade in dem Augenblick wieder in den Hausflur, als Kranz an der Hoftür das Gewehr fallen ließ, sich nach vorn neigte, sich immer mehr zusammenkrümmte und dann lautlos nach rechts auf die Seite fiel, mitten in die offene Tür. Holt kniete hinter der Mauer nieder und schob den Gewehr­lauf hinaus. Bei der Pumpe blitzten wieder Schüsse auf. Kranz streckte sich, dann lag er unbeweglich. Holt schoß das Maga­zin leer. Er lud und wartete. Sinnlos, dachte er.

Im Haus war es auf einmal ruhig. Auch Wolzow schoß nicht mehr. Aber auf der Straße feuerte noch immer das Maschinengewehr. Das geht doch nun schon eine Stunde so, dachte Holt. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht eins. Wol­zow brüllte: „Werner?“ Auf dem Hof verstummte das Schie­ßen. Der entfernte Gefechtslärm war nun deutlich vernehm­bar. Wird am Bahnhof sein, dachte Holt. Im Garten brach Gebüsch. Auf dem Hof rief jemand fremdartige Worte. Jetzt sind sie weg, dachte er. „Werner!“ brüllte Wolzow wieder. Holt antwortete: „Der Kranz ist auch tot! Und die Gefange­nen hab ich nicht erschießen können. Die waren getürmt!“

Wolzow riß das Gewehr hoch, auch Vetter schoß, sehr rasch hintereinander knallten die Abschüsse der Walther-Pistole. Dann war wieder Ruhe. „Plötzlich an der Tür waren sie!“ rief Vetter. „Wollten einfach rein, so was!“ Auf einmal ver­stummte auf der Straße das Maschinengewehr. Eine mächtige Detonation erschütterte das Schulhaus, einezweite, dritte, vierte, der Boden bebte, von der Decke fiel Putz. Dann war
es totenstill. Wolzows Stimme: „Herr Oberfeldmeister!...Das war oben!“ Niemand antwortete. „Rauch“, schrie Wolzow, „es brennt!“

Holt lehnte sich an die Mauer. Aus. Vorbei. Er hörte Wol­zow rufen: „Laßt keinen rein!“ Dann jagte er die Treppe nach oben. Auf den Hof fiel flackernder Feuerschein. Wolzow pol­terte wieder die Treppe hinab, kam um die Ecke zu Holt und sagte: „Feierabend! Lesser und Böttcher sind hin... Handgra­naten! Das Stroh brennt überall.“ – „Gilbert!“ schrie Holt. – „Sei doch still!“ Wolzow nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Holt sagte: „Wer ist denn noch da?“ Wolzow antwortete: „Wir vier von Anton, sonst keiner.“

Der Feuerschein schlug heller auf den Hof hinaus, auch durchs Treppenhaus flackerte rotes Licht. „Im Dunklen war eine Chance gewesen“, sagte Wolzow, „aber jetzt knallen sie uns ab, wenn wir durch den Feuerschein laufen, darauf warten die in aller Herrgottsruhe.“ Er dachte nach. „Wir müßten längst weg sein! Als es losging, hätten wir uns sofort zur Bahnhofswache durchschlagen müssen, das war richtig gewesen, das können wir dem Lesser auf den Grabstein meißeln ... Der Lesser“, sagte er plötzlich wütend, „hat’s gewußt, daß es heut losgeht.“ Vetter rief: „Hier fällt solcher Kalk von der Decke!“ – „Laß ihn fallen“, rief Wolzow zurück, „paß lieber auf den Eingang auf!“ Er dachte wieder nach. „Sag mal, hast du etwa den Hausmeister auskneifen lassen?“ – „Nein.“ – „Komisch. Wie sind denn die getürmt?“ – „Durchs Fenster.“ – „Aber die Fenster sind doch vergittert!“ – „Die Stäbe wa­ren rausgebrochen“, rief Holt. „Herrgott, was wird denn aus uns? Sollen wir hier verbrennen?“ – „Sei mal still!“ sagte Wolzow. „Wo führt das Fenster hin? Auf den Hof?“ – „Nein, in den Garten unter der Giebelwand.“ – „Gib den Schlüssel her“, sagte Wolzow, „ich schau mir das an!“ Er lief die Kellertreppe hinab, über Holt fauchte und prasselte das Feuer, Fensterscheiben zerklirrten und fielen auf den Hof.

„Mensch!“ rief Vetter entrüstet. „Dort drüben, am Schul­platz, dort laufen sie rum! Die denken wohl, wir sind nicht mehr da?“ Er schoß, der Schuß dröhnte, als Antwort jagte das Maschinengewehr einen Feuerstoß durch die Tür, daß die Treppe splitterte. Holt sah auch hinter dem Brunnen und beim Gartenhäuschen ein paar Gestalten, auf die der Feuerschein fiel, aber er schoß nicht.

Wolzow tauchte in der Kellertür auf. „Wenn wir ein bißchen Glück haben, kommen wir in den Garten. Mal sehn, wie’s weitergeht.“ Es geht also doch weiter, dachte Holt, es ist noch nicht alles zu Ende... „Und Sepp?“ – „Wundschock. Wir nehmen ihn mit. Paß auf! Christian muß mit Sepp weg. Wir bleiben noch.“ Er überlegte schon wieder, mit schräggelegtem Kopf. Holt rief ungeduldig: „Also los doch!“ – „Na, einen Moment! Hab dich doch nicht so! Was ist denn heut mit dir los? Ich überleg bloß. Ob die uns hier noch raushaun? Kampf­auftrag hatten wir keinen. Ich denke, man kann den Ausbruch verantworten.“

„Gilbert!“ brüllte Holt. „Hör auf! Sonst hau ich allein ab!“ – „Das wirst du nicht tun“, sagte Wolzow, und er war böse. „Auf gar keinen Fall! Organisierter Rückzug: ja. Aber nicht türmen!“

Holt dachte entgeistert: Vier Mann ... und organisierter Rückzug!

Vetter und Gomulka krochen durch die Halle. Dann stan­den sie bei Holt. Gomulka stützte sich auf Vetter und auf sei­nen Karabiner. Er war erschöpft, sein Gesicht sah blaßgrau und eingefallen aus dem Mullverband hervor, die Lippen schimmerten bläulich, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. „Hast du Schmerzen?“ fragte Holt. – „Fast gar nicht“, ant­wortete Gomulka schwach. Er verschwand mit Vetter im Keller.

Auf der Straße schoß wieder das MG. Wolzow schoß zu­rück, er brüllte: „Schieß, Werner!“ Jemand rannte aus dem Lichtschein in die Dunkelheit des Gartens. Holt schoß den Karabiner leer, über ihm tobte das Feuer, nun krachten Ziegel und Balken auf den Hof... Wolzow war neben ihm und steckte das Seitengewehr auf den Karabiner. „Laden, dann weg!“ Sie flüchteten in den Keller. Holt stieg auf die Kiste und kroch durch das Fenster. Wolzow reichte ihm die Gewehre nach. Dann tauchten sie ins Gebüsch des Gartens. Gerettet! Holt blickte zurück. Das Feuer raste, die Flammen schlugen aus den Fenstern und hoch über dem Dach zusammen.

Unbehelligt erreichten sie den Bahndamm und folgten ihm zum Bahnhof. Hinter ihnen, in der Stadt, verstummte das Schießen. Sie mußten Gomulka stützen und kamen nur langsam voran. Gegen zwei Uhr morgens erreichten sie den Bahn­hof, wo noch immer Schüsse knallten. Sie warteten, weit ab­seits im Wald versteckt, bis es hell wurde und auch hier das Feuer verstummte. Die Reste der Bahnhofswache hatten sich in einem Stellwerk verschanzt.

Ringsum war alles ruhig, als sei in der Nacht nichts geschehen. Sie meldeten sich bei Unterfeldmeister Rischka, der bleich und demoralisiert zwischen seinen Leuten hockte.

Gomulka kam bald wieder zu Kräften. Er ließ sich von Holt ein neues Verbandpäckchen um den Kopf wickeln. Der Schuß war vorn schräg über die Wange gefahren und hatte bis zum Ohrläppchen eine fingerlange Fleischwunde gerissen,die stark geblutet hatte.

Wolzow und Vetter zogen unterdessen mit ein paar Mann in die Stadt und fanden sie verlassen und menschenleer. Gegen zehn Uhr traf zögernd, in einzelnen Trupps, der dritte Zug beim Bahnhof ein, führerlos und stark gelichtet. Er war am Abend auf dem Rückmarsch weit außerhalb der Stadt ange­griffen und auseinandergetrieben worden. Der Zugführer war gefallen. Die Trupps hatten sich in den Wäldern versteckt. Wenig später erschien Böhm mit einer fünf Mann starken Be­deckung am Bahnhof. Auch die Brückenwache war angegrif­fen worden. Böhm übernahm das Kommando über die Abtei­lung, lief mit dem Notizbuch herum und versuchte, die Verluste festzustellen. Die Abteilung war von hundertfünfundachtzig auf hunderteinunddreißig Mann zusammengeschmolzen.

Holt zitterte bei dem Gedanken an die kommende Nacht. Er lag in einem Kornspeicher. Wolzow trieb sich draußen her­um; am Nachmittag sagte er: „Wenn’s dunkel ist, dann kom­men die wieder.“ Aber am späten Nachmittag rollte eine motorisierte SS-Ein­heit in die Stadt. Die Arbeitsmänner drängten sich vor dem Bahnhof um die Lastwagen. Vetter rief: „Schau mal, was die für tolle Waffen haben!“ – „Sturmgewehr 44“, sagte Wol­zow, „eine neue Maschinenpistole.“ – „Wenn wir so was hät­ten“, rief Vetter, „da hätten wir heut nacht bestimmt ge­siegt!“

Holt saß teilnahmslos auf der Betonrampe eines Güter­schuppens. Wenn sie wiederkommen, dann verlieren wir wie­der fünfzig Mann. Und morgen abermals. Und spätestens übermorgen bin ich dran. Noch zwei Tage . . Böhm ließ antre­ten. Die Arbeitsmänner kletterten auf die Lastwagen. Die SS stand Gewehr bei Fuß vor dem Bahnhof und blieb.

Die Fahrzeuge rollten in einem Tal den Weg entlang, der dem Lauf eines reißenden Gewässers folgte. Das ferne Ge­schützfeuer, das seit dem Morgen über den Bergen grollte, kam näher und näher. Am Abend erreichten sie ein Dorf in einem weiten Talkessel. Der Ort war mit SS vollgestopft. Die Abteilung erhielt eine windschiefe Feldscheune als Quartier. Endlich gab es warmes Essen und Verpflegung. Die Abteilung hatte in der Schule alles Gepäck verloren. Holt war noch im Besitz des Brotbeutels und verstaute darin Konserven und Brot. Zigaretten und Tabak hoben die Stimmung. Holt brachte Gomulka zum Verbandplatz. Ein Sanitäter besah die Wunde und sagte verächtlich: „Mach keinen Zimt wegen dem Läusebiß... Was hast du gehabt? Einen Wundschock willst du gehabt haben bei dem Kratzer? Du bist ja bescheuert!“

Am anderen Tage rückte ein Großteil der SS ab, nur die Stäbe und Troßeinheiten blieben zurück. Böhm hatte ausge­schlafen und zeigte sich sehr geschäftig. Aus den Beständen der SS erhielt die Abteilung eine dürftige neue Ausrüstung, Brotbeutel, Feldflaschen, Feldspaten und jeder eine Zeltbahn. Die drei Züge, zu vier Trupps, waren nun nur noch je einund­vierzig Mann stark; als Truppführer wurden Arbeitsmänner, als Zugführer die dienstältesten Obervormänner eingesetzt. Sechs Mann waren überzählig, aus ihnen bildete Böhmeinen Kommandotrupp“, den er Wolzow übergab; Wolzow suchte sich Holt, Vetter, Gomulka und noch zwei andere aus. Am Nachmittag brachte Wolzow Schnaps. Der Alkohol gab Holt nur für kurze Zeit Kraft und Entschlossenheit zurück. Dann beherrschte ihn wieder das trostlose Gefühl von Verlassenheit und Angst.

Böhm schleppte den Kommandotrupp ständig mit sich her­um. „Kommandotrupp? Eine Leibwache hat er gewollt!“ sagte Holt. „Wir sind die Leibstandarte Adolf Böhm“, rief Vetter, auf den die Ereignisse keinen sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten.

 

 

4.

Die Abteilung erhielt einen neuen Einsatzbefehl. Wolzow er­zählte: „Heut nacht hat die SS ein Dorf mit einer wichtigen Straßenkreuzung erobert und ist sofort weitergezogen. Wir sollen den Ort besetzen und die Kreuzung bewachen. Endlich mal ein eindeutiger Kampfauftrag, da weiß man doch, woran man ist!“

Sie marschierten, über dichtbewaldete, mächtig ansteigende Berghänge, durch urwüchsige Laubwälder, auf Waldpfaden und Pirschwegen. Böhm orientierte sich nach der Karte. Ein Trupp zog als Vorhut voraus, die Abteilung folgte in Schüt­zenkette, weit auseinandergezogen. Auf einem breiten, be­festigten Fahrweg, unangefochten, wenn auch vom Marsch er­schöpft, erreichten sie am Nachmittag ihr Ziel.

Vor ihnen öffnete sich ein grünes Tal, das sich langgestreckt, etwa drei Kilometer breit, von Osten nach Westen zog. Der Fahrweg stieß im Süden aus den Wäldern heraus, den steilen Berghang hinab ins Tal, und jenseits der Talsohle, im Nor­den, wieder hoch in die bewaldeten Berge. Die Talsohle ent­lang, von Osten nach Westen, flöß ein breiter Wildbach durch versumpfte Wiesen, und seinem Lauf folgte eine Straße, die im Westen hinter einer Krümmung des Tales verschwand. Wolzow taufte sie Talstraße. Wo beide Wege einander im rechten Winkel schnitten, dort sah man ein halbes Dutzend Häuser, und am Bach ein paar niedrige Gebäude. Das war die ganze Ortschaft.

Am Fuße des Berges, auf den Wiesen, befahl Böhm Halt. Die weit auseinandergezogene Abteilung sammelte sich. Die Kreuzung lag etwa einen Kilometer vor ihnen. „Der erste Zug“, schrie Böhm, „gräbt sich hier links und rechts der Straße ein, Front nach Süden gegen die Berge. Zweiter und dritter Zug Gewehre umhängen! Ohne Tritt . . . marsch!“ Etwa hundert Meter vor der Straßenkreuzung ließ er abermals halten. „Der dritte Zug marschiert über die Kreuzung und über die Brücke, bis etwa einen Kilometer hinter das Dorf, und gräbt sich dort ein, Front nach Norden gegen den Berg­hang. Dritter Zug abrücken!“ Er zog die Karte hervor und beriet sich mit Rischka.

Holt sah sich um. Die Wiesen waren sumpfig. Kein Spaß, sich da einzugraben, dachte er. Fünfzig Meter vor ihm, rechts an der Straße, lag ein Haus, ein Wirtshaus offenbar. Links sah Holt drei einzelne Gehöfte, dann die Talstraße, dahinter den Bach, den eine niedrige Holzbrücke überspannte. Die Ge­bäude jenseits des Baches, Haus und Schuppen, gehörten zu einer Sägemühle, wie Holt an den Bretterstapeln auf dem Hof erkannte. Im Osten der Ortschaft war der Bach gestaut. Dort zweigte ein Arm des Gewässers ab, lief unter der Straße hin­durch und dann durch das Gelände der Sägemühle, ehe er wieder in den Bach zurückmündete. Rechts an der Talstraße, etwa zweihundert Meter östlich der Kreuzung, sah Holt ein weiteres einzelnes Gehöft liegen, niedergebrannt, in Trüm­mern.

Die beiden Unterfeldmeister berieten noch immer. Wol­zow hatte sich einfach dazugestellt. Der Kommandotrupp war ihm gefolgt und stand um die beiden Führer herum. „Also gut“, sagte Böhm, „der zweite Zug nimmt im Dorf Quartier.“ Wolzow legte die Hände an die Hosennaht und fragte: „War­um graben sich der erste und der dritte Zug einen Kilometer außerhalb des Dorfes ein? Man soll seine Kräfte nicht unnütz teilen!“ – „Hörn Sie auf, Sie dreifacher Idiot!“ brüllte Böhm außer sich. „Wer hat Ihnen erlaubt, hier dämlich herumzuschwafeln?“ Wolzow setzte umständlich den Helm auf. Böhm schrie: „Der zweite Zug wie befohlen ins Dorf, als Reserve! Die Züge bleiben liegen, wo sie sind, auf freiem Felde sind wir denen über, ich laß mich doch nicht wieder auf einen Häuserkampf ein! An die Talstraße stelle ich Doppelposten, und Sie Idiot, Sie mit Ihrem Kommandotrupp, Sie werden Wache schieben, bis Ihnen das Gekröse zum Arsch heraus­hängt!“ Die letzte Beschimpfung kam schon schwächer, seine Wut war verflogen. „Gewehre zusammensetzen! Es darf ge­raucht werden!“ Er warf sich ins Gras und knöpfte die Feld­flasche los. „Wolzow! Der Kommandotrupp sucht Quartiere aus!

Sie stiefelten den staubigen Weg entlang. „Schau mal, dort!“ sagte Wolzow und wies mit der Hand nach rechts. Vor der Giebelwand des Wirtshauses neben der Straße lag ein grauer Haufen erstarrter Leichen. „Hat die SS Gefangene umgelegt!“ Er rief über die Schulter: „Vetter, schaut euch links die drei Gehöfte an!“

Wolzow, Holt und Gomulka standen auf der Wegkreu­zung. Sie gingen über die Brücke zur Sägemühle. Holt folgte Wolzow ins Wohnhaus. Gomulka öffnete die Tür zur Werk­statt. In den Räumen des Wohnhauses waren die Wände von Einschlägen zerhackt. Wolzow stapfte die Treppe hoch ins Obergeschoß. Holt sah unter dem eingeschlagenen Fenster einen Leichnam liegen, mit zertrümmertem Gesicht. Er lief ins Freie.

Aus der anderen Tür, die im rechten Winkel zur Wohnhaus­tür und nur wenige Schritte entfernt in die Werkstatt führte, trat in diesem Augenblick Gomulka, nein, er trat nicht, er tau­melte. Er hielt sich an der Klinke fest, so daß er die Tür unr willkürlich hinter sich zuzog, dann fiel er gegen die Mauer. Sein Gesicht war grünlichgelb. Er krümmte sich zusammen, er schlug beide Hände vors Gesicht.


Date: 2015-12-24; view: 837


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