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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 6 page

Am frühen Abend stand die Abteilung marschfertig. Holt stützte sich auf den Karabiner. Der Tornister drückte. Am Koppel lasteten die gefüllte Patronentasche, Seitengewehr, In­fanteriespaten, Gasmaske, Brotbeutel und Feldflasche. Die Armbinden mit dem Hakenkreuz waren befehlsgemäß von den Uniformen abgetrennt worden. Oberfeldmeister Lesser trat vor die Front. „In der verbündeten Slowakei“, schrie er, „wollen die Feinde des Reiches, unterstützt von bolschewisti­schen Fallschirmspringern, der schwer ringenden Front in den Rücken fallen! In einem Aufruf hat der slowakische Staats­präsident erklärt, daß der Abschaum der Gesellschaft aufge­boten worden ist, um in der Slowakei ein Chaos zu entfesseln und den Boden reif für den Bolschewismus zu machen! Da die slowakischen Kräfte zu schwach sind, hat Staatspräsident Tiso den großen deutschen Verbündeten um Truppen zur Nieder­werfung der Bolschewistenhorden gebeten.“ Er stand breit­beinig vor der Front, die Brauen zusammengezogen. „Wir übernehmen Wachdienste und unterstützen die Kampftrup­pen bei Verlade- und Entladearbeiten, gegebenenfalls natürlich auch im Kampf. Jetzt könnt ihr zeigen, was ihr gelernt habt.“ Der dicke Feldmeister Böttcher übernahm das Kom­mando und ließ die drei Züge abrücken. Auf dem Bahnhof standen Viehwaggons bereit.

Die Maschine dampfte langsam aus der Station, dann stand der Zug viele Stunden in der Nacht. Holt schlief, in eine Decke gewickelt, auf dem harten Boden. Am nächsten Tag hielt der Zug abermals viele Stunden auf freier Strecke. Ein Gerücht lief von Wagen zu Wagen: „Der Lokführer ist getürmt!" Gomulka lachte unterdrückt. Am Nachmittag ging es endlich weiter. In der folgenden Nacht blieb der Zug mit einem Ruck stehen,sodaßdieArbeitsmännerdurcheinanderrollten.Draußen war Geschrei, schon krachten ein paar Schüsse. „Raus!" schrie Wolzow. Holt sprang mit dem Karabiner in die Nacht. Vorn blitzten Schüsse. Wolzow schoß stehend ins Dunkel. Bei der Maschine brüllte jemand wie besessen: „Stopfen!
Stoooooopfen!" Das Licht einer Taschenlampe huschte über die Gleise. Wolzow lief nach vorn, wo nun ein rotes Signal­licht leuchtete. Oberfeldmeister Lesser brüllte: „Ihr wahnsin­nigen Säcke! Ihr verdammten Idioten!" Die Arbeitsmänner standen auf dem nkörper neben dem Zug. Wolzow berichtete. „Eine Brücke. Natürlich be­wacht. Da zeigen die Posten ein Langsamfahrt-Signal, der Lokführerhält, die Posten im ersten Wagen knallen gleich wild drauflos. Da haben die Brückenposten natürlich zurückge­schossen, die wußten auch nicht mehr, was gespielt wird." Die Maschine zog rucken dan, alles kletterte durch die Schiebe­türen in die Wagen. Holt sah auf der Brücke ein paar Gestalten stehen, Gewehre umgehängt. „Ist was passiert?" — „Komischerweise nicht", sagte Wolzow, „aber das ist einmie­ses Zeichen, daß keiner getroffen hat!"



Am nächsten Tag erreichten sie endlich das Ziel. Der Zug lief in einen Güterbahnhof ein. Gleisanlagen, Schuppen und Stellwerke dehnten sich weitflächig bis zum Wald. Ein paar Kilometer weiter überspannte eine Eisenbahnbrücke das tiefeingeschnittene Tal eines schmalen, reißenden Flusses. „Das ist der Gran“, erklärte Wolzow nach einem Blick auf die Karte. Die Stadt lag eine halbe Wegstunde vom Güterbahnhof entfernt zwischen dichten Laubwäldern, eine kleine, ver­schlafene Stadt mit wenigen Straßen. Sie marschierten durch die engen Gassen. Obwohl es Mittag war, sah man kaum einen Menschen. Sie sangen: „... her zu uns, daß wir die Saat be­ginnen, ein Hunger ist in die Augen gesetzt, neue Lande, neue Lande wollen wir uns gewinnen.“ Sie marschierten durch die Stadt hindurch und hinaus aus dem verwinkelten Straßen­gewirr auf einen großen freien Platz. Dort befahl Böttcher Halt. Ein größeres frei stehendes Gebäude kehrte die Front mit dem Eingang dem Platz und der Straßenmündung zu, ein zweigeschossiges Schulhaus, von einem weitflächigen, dicht bepflanzten Garten umgeben, der mit niedrigen Lattenzäunen zu beiden Seiten des Gebäudes an den Platz grenzte. Die Gie­belwände waren kahl und fensterlos. Die Fenster an der Front­seite waren im Erdgeschoß eng vergittert, desgleichen die Kel­lerfenster.

„Scheißquartier!“ sagte Wolzow, während er das Gewehr absetzte. „Schlecht zu bewachen!“ Böttcher hatte mit den Zugführern das Schulhaus besichtigt und gab Befehle. „Erster Zug Wachdienst. Zweiter Zug räumt die Schule aus. Dritter Zug holt Stroh ran. Los, auf dem Hof Gepäck ablegen, Waf­fen werden ständig mitgeführt. Gewehre umhängen. Links um. Zugweise Reihe rechts, ohne Tritt marsch. Mitkommen.“

Holt trat durch den Eingang, die wenigen Stufen hoch, dann wichen die Mauern zu beiden Seiten weit zurück und umschlossen eine geräumige Eingangshalle. Dort zweigten links und rechts die Korridore mit den Klassenzimmern ab. Ge­radeaus, dem Eingang unmittelbar gegenüber, führte eine breite Holztreppe ins Obergeschoß. Rechts daneben ging es wieder ein paar Stufen hinab und dann an der Kellertür vor­bei durch die Hoftür ins Freie. Von der Eingangshalle sah man links, vor dem Korridor, durch eine Tür in einen kleinen Raum. Dort stand der Hausmeister, ein dunkelhaariger Mann von fünfzig Jahren. Böhm schnauzte ihn an: „Schlüssel her, los! Sie scheren sich weg hier! Weg, Mann!“ brüllte er. Der Hausmeister verstand offensichtlich kein Deutsch. Nun ver­ließ er durch die Hoftür das Schulhaus.

Holt arbeitete bis zum Abend. Er half, Schulbänke und Ka­theder auf den Hof zu räumen. Der dritte Zug brachte Wa­genladungen voll Stroh heran. Sie schleppten die Ballen in alle Klassenzimmer.

 

Am anderen Tag hatte der zweite Zug Wachdienst. Böhm teilte ein. Der erste Trupp mit Obervormann Schulze über nahm die Quartierwache, der zweite Trupp mit Obervormann Rößler die Stadtstreifen, der dritte mit Obervormann Berger die Wache am Bahnhof, der vierte mit Obervormann Lachmann die Wache an der Eisenbahnbrücke. Böhm er­klärte: „Die Brückenwache schießt von zwanzig bis sechs Uhr ohne Anruf, in dieser Zeit hat die Bevölkerung Ausgehsperre. Die Quartier- und die Bahnhofswache schießt nach einmali­gem Anruf. Die Stadtstreifen nehmen alle Zivilisten fest, die nach einundzwanzig Uhr auf der Straße angetroffen werden. In der Polizeistelle, wo das Wachlokal ist, sind feste Zimmer. Die Polizei geht nachts keine Streifen. Am Tage werden stän­dig Ausweise kontrolliert, eine Liste der gültigen Papiere hängt im Wachlokal. Sind noch Fragen?“ Niemand meldete sich. Böhm fuhr fort: „Die Slowakei ist mit uns verbündet, aber die Bevölkerung ist aufsässig und deutschfeindlich. Die ört­lichen Polizeiorgane genießen kein Vertrauen, wenn irgend­was passiert, werden sie festgenommen und entwaffnet. Bei allen Verhaftungen rücksichtslos zupacken! Widerstand mit allen Mitteln brechen! Es ist besser, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, als verdächtige Elemente laufen­zulassen.“ Er las aus seinem Notizbuch ab: „Jedoch ist nach Möglichkeit darauf zu achten, daß mit dem Reich sympathi­sierende Bevölkerungsteile korrekt behandelt werden.“ Er be­fahl: „Gewehre umhängen!“ Dann legte er die Hände an die Hosennaht: „Zweiter Zug ... stillstann! Parole,Morgenlicht’.“ Er hob den Arm zum Gruß. „Vergatterung!“ Die Trupps zogen sofort zur Ablösung.

Schulze und seine Leute nisteten sich im Erdgeschoß ein, links, in dem Zimmer des Hausmeisters, das als Wachlokal be­nutzt wurde. Dort waren ein paar Munitionskisten aufgesta­pelt; auf einem Tisch lag das Wachbuch. Holt hatte gemeinsam mit Gomulka von Mitternacht bis zwei Uhr morgens Posten zu stehen. Die anderen beiden Züge waren am Vormittag zu den wenigen umliegenden Dörfern marschiert, wo sie Heu und Stroh zu beschlagnahmen und zum Bahnhof zu bringen hatten. So war der Trupp Schulze allein im Schulhaus. Am Mittag saß Holt mit Wolzow im Wachlokal. Wolzow hatte deutsche Zeitungen aufgetrieben, sie waren nicht mehr ganz neu. Er rauchte und las. Holt fragte: „Wie sieht es an den Fronten aus?“ Wolzow ließ das Blatt sinken. „Daß Finn­land kapituliert hat, das weißt du. Bulgarien hat nun auch die Beziehungen zum Reich abgebrochen. Und an der Invasions­front muß es eine üble Geschichte gegeben haben, die Front scheint in Auflösung zu sein. Nur an der Riviera gibt es noch feste Linien. Lyon ist gefallen, die Mosel erreicht.“ Er fragte mürrisch: „Genügt das? Im Osten hat die Entwicklung einen reißenden Verlauf angenommen. Im Mittelabschnitt stehn sie vor Warschau...“ – „Warschau?“ rief Holt er­schrocken. – „Ja. Der Aufstand ist immer noch nicht nieder­geschlagen. Im Nordabschnitt greifen die Russen an, bei Narwa sind sie durch die Front gebrochen. Nun rollt auch in der Ukraine eine Offensive, die Russen können bald in den Karpaten sein, sozusagen Wand an Wand mit uns hier. Das siebenbürgische Kronstadt ist schon gefallen. Der Stoß zielt offenbar nach Ungarn hinein... Noch was? Ja, richtig, die V 2! Die Briten scheinen sie nicht schlechter zu verdauen als die VI.“

Holt fragte, wie er schon oft gefragt hatte: „Wie soll denn das um Gottes willen weitergehen?“ – „Na, halt irgendwie“, sagte Wolzow. „So ’n Krieg ist zum Glück recht zählebig, und jetzt wird ja auch allerhand getan, ihn wieder ordentlich hochzupäppeln! Goebbels hat ganz radikale Maßnahmen zum totalen Kriegseinsatz erlassen, Schulen werden geschlos­sen, fast das ganze Schrifttum wird stillgelegt, das preußische Finanzministerium ist aufgelöst, und so weiter. Hier, im ,Völkischen Beobachter’, der ist allerdings schon bißchen älter, da ist eine Rede abgedruckt, die der Staatssekretär Dr. Nau­mann zum Eintritt ins sechste Kriegsjahr gehalten hat, in Danzig. Es heißt hier, Doktor Naumann gab...“ – „Laß mich lesen!“ sagte Holt. Wolzow reichte ihm die Zeitung. Holt überflog den Vorspann: „...gab ein ungeschminktes, durch keinerlei Winkelzüge beschönigtes Bild der Lage ... getragen von der Gläubigkeit des Nationalsozialisten... seinen Zu­hörern gleichzeitig die deutschen Siegeschancen überzeugend zu begründen vermochte ... klang die Kundgebung in einem einzigen großen Bekenntnis zum Führer und seiner Idee aus...“ Wo steht denn die Begründung unserer Siegeschancen? Das muß ich unbedingt lesen! Er überflog den Wortlaut: „... to­taler Erfolg daher nur durch einen totalen Einsatz möglich ... Wellenberge und Wellentäler... Tage des Eintritts in das sechste Kriegsjahr fallen in ein solches Wellental... unseren Feinden einige Tatsachen zur Kenntnis gebracht, in denen die Überwindung aller Krisen bereits vorgezeichnet... Erstens: der Führer ist nicht vom deutschen Volk zu trennen, und das deutsche Volk steht bedingungslos zu ihm... zweitens: das deutsche Volk ist nationalsozialistisch, nicht allein in glück­lichen, sondern erst recht in schweren Tagen... drittens: es gibt kein Versagen der deutschen Heimat, in der Gewißheit des Sieges...“ Ja, aber die Begründung der Siegeschancen, wo ist sie denn? Holt las hastig weiter: „... kämpfen wir um die Zeit, die wir zur Mobilisierung unserer Reserven noch be­nötigen ...“ Aha! Wolzow fragte: „Spielst du einen Offiziers­skat mit?“ Holt schüttelte den Kopf. Er las. „Unsere Gegner täuschen sich“, las er, „wenn sie sich am Vorabend des Sieges wähnen... neue Divisionen rücken an die Front... Festung Deutschland wird verteidigt werden, wie nie zuvor eine Fe­stung verteidigt wurde, dann aber wird unsere Stunde kom­men ...“ Dann, dachte Holt, dann ... wann? ,,... steht das deutsche Volk ... gehärtet und im Schmelztiegel seines Kamp­fes gestählt wie nie zuvor... wilden und fanatischen Ent­schlossenheit durchdrungen, sein Land, sein Leben und seine Weltanschauung bis zum letzten Blutstropfen zu behaupten ... Weltanschauung... kämpft für sie, in schlechten Tagen mit größerer Entschlossenheit als in den guten und glücklichen Stunden...“ Aus. Ende.

„Da hast du den ,Völkischen’“, sagte Holt, „mir reicht es jetzt wieder mal, Gilbert, mir reicht es wirklich! Wer ist dieser Naumann?“ – „Ein SS-General, SS-Brigadeführer, er wird ein ,an der Front gehärteter politischer Soldat’ genannt... Also, wenn du nicht mitspielst, dann leg ich mir eine Patience!“

Gomulka trat ins Wachlokal. „Werner, wir müssen gleich ablösen!“ Holt setzte den Helm auf und nahm den Karabiner. Sie warteten am Hintereingang. Der große, quadratische Hof war an drei Seiten vom Garten umgeben, und der busch­reiche, mit Obstbäumen und Ziersträuchern bepflanzte Gar­ten grenzte an den nahen Wald. In der Mitte des Hofes stand eine Pumpe, rechts am Zaun ein Schuppen, und daneben führte eine Pforte in den Garten. Hinter der Pumpe, dem Hofeingang gegenüber, wohnte der Hausmeister in einem klei­nen Gartenhaus aus roten Backsteinen.

Bei der Pumpe lümmelten ein paar wachfreie Arbeitsmän­ner, Wenskat, Baruffke, Zöllner und Meermann, auch Vetter war dabei, alle halbnackt, sie hatten sich dort gewaschen. Holt sagte: „Sieht vorläufig aus wie’s Große Los, der Einsatz, neben dem Lagerbetrieb eine Erholung!“ Gomulka antwortete nicht. Holt sah aus dem Gartenhäuschen ein junges Mädchen treten und über den Hof zum Schuppen gehen. Sie war viel­leicht zwanzig Jahre alt und hatte sehr helles und langes Haar. „Schau dir an, was die Slowaken für hübsche Mädchen haben!“ sagte er. Aber Gomulka schwieg hartnäckig.

Beim Brunnen pfiff Wenskat schrill auf zwei Fingern, je­mand rief langgezogen: „Heeeee! Puppchen!“ – „Die solin sich was schämen“, sagte Holt, „was soll die denn von uns denken!“ Er ging über den Hof. Gomulka folgte ihm. „Haste gesehn, Holt?“ fragte jemand. „Das wär meine Hutnummer, wie?“ Holt sagte: „Benehmt euch!“ – „Quatsch doch nicht, Mensch“, sagte Wenskat, „hier so n Zimt machen wegen der Slowakischen!“

Das Mädchen brachte zwei Zinkeimer aus dem Schuppen und näherte sich zögernd der Pumpe. „Die will Wasser ho­len!“ krähte Vetter. Holt sah, als sie herankam, daß sie große blaue Augen hatte. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie er­innerte ihn in allem, in Gang und Haltung und in der Art, wie sie den Kopf trug, an Uta. Wenn die Kerle unverschämt werden, dachte er, dann... Aber er dachte zugleich: Vor­sicht, daß ich nicht wieder in irgendwas hineintreib ...

Das Mädchen stellte einen Eimer unter das Wasserrohr. Wenskat rief: „Na, Kleine, willst dir von uns bissel pumpen lassen?“ Das Mädchen verstand wohl kein Deutsch und nahm das rohe Gelächter unbewegt hin. Sie wollte den Pum­penschwengel fassen, aber Wenskat streckte rasch ein Bein aus und schrie. – „Nix daitsch, wos? Verstehste nicht? Was wir wollen, ist international!“ Sie versteht wirklich kein Deutsch, dachte Holt, und er fuhr Wenskat an: „Nimm die Knochen weg... los!“ Wenskat sagte verständnislos: „Was willste? Bist wohl...“ Holt sagte drohend: „Du nimmst sofort das Bein weg, oder es setzt was!“ – „Der Kerl spinnt lau­warm“, sagte Wenskat, aber er zog doch den Fuß zu sich heran. Das Mädchen trat an den Brunnen, füllte die beiden Eimer und trug sie zum Gartenhaus. Die Arbeitsmänner sahen ihr nach. Wenskat sagte böse: „Wie meinst ’n das, daß du we­gen der mit mir Streit anfängst, ha?“ An der Hoftür brüllte Schulze: „Holt, Gomulka! Posten ablösen!“

Mißmutig standen sie zwei Stunden auf dem Gehsteig vor dem Eingang. Die Stadt lag wie ausgestorben. Am späten Abend rückten die beiden Züge ins Quartier und füllten den Schulhof mit Lärm. Als es Mitternacht war, ging Holt mit Gomulka die Streife um Schule und Garten. Gomulka begann unvermittelt: „Das ist die Tochter vom Hausmeister, Milena heißt sie. Der Schulze hat ein Auge auf sie.“ – „Schulze?“ rief Holt. „Dieser Pavian?“ – „Als er von ihr erzählt hat, da hab ich zum erstenmal in seinem Gesicht etwas wie einen Ausdruck gesehn, übrigens keinen guten.“ Was reg ich mich auf? dachte Holt. Sie geht mich nichts an! Aber. . . sie soll wissen, daß hier nicht alle dumm und rüpelhaft sind. Gomulka sprach weiter: „Warum hast du sie an der Pumpe in Schutz genommen?“ – „Ich sag dir was!“ rief Holt wütend. „Wenn der Schulze ... Also, daraus wird nichts!“ – „Sieh dich vor“, sagte Gomulka bedächtig. „Angriff auf einen Vorgesetz­ten, Kriegsgericht, aber so weit kommt es gar nicht, gegen den Schulze hast du keine Chance, der dreht dir einfach den Hals um. Der Wolzow würde mit ihm fertig, aber auf den rech­nest du besser nicht. Und außerdem ...“ – „Halt!“ rief Holt und sprang erschrocken in die Deckung der Mauer. Er hob den Karabiner. Aus dem Dunkel rief es die Losung. Es war Böhm. „Halten Sie das Maul! Brüllen Sie nicht so rum!“ Holt meldete. Keine besonderen Vorkommnisse. Böhm meckerte: „Auf Posten wird nicht gequatscht! Passen Sie lieber auf!“ Er trug eine Maschinenpistole um den Hals und tauchte wieder im Dunkel unter. Sie setzten den Rundgang fort. Holt meinte nach einer Weile mit gedämpfter Stimme: „. .. und außerdem?“

Gomulka blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um; er durchforschte mit seinen Blicken die Nacht. „Seit hier die Aufstandsbewegung ist“, flüsterte er, „soll hier, wie im ganzen Osten, nicht nur der Kommissarbefehl gelten, sondern auch der Führererlaß über die Behandlung von Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Lan­deseinwohner ... Das heißt, wenn sich einer was gegen die Slowaken zuschulden kommen läßt, wird er nicht kriegsgericht­lich, sondern nur disziplinarisch bestraft.“ Kommissarbefehl, Führererlaß? „Woher... weißt du das?“ fragte Holt be­fremdet. – „Der Erlaß ist ja berüchtigt“, antwortete Go­mulka ausweichend. „Kannst ja mal Wolzow fragen, der weiß das alles! Der Erlaß wird der Truppe nicht mehr bekannt­gegeben, nur den Führern, denn wenn ihn die Soldaten erfahren haben, dann sind sie so verroht, daß die Disziplin gelitten hat.“ – „Woher weißt du das?“ fragte Holt abermals. – „Das ist ja gleichgültig“, meinte Gomulka. „Ich sag dir’s, damit du gewarnt bist. Du kannst dich nicht mal auf die Kriegsgesetze berufen, wenn du dem Mädel gegen Schulze beistehst.“ Sie gingen weiter. Dieser widerwärtige Schulze, dachte Holt haßvoll, dieser bösartige Gorilla! Aber sein Haß war mit Hilflosigkeit gemischt. „Da soll ich also zusehn, wenn er sich an dem Mädchen vergreift?“ Er ereiferte sich: „Das sagst du?“ Gomulka zeigte zunächst keine Absicht, zu antworten. Aber dann sagte er doch: „Daß du dich so in Wut hineinsteigerst, nimm mir’s nicht übel, Werner... das machst du doch bloß, weil es um ein Mädchen geht.“

Holt war gekränkt. „So...“, sagte er. „Und die Russen, in der Batterie damals, waren das auch Mädchen?“ Gomulka antwortete nachdenklich: „Nein... Du hast recht. Sei nicht böse“, bat er, „ich dachte nur...“ Er hat recht, dachte Holt, nein, er hat doch nicht recht... Vielleicht ist es immer noch wie vor einem Jahr, als ich glaubte, mit Gilbert für... Ge­rechtigkeit kämpfen zu müssen, damals, als mich die Marie Krüger behext hatte, daß ich dem Meißner an den Kragen wollte... Das war kindisch. Nein, es war nicht kindisch, aber... Es hat keinen Zweck, dachte er. Was ist Gerechtig­keit? Vielleicht ist alles falsch... oder vielleicht ist Mitleid wirklich Schwäche, und Ziesche hatte doch recht, und wahre Gerechtigkeit ist Härte, wenn wir Deutschen... Mit verbun­denen Augen im dunklen Zimmer, dachte er.

Die nächsten Tage brachten schwere Arbeit. Transportzüge mit SS-Einheiten trafen auf dem Bahnhof ein. Die Arbeits­männer entluden Waggons: Waffen und Gerät, Kraftfahr­zeuge, auch Pferde und Fuhrwerke, leichte Feldgeschütze und Minenwerfer. „Jetzt geht’s den Banden an den Kragen!“ frohlockte Vetter. „Jetzt dauert das keine acht Tage mehr!“ Wolzow fluchte, als sie stundenlang Munitionskisten und Granatkörbe schleppten. „Das könnten auch die Slowaken machen, das faule Volk hockt daheim in den Stuben!“

In der Mittagspause löffelte er aus dem Kochgeschirr den faden Eintopf. „Eine kriegsstarke SS-Division ist das. Ich hab gehört, es sollen Spezialverbände sein, die Division hat in den Pripjet-Sümpfen Partisanen gejagt, die haben Erfahrung in so was!“ Sie stapelten weiter Munitionskisten auf die warten­den Fahrzeuge. Ein paar Kisten Gewehrmunition wurden in der Schule abgeladen. Eine Woche war verstrichen, ohne daß der Einsatz etwas an­deres als Arbeit gebracht hätte. Der September ging zur Neige, aber das Wetter blieb sommerlich warm. Nur die Nächte wa­ren schon kalt und neblig.

Holt lag eines Tages im Schulgarten in der Sonne und schaute in den Himmel. Er hörte Schritte. Das blonde Mäd­chen ging den Gartenweg entlang, mit einem Laubrechen und einem großen Henkelkorb. Holt sagte vernehmlich: „Guten Tag.“ Sie blickte rasch zu ihm hin, dann schaute sie wieder geradeaus, aber sie erwiderte seinen Gruß, indem sie flüchtig mit dem Kopf nickte.

Na also! dachte Holt befriedigt, sie kann unterscheiden zwi­schen denen und meinesgleichen!

In der folgenden Nacht stand er mit Wolzow an der Eisen­bahnbrücke Posten. „Horch!“ sagte Wolzow. In der Ferne grollte schwerer Kanonendonner. Es war gegen drei Uhr, die schmale Mondsichel stieg über die Berge. Holt fröstelte.„Hört sich an wie eine richtige Schlacht!“ Wolzow entgegnete: „Aus dem Gebirge holt die so schnell keiner raus! Berge bis zwei­ tausend Meter ... da schaffst du nur mit Brachialgewalt Ord­nung!“ Holt erwog, Wolzow zu fragen,was es mit jenem „Kommissarbefehl“ auf sich habe, aber irgend etwas hielt ihn zurück, diewachsende,Entfremdung, eine unerklärliche Scheu...

Das Geschützfeuer blieb bis zum Morgen hörbar. Als sie am Mittag in die Stadt zurückkehrten, hielten vor der Schule ein paar verdreckte Lastwagen. Auf dem Hof lagerten etwa zweihundert SS-Leute, zwischen Gewehrpyramiden und Ge­päckstücken. Wolzow setzte sich zu ihnen. Dann brachte er Neuigkeiten. „Von wegen in acht Tagen Schluß“, sagte er, „das war eine Illusion! Überall geht’s los, das halbe Land ist in Aufruhr, ganz in der Nähe haben sie eine Garnison nie­dergemacht. Die SS ist ganz schön abgekämpft. Die Partisa­nen, sagen sie, sind nicht schlechter als reguläre Truppen, manchmal noch zäher, weil ihnen die SS grundsätzlich den Pardon verweigert. Die Russen schmeißen ihnen Waffen ab, die Partisanen sind mitunter besser bewaffnet als die SS, alle mit Maschinenpistolen. Bin gespannt, wann es hier bei uns losgeht.“ Vetter erzählte: „Der erste Zug hat heut vormittag in der Stadt Haussuchungen nach Waffen gemacht. Gefun­den haben sie nichts!“

Am frühen Nachmittag rückte die SS ab. Im Haus blie­ben nur der Wachtrupp vom dritten Zug und Schulzes Trupp, der nach der Brückenwache dienstfrei war. Die Arbeitsmän­ner lagen im Stroh und schliefen. Aber Holt litt es nicht im Zimmer. Er schlenderte ziellos über den Hof und in den Schul­garten.

Dort traf er die blonde Slowakin. Sie schleppte einen gro­ßen Korb, der mit Holz gefüllt war, mit Ästen und Reisig. Holt sagte: „Lassen Sie mich das tragen!“ Er nahm ihr den Korb ab und trug ihn zum Schulhof. Er fragte über die Schul­ter: „In den Schuppen?“ – „Ja." Sie versteht also doch Deutsch, dachte er überrascht. Sie schloß die Tür auf. Er setzte den Korb in einer Ecke ab, wo viel Holz auf einem Haufen lag. Sie war ihm gefolgt und sagte freundlich: „Danke.“ Er richtete sich auf. Er war verwirrt, denn sie stand nahe bei ihm. Er faßte sie plötzlich an den Schultern und zog sie an sich, aber da schlug sie ihn mit solcher Heftig­keit ins Gesicht, daß er taumelte. Wut stieg in ihm auf. Er dachte eine Sekunde lang an Gewalt. In seinem Inneren sagte eine Stimme: Etwas davon ist auch in dir! Die Scham schlug wie eine Welle in ihm hoch.

Das Mädchen hatte den Hackklotz zwischen ihn und sich gebracht, hatte das Handbeil herausgerissen und stand nun lauernd, nach vorn geneigt. Mit der Rechten umklammerte sie den Schaft des Beiles, während sie langsam den linken Arm hob und zur Tür wies. Sie sagte nur ein einziges Wort: „Hinaus!“ Er wollte eine Entschuldigung stammeln, eine Recht­fertigung, etwas von einem Mißverständnis, aber aus ihren Augen traf ihn ein Blick so abgründigen Hasses, daß er wort­los den Schuppen verließ.

Er ging in den Garten. Er sah das Mädchen rasch überden Hof laufen, zum Gartenhaus hin, sie trug noch immer das Beil in der Hand. Aber das alles drang gar nicht in sein Bewußtsein. Im Schulgarten stand er wie geistesabwesend zwi­schen den Sträuchern. Er versuchte, dieses erstickende Gefühl der Scham loszuwerden. Er dachte: Die soll sich nicht auf­spielen! Schließlich bin ich ein Deutscher, und sie... Da wuchs das Schamgefühl ins Unerträgliche. Sein Gesicht brannte, wie vom Feuer versengt.

3.

Drei Tage später hielt Trupp Schulze wieder Quartierwache. Holt saß in der Wachstube, als Schulze das Zimmer verließ und die Stufen hinab zur Hoftür ging. Ein paar Minuten später brüllte Böhm vom Kellereingang her: „Schulze!“... „Schulze!“ brüllte er noch einmal. Wenskat trat ins Wachlokal und sagte grinsend: „Der Schulze hört jetzt nischt, der ist der Kleinen in den Garten nachgeschlichen, dem hing richtig die Zunge raus!“

Das traf Holt wie ein Schlag. Aber da stand Böhm in der offenen Tür. „Pennt denn die ganze Wache? Los, Holt, Gomulka, mitkommen!“ Wenskat verschwand auf dem Hof. Holt stieg die Kellertreppe hinab. Er kramte unter einem Stapel Patronenkisten einen Kasten Pistolenmunition hervor, den Böhm für seine Maschinenpistole brauchte, und trug ihn mit Gomulka ins Wachlokal. Da stürzte Wenskat ins Zimmer. Sein Gesicht war verzerrt. „Wache!... der Schulze, im Garten, Herr Unterfeldmeister... tot!“

Böhm starrte Wenskat an, sein Mund öffnete und schloß sich. Dann überschlug sich seine Stimme: „Mitkommen!“ Sie rannten über den Hof in den Garten. Zwischen den Büschen lag Schulze. Der Anblick war furchtbar. Wolzow beugte sich ungerührt über den Toten. Die Stirn klaffte von einem Beil­hieb. Er lag auf dem Rücken, die Beine waren im Hinstürzen seltsam nach hinten geknickt. Waffenrock und Hose waren geöffnet. In der linken, krampfhaft verschlossenen Faust hielt er ein dichtes Büschel hellblonden Haares. Wolzow richtete sich auf. „Der ist hin.“ Er sah sich suchend um. „Dort!“ Holt sah im Gras ein Beil liegen, das Beil.

„Herr Unterfeldmeister!“ schrie Wenskat. „Die Blonde vom Hausmeister! Er ist ihr nachgegangen, und als ich sehen wollte, wo er bleibt, da lag er hier!“

Böhm lief schon los. Sie folgten ihm. Aus dem Schulhaus stürzten immer mehr Leute. Böhm rüttelte an der Klinke des Gartenhäuschens. „Tür einschlagen!“ Wolzow stieß mit dem Kolben des Karabiners zu, daß es donnerte, immer wieder, bis das Schloß barst. Der Korridor lag offen vor ihnen. Wens­kat stürmte als erster hinein, durchmaß mit wenigen Schrit­ten den Vorraum und riß die Tür auf.

Mitten im Zimmer stand der Hausmeister, ein Jagdgewehr im Anschlag, der Schuß krachte. Wenskat brach schreiend zusammen. Böhm riß dem Hausmeister das Gewehr aus den Händen und schlug mit dem Kolben auf ihn los, er brüllte: „Verbrecher! Bandit! Slawenvieh!“ Der Hausmeister fiel zu Boden, Böhm trat ihn mit den benagelten Stiefeln und tobte: „An die Wand... Sofort an die Wand!“ Das Mädchen stand am geöffneten Fenster, einen halbgefüllten Rucksack zu Füßen.

Böhm fuhr auf das Mädchen los: „Die Hände hoch, du Aas!“ Das Mädchen hob die Arme. „Vetter, Wolzow!“ schrie Böhm. „Den Wenskat ins Krankenzimmer! Gomulka, Schwedt, den Banditen auf die Beine bringen, aber schnell, an die Mauer, Gesicht zur Wand! Holt, stehn Sie nicht rum, das Aas ab­führen, Gesicht zur Wand... Wirst du wohl die Arme oben lassen, du Hurenstück! Meermann, Runge... mitkommen!“ Er lief davon. Gomulka und Schwedt hoben den Hausmeister auf, er wankte vor ihnen durch den Korridor auf den Hof. Das Mädchen folgte unaufgefordert.

Holt ging ein paar Schritte hinter ihr. Sie hielt die zittern­den Hände im Nacken verschränkt, das Haar fiel über Hände und Schultern. Er trug den entsicherten Karabiner unter dem Arm. Die Linke umklammerte den Kolbenhals, der Finger lag am Abzug. Wenn sie wegläuft, dann muß ich schießen. Dann werde ich schießen. Sein Blick suchte einen Punkt zwischen den Schulterblättern. Etwas links, dachte er, dann spürt sie nichts.


Date: 2015-12-24; view: 868


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