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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 5 page

Im Zug holte Wolzow eine Karte aus dem Rucksack. „Mal die örtlichkeit studieren. Miese Gegend! Berge, Wälder, tief eingeschnittene Schluchten. Günstig für Kleinkrieg! Gut, daß ich das klassische Infanteriewerk von Boguslawski mitgenom­men hab!“

ZWEITES BUCH

1.

Mitte September zog ein milder Nachsommer über die nordwestlichen Beskiden.

Gomulka sagte zu Holt: „Eigentlich sollten wir uns nicht beklagen. Weißt du noch, wie wir uns während der Flak-Aus­bildung unterhielten, wozu der stumpfsinnige Drill gut ist? Damit man Sehnsucht nach dem Einsatz bekommt.“

Sie saßen zusammen auf der Latrine. Das war hier der ein­zige Ort, wo man ungestört ein paar Worte wechseln konnte. Gomulka war seit dem Urlaub schweigsam und in sich gekehrt. Sie rauchten, über das Lager brach die Dämmerung herein.

„Hast recht“, antwortete Holt. Essen stand mir bis oben ran, dachte er, und jetzt wünsch ich mich zurück. Alles, was kommen kann, ist besser als dieses Lager!

Die Gerüchte von einem bevorstehenden Einsatz verstummten nicht. Jeder hatte anfangs mit Unruhe und Angst an diesen Einsatz gedacht, heute gab es wenige, die ihn nicht herbeiwünschten. „Man ist verdammt vergeßlich“, sagte Holt. „Wir werden uns eines Tages hierher zurückwünschen!“ – „Bis jetzt haben wir’s jedesmal schlechter erwischt“, meinte Gomulka. Holt sog an der Zigarette. „Gottesknecht war ein märchenhafter Vorgesetzter!“ – „Die Flak war überhaupt die reinste Sommerfrische“, erwiderte Gomulka. „Dort haben sie uns wenigstens noch wie Menschen behandelt.“ Holt nickte.

Hier trieb ein von morgens fünf bis abends sieben minu­tiös geregelter und genau vorgeschriebener Tagesablauf die Jungen an die Grenze der Erschöpfung. Holt hielt durch, er war gesund und kräftig, er schickte sich drein, daß Obervor­mann Schulze ihn zwanzigmal mit Karabiner und Sturmgepäck über die Eskaladierwand jagte, und nahm alle Strapazen als Training. Nur Härte, dachte er, wird mich die Anstrengungen des Krieges ertragen lassen! Aber der Ton, der hier herrschte, zermürbte ihn doch, die Schikane, das ausgeklügelte und dabei so einfache System, den Willen jedes einzelnen zu brechen.

Das Lager, auf dem Gelände einer Gärtnerei, war von einer hohen Ziegelmauer umgeben. Dicht beim Tor lag die große Verwaltungsbaracke mit Wachlokal, Arrestzelle und den Woh­nungen der Führer. Dahinter dehnte sich der Appellplatz, hun­dert Meter im Quadrat, mit Schlacke bestreut. Die Gärtnerei, rings um die drei Unterkunftsbaracken, war in ein Übungs­gelände mit Aschenbahn, Eskaladierwand und Wassergraben, Feldstellungen, Unterständen, Schützengräben und Drahthin­dernissen verwandelt worden. Die Arbeitsmänner wurden militärisch ausgebildet. An die Stelle des Spatens war der Ka­rabiner getreten.

Holt gehörte mit Gomulka, Wolzow und Vetter zum Trupp des Obervormanns Schulze und lag mit ihnen zusammen in einer Stube, in einem der großen, unwirtlichen Barackenräume, in dem gewöhnlich fünfzehn Arbeitsmänner mit einem Stu­benältesten untergebracht waren. Aus der Batterie und Holts ehemaliger Klasse waren noch ein paar andere Schüler zur glei­chen Abteilung eingerückt.



Obervormann Schulze war ein grober, stiernackiger Bur­sche von zwanzig Jahren, über dem unbewegten, leeren Ge­sicht floh die Stirn flach nach hinten. Den wasserhellen Augen fehlte jeder menschliche Ausdruck, sie blickten so tierhaft drein, daß Holt das Gefühl nicht loswurde, er habe es mit einem angezogenen Affen zu tun. Der deprimierende Ein­druck wurde verstärkt durch die zu lang herabhängenden, mit Muskelwülsten bepackten Arme und eine reichliche Kör­perbehaarung, die Holt morgens beim Waschen mit immer neuem Ekel erfüllte. Die Intelligenz des Obervormanns reichte gerade, empfangene Befehle weiterzugeben, mit einer eigenartig gequetschten Stimme, die sich zu heiserem Gebrüll er­heben konnte. Er verfügte über ein paar auswendiggelernte Dienstvorschriften, war trotz seiner Beschränktheit nicht ohne Schläue und dabei von rücksichtsloser Ungerechtigkeit. Er verfolgte jeden, der intelligenter war als er selbst, mit Miß­trauen und Haß.

An diesem Abend hackte Schulze auf Vetter herum. Chri­stian Vetter war nicht mehr dick oder schwammig, er war gewachsen und überragte Holt an Körpergröße. In den sechs Wochen hatte er sich mehr als Holt und Gomulka an den rohen Ton gewöhnt und eine Reihe von Angewohnheiten an­genommen, deren er sich noch bei der Flak geschämt hätte. Er rülpste, ließ rücksichtslos die Darmwinde fahren und quatschte mit den anderen in gemeinen Worten von Weiber­geschichten, was Holt um so abstoßender und alberner fand, als Vetter noch immer vor jedem weiblichen Wesen einen roten Kopf bekam.

Obervormann Schulze bediente sich in seiner Begriffsarmut zweier immer wiederkehrender Schimpfwörter: „Sie Untier“ und „Sie nasser Sack“. Die Bezeichnung Untier, fand Holt, paßte am besten auf Schulze selbst, wie er so dastand, nach vorn geneigt, das tote Gesicht vorgeschoben und die langen Arme in die Hüften gestützt. „Sie nasser Sack!“ brüllte er mit seiner gequetschten Stimme Vetter an. „Mit Sie wer ich noch fertig, aber jetzt falln Sie um, Sie Untier, das kost zwanzig, vonwegen über mir lustig machen!“ Vetter kippte ge­horsam nach vorn auf den Fußboden und zählte laut: „Eins... zwei. . . drei...“

Holt zog sich aus und baute sorgfältig an seinem Kleider­päckchen, überflüssig, daß ich mir solche Mühe geb, dachte er dabei. Es ist sowieso ein Lotteriespiel, wen es trifft! Fast alle lagen schon auf den Strohsäcken, nur Wolzow fehlte noch.

Holt kletterte auf sein Bett. Wolzow hatte sich eine Aus­nahmestellung erobert. Nach außen hin knallte er vor Schulze die Hacken noch lauter als andere, aber hinter dieser Kulisse der Subordination soufflierte er dem Obervormann beim Dienst und flüsterte ihm alles ein, was nötig war, das Ansehen des Truppführers bei den Vorgesetzten sprungartig zu heben. Wolzow verhalf Schulze zu der Anerkennung, sein Trupp sei der beste der Abteilung. Wolzow organisierte den Dienst, und der Obervormann befahl mit armen Worten, was Wolzow durchdacht hatte. Wolzow war der eigentliche Führer des Trupps. Schulze fügte sich und fuhr gut dabei, in der Illu­sion, daß er der Vorgesetzte und Wolzow eine Art Adjutant sei. Das einzige Originale an Schulze war das Schimpfen und Brüllen und das Leuteschinden.

Wolzow zeigte sich seit den Urlaubstagen finster und ver­schlossen, was Holt auf den Drill schob. Wer weiß, ob ich mich nicht auch so verändert hab... Er rauchte, obwohl das Rauchen im Bett verboten war. Aber er konnte sich nicht ent­schließen, die Zigarette auszudrücken. Vetter und ein blon­der, gutmütiger Bauernbursche aus dem Harz hatten Stu­bendienst und fegten eifrig den geölten Bretterboden. Der Obervormann saß angekleidet an seinem kleinen Tisch neben der Tür. Endlich polterte Wolzow in die Stube. Er hatte im Speiseraum den Dienstplan abgeschrieben und reichte Schulze das Blatt. Der Obervormann rief: „Ich verles den Dienstplan von morgen!“ Dann gab er Wolzow das Papier zurück. Wolzow las: „5 Uhr wecken. – 5 Uhr 20 bis 5 Uhr 29 Frühstück. – 5 Uhr 30 raustreten zum Morgenappell. – 6 Uhr bis 8 Uhr 45 Ordnungsdienst. – 9 Uhr bis 10 Uhr 44 Waf­fenausbildung: Panzerfaust. – 10 Uhr 45 bis 10 Uhr 59 Pause. – 11 Uhr bis 11 Uhr 55 Abteilungsunterricht: Ver­hütung von Geschlechtskrankheiten römisch zwei. – 12 Uhr bis 12 Uhr 45 Mittagessen, anschließend Mittagsruhe. – 13 Uhr 30 raustreten und Abmarsch zum Scharfschießen, Karabinerübungen III und IV. – 20 Uhr Abendessen. – 21 Uhr Nachtruhe.“ Wolzow bückte sich und flüsterte Schulze ein paar Worte zu. Der Obervormann rief: „Karabinerübung IV wird mit Gasmaske geschossen, bis morgen früh Meldung bei mir, wer neue Klarscheiben braucht!“ Holt verbarg die Zigarette hinter der hohlen Hand. Kam der Schulze nie drauf! Wenn die Kerle nichts sehn und lauter Fahrkarten schießen, dann war das Donnerwetter da!

Schulze gab noch den Stubendienst bekannt: „Wenskat und Huber... Daß Sie früh ranhaun, daß Sie gleich Kaffee holn könn!“ Er ging von Bett zu Bett, in zehn Minuten war Stuben­durchgang. „Gomulka, natürlich Ihr Kleiderpäckchen, sau­mäßig, raus, Sie Untier, wegen Sie fällt der ganze Trupp auf!“ Er warf Gomulkas Uniformstücke durch die Stube. Gomulka sprang schweigend aus dem Bett und las seine Sachen zu­sammen.

Holt hatte endlich die Zigarette ausgedrückt und überdachte schläfrig den kommenden Tag. Ordnungsdienst, üble Schin­derei. Waffenausbildung, Panzerfaust, kann interessant wer­den. Abteilungsunterricht, wieder mal Geschlechtskrankheiten, die eine Stunde geht vorbei. Dann raus zum Schießstand, ein Elend, diese Marschiererei.

Schulze, an der Tür postiert, meldete: „Stube fünf mit ein Obervormann und vierzehn Mann fertig zur Stubenabnahme!“ Unterfeldmeister Böhm, der Zugführer, ging als „Führer vom Dienst“ durch die Baracken. Er mochte guter Laune sein, denn sonst pflegte er gleich an der Tür loszubrüllen: „Sauerei! Mistloch!!“ Heute trat er schweigend in die Stube. Hoffentlich bleibt er friedlich, dachte Holt. Da ging es schon los: „Füße vorzeigen!“ Holt hing die Beine aus dem Bett. Gomulka war vorhin barfuß auf den geölten Fußboden gesprungen und hatte sich danach die Sohlen nur flüchtig an einem Lappen abge­wischt. „Dreckschwein, Misthund!“ schrie der Unterfeldmei­ster. „Schulze, sehn Sie sich diese Sau an!“ – „Raus, Sie Untier!“ schimpfte Schulze. Gomulka zog die Hose über und lief in den Waschraum.

Böhm stand unschlüssig in der Stube. Jetzt überlegt er, ob’s genug ist, dachte Holt und sah den Unterfeldmeister suchend umherblicken... Jetzt geht’s los, jetzt findet er bestimmt was! „Was ist denn das?“ sagte Böhm langsam. „Ein Gewehr ohne Mündungsschoner?“ Er brüllte: „Wem gehört der Kara­biner?“ Holt beugte sich weit aus dem Bett, bis er den Ge­wehrständer sehen konnte: Gott sei Dank, meins ist es nicht! Jemand sprang aus dem Bett. „Sie wahnsinnige Gestalt! Sie irrsinniges Vieh, Sie wahnsinniges!“ Jetzt ist er in Fahrt, jetzt geht es weiter! „Fünfzig Kniebeugen, das Gewehr in Vorhalt, ich bring Ihnen bei, wie man mit seiner Waffe umgeht, Sie hohläugiges Gespenst!“ Er hat immer neue Schimpfwörter, dachte Holt. „Und hier: Staub unter dem Gewehrständer! Und dort: eine Kippe im Aschenbecher, Jesusmariaundjosef: eine Kippe!“ Jetzt ist der Stubendienst dran, dachte Holt, armer Christian!, und wütend: Die Kippe hat der Schulze ausgedrückt, als Böhm reinkam! „Dreck, überall Dreck!“ tobte der Unter­feldmeister. „Die Kerle scheißen wohl in die Ecken, ja, was ist denn das für ein Sauladen, ein Schweinekoben, ein stinkiger Affenstall, verdammt!“ Stille. „Alles raus, los, raus, alles! Holt sprang aus dem Bett, vier, fünf Handgriffe, er war an­gezogen, er schnürte schon die Schuhe zu. „Schulze! Fünf­zehn Minuten Nachtschliff, aber im dritten Grad! Häschen­hüpf will ich sehn!“ Und wieder brüllend: „Ihr werdet robben, bis euch der Nabel glänzt!“

Holt lief langsam in die Nacht hinaus, bis Schulzes ge­quetschte Stimme „Achtung!“ rief. Im Gänsemarsch trabten sie in Richtung Hindernisbahn durch die Gärtnerei. Die Aschenbahn entlanggehüpft, mit vorgestreckten Händen, dann auf dem Bauch gekrochen, es war finster, man konnte mogeln. Zurück in die Stube: Handtuch, Seife, ab in den Waschraum. Jetzt wird er wohl Ruhe geben, jetzt ist er befriedigt!

Sie krochen in die Betten. Der Unterfeldmeister stand mit­ten in dem trüb erleuchteten Raum. „Ich bring euch Ordnung bei!“ sagte er beinahe sanft. „Ich lehr euch, was Sauberkeit ist, ihr unerzogenen Ferkel, ich mach noch Menschen aus euch ... und wenn ihr drüber krepiert!“ Er ging zur Tür. „Gute Nacht!“ Holt wickelte sich in eine Decke. Schlafen, nichts als schlafen!

„Aufstehen! Raus!“ Holt sprang im Halbschlaf aus dem Bett und wurde erst im Waschraum völlig wach, als er sich kaltes Wasser über Hals und Schultern laufen ließ. Jede Mi­nute, die er jetzt gewann, kam dem Bettenbau zugute. Zu­rück in die Stube! Es war halb dunkel, Licht durfte nicht ge­brannt werden.

Der Bettenbau war das Problem seines derzeitigen Lebens. Ein schlechtgebautes Bett bedeutete ein eingerissenes Bett, und dieses löste das Strafgericht Schulzes aus. Der Obervormann besaß alle Vollmachten, das Bett zum zweiten, dritten oder vierten Male einzureißen, unter Preisgabe der Mittagspause und jeder Minute der kargen Freizeit, immer wieder, bis zum Zapfenstreich und darüber hinaus. Es gab Fälle, da das Bett fünfzehn-, auch zwanzigmal am Tage gebaut worden war, und Schulze stand dabei und riß es zum fünfzehnten oder zwan­zigsten Male wieder ein. Ein schlechtgebautes Bett hieß, einen Tag lang ununterbrochen gequält und gepeinigt zu werden.

Es war schwer, das Bett zur Zufriedenheit des „Führers vom Dienst“ herzurichten, und unmöglich, wenn der „Führer vom Dienst“ Böhm hieß. Die Strohsäcke lagen hier, von allen Sei­ten sichtbar, auf den eisernen Bettgestellen. Sie sollten geo­metrisch exakte Quader darstellen, mit waagerechter Ober­fläche, senkrechten Längsseiten und rechtwinkligen Kanten. Also wurden Bretter oder Kartonstreifen unter dem Laken ver­borgen. Man hatte gelernt, trotz eines zerlegenen Strohsacks mit Hilfe von Latten und Hölzern das Laken so zu spannen, daß alles ganz ideal aussah. Aber bei Böhm nützte das nichts. Böhm betrachtete die Betten nicht, er befühlte sie.

Holt kämpfte den üblichen Kampf, er fühlte sich heute schlecht in Form, das machte ihn mutlos. Er drückte und kne­tete und stapelte die zusammengefalteten Decken millimeter­genau übereinander. Währenddessen goß er einen Becher des lauwarmen Kaffees hinunter und kaute lustlos einen mit Kunst­honig bestrichenen Brotkanten. Noch zehn Minuten! Wenskat, ein Schlächtergeselle aus dem Westerwald, fegte geschäf­tig. Wenn das Bett jetzt keine Gnade fand, dann war es Gottes Wunsch und Wille oder des Schicksals oder vielleicht eben auch nur Böhms, aber das blieb sich gleich. Holt zog die Dril­lichjacke über. Koppel, Mütze, Fingernägel, Schuhputz, Hals­binde – alles in Ordnung! Er fuhr noch einmal mit der Bürste über die Knobelbecher. Dann verschloß er vorsichtig den Spind. Hier riskierte man nicht nur, wegen „Verleitung zum Kameradendiebstahl“ bestraft zu werden, hier riskierte man, daß tatsächlich der Tabak verschwand, und dann war es das beste, zu schweigen, denn hier war nicht der Dieb, sondern der Bestohlene schuld.

Fertig! Holt schaute auf Schulze, Schulze schaute auf Wolzow, Wolzow schaute auf die Armbanduhr. Schulzes Stroh­sack sah erbärmlich aus! Kunststück, sein Bett war ein Obervormannsbett! „Fertigmachen zum Raustreten!“ Jemand hastete zur Tür herein und schimpfte: „Nicht mal in Ruhe kacken kann man hier!“

Durch das geöffnete Fenster schrillte die Trillerpfeife. Es war nun hell. Im Osten hinter den Bergen flammte der Him­mel. Aus allen Baracken liefen die Mannschaften zum Appellplatz. Das Antreten klappte nicht schlechter als sonst, doch Böhm schrie: „Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach hinten weg... marsch, marsch!“ Hundertachtzig Mann trabten über den Platz, daß die Schlacke stiebte. „Hinlegen!“ Auf und nie­der, zehn-, zwölfmal, bis endlich die Pfeife schrillte. „Ach­tung!... Euch Schweine werd ich munter machen!“ brüllte Böhm. „Nach hinten weg... marsch, marsch!“ Erst als Oberfeldmeister Lesser, der Abteilungsführer, aus der Verwal­tungsbaracke trat, gab Böhm sich zufrieden.

Das übliche Zeremoniell: Meldung, Flaggenhissung, Aus­gabe der Parole... Hinweise fürs Scharfschießen? Wolzow wird schon aufpassen! „Abteilung... rechts um! Im Gleich­schritt ... marsch!“ Die Kolonne zog um den Appellplatz, das gehörte nun schon zum Ordnungsdienst. – „Ein Lied!“ Vorn stimmten sie an: „Ich habe Lust...“ Holt murmelte: „Ich habe Lust...“, hinten schrie es: „Lied durch!“ Das war Lessers Leib- und Magenlied. „Drei... vier!“ Das Marschieren war tatsächlich leichter und weniger stumpfsinnig, wenn man sang. Holt dachte: Das geht jetzt anderthalb Stunden so, dann kommt die Schleiferei in den Trupps! – „Ich habe Lust im weiten Feld...“ Holt schrie: „Zu streitää-än mit dem Feind!“ Schlafen müßte man, dachte er, statt hier im Kreis herumzumarschieren! Schulzes gequetschte Stimme, ohne Rücksicht auf die Melodie, klang an seiner Seite: „... wohl als ein tapfrer Kriegesheld...“ Als Hilfsausbilder hat man gar kein schlechtes Leben, überlegte Holt, während er sang: „... der’s treu und ree-eeed-lich meint!“

„Lied aus!" brüllte Böhm. „Nennt ihr das vielleicht sin­gen, ihr kastrierten Ratten? Wartet, ich werd euch die Stimm­ritzen öffnen! Hilfsausbilder rechts raus! Alles nach links weg... marsch, marsch! Hinlegen! Auf!“ So ging das fünf Minuten. Dann wieder: „Drei... vier! Ich habe Lust...“ Holt war noch außer Atem, aber er brüllte, was die Lungen hergaben. Plötzlich dachte er: Böhm ist weg, vielleicht reißt er jetzt mein Bett ein! „Wohlan, die Fahne weht“, sang er, und: „Es helfe mir der Herre Gott zum Sieg...“

 

Holts Bett war nicht eingerissen. Er setzte den Stahlhelm auf und nahm den Karabiner aus dem Ständer. Die Trupps suchten sich in der Gärtnerei einen Platz, in einem Graben­stück oder hinter dem Mauerrest eines zerstörten Treibhauses. Nun war „kriegsmäßiges Verhalten“ vorgeschrieben. Schulze nahte mit einer Übungspanzerfaust. Man hörte Wunderdinge von dieser Waffe. „Leistet enorm viel“ sagte Wolzow, „wenn du gut triffst.“ Holt und Wolzow standen rauchend abseits, das Rauchen war vor dem Mittagessen verboten, aber Schulze achtete heute nicht darauf. Er hatte mit sich selbst zu tun. „Der T 34/85“, erzählte Wolzow, „wie er seit vorigem Jahr im Einsatz ist, hat eine Frontpanzerung von fünfundsiebzig Millimetern, das haut die Panzerfaust durch, wenn sie günstig trifft.“ Schulze befahl: „Antreten! Gewehre zusammenset­zen!“ Sie standen im Halbkreis um ihn herum. „Die Panzer­faust!“ begann er. „Die Panzerfaust ist ein Panzerbekämpfungsmittel. Ein Panzerbekämpfungsmittel für den Infanteri­sten, und heißt Panzerfaust. Fahrn Sie fort, Wolzow!“ Wolzow sprach konzentriert, in leicht dozierendem Ton. Schulze schrie zwischendurch: „Wiederholen Sie, Wenskat!“ Wenskat war nicht dumm, aber träge, er machte „Ha?“ und wurde eine Weile über die Aschenbahn gejagt. Wolzow erklärte das Prinzip der Hohlladung; die Panzerfaust sei eine Hohlladung, die auf den Panzer geschossen werde und im Aufprall deto­niere. Ob Schulze nicht länger die Rolle des Zuschauers spie­len oder ob er sich die heimliche Angst abreagieren wollte, die er vor diesem Thema gehabt hatte, blieb unerfindlich. „Fal­len Sie um“, schrie er plötzlich den Arbeitsmann Kranz an, „fünfzig Sachen pumpen!“ Ringsum schaute man interessiert zu, wie Kranz sich abmühte und langsam ermattete.

Unterfeldmeister Böhm trat um die Mauerecke. „Weiter­machen!“ Er war mittelgroß, etwa dreißig Jahre alt, und seine wäßrigen blauen Augen drückten stets Mißtrauen aus. Im Zivilberuf war er Inhaber einer Stehbierhalle in einer rhei­nischen Industriestadt. Auch heute sah er mißtrauisch von einem zum andern und ließ wiederholen. Es ging nicht ohne Gebrüll ab. „Holt, was erlauben Sie sich zu grinsen?“ – „Herr Unterfeldmeister, mein Gesicht hat gezuckt!“ – „Der Bauch“, schrie Böhm, „der vollgefressene Wanst soll Ihnen zucken, so werden Sie jetzt robben! Nieder! Bis zum Was­sergraben!“ Holt ließ sich Zeit. Stärkt die Muskeln, dachte er verbissen. Als er zurückkehrte, war Böhm schon bei der näch­sten Gruppe. Schulze erklärte mit mageren Worten die Be­dienung der Panzerfaust. Wolzow führte das praktisch vor. „Werner, Sepp, Christian, aufpassen! Die Panzerfaust ist wichtiger als alles andere!“ Der Unterricht endete mit der üblichen Einpaukerei. Vier Handgriffe, zehnmal wiederholt und zehnmal geübt. Erstens Sicherungsdraht lösen, zweitens Visier hochklappen ... Visier hochklappen, zum Kotzen stur ist das, dachte Holt. Drittens Sicherungsschieber in Stellung „Entsichert“ schieben... Das hängt mir ellenweit zum Hals heraus! Viertens Feuertaste drücken, erstens, zweitens, drittens, viertens, Draht, Visier, Sicherungsschieber, Feuertaste, das vergeß ich mein Lebtag nicht mehr, und wenn ich hundert Jahre alt werde! Anschlagsarten, hinten mindestens zehn Me­ter frei wegen des Feuerstrahls, Rückstoß gibt’s keinen, und immer wieder erstens bis viertens, Draht bis Feuertaste, An­schlagsarten, los, zeigen Sie noch mal, jetzt Sie, jetzt Sie hier, Sie Untier, jetzt Sie noch mal, wehe, das klappt nächstens nicht, wehe! Ob man freilich trifft, dachte Holt, bleibt vorläu­fig unklar. Ob ich die Nerven hab, so ein Ding auf fünfzig Meter gegen einen Panzer abzuschießen?

„Keine Sorge!“ erklärte Wolzow, als es endlich vorüber war. „Wenn ein Sherman seine dreiunddreißig Tonnen gegen dich loswälzt, dann drückst du von allein ab!“ – „In die Hosen!“ rief Wenskat.

Unterricht in der Kantine. „Der Knochenschuster!“ sagte jemand. „Achtung!“ Irgendwer meldete irgendwem. „Heu­tiges Thema für den Abteilungsunterricht: Verhütung von Ge­schlechtskrankheiten römisch zwei. – Hinsetzen.“ Ein blut­junger Feldunterarzt trat vor die Abteilung und setzte sich nachlässig auf die Tischkante. Er begann in leichtem Plau­derton. Seine Laszivität war eher zynisch als derb. Er liebte es, die übelsten Dinge im Diminutiv zu nennen, und versah sie mit niedlichen Beiwörtern, etwa so: „Was wir Ärzte den syphi­litischen Primäraffekt nennen, das ist ein ganz reizendes Ge­schwürchen ...“ Wenn er jemanden zur Beantwortung einer Frage aufforderte, pflegte er ihn mit einer unverständlichen Krankheitsbezeichnung zu kennzeichnen: „Sie, ja, der Struma mit den Basedow-Augen!“

„Wir hatten übrigens gesehen“, sagte der Feldunterarzt, „daß man sich die böse Syphilis notfalls auch auf dem Klo holen kann. Wie ist denn das nun mit dem Tripper? Kann man sich denn auch das Tripperchen auf dem Abort anlachen? Sie... ja, Sie dort, den Spund mit der blühenden Impetigo contagiosa staphylogenes mein ich, stehn Sie auf, Sie wandelnder Grind, antworten Sie!“ Vorn erhob sich ein Arbeitsmann mit schorfbedecktem Gesicht und stammelte: „Nein, aber doch nicht, das geht nicht.“ – „Das ist ein verhängnisvoller Irrtum“, sagte der Feldunterarzt. „Warum haben Sie sich übri­gens nicht krank gemeldet? Sie verseuchen ja das ganze Pro­tektorat! Setzen. Natürlich kann man den Tripper auch auf dem Klo bekommen, allerdings nur, wenn man dort mit seinem Mädchen die einschlägigen Dummheiten treibt.“ Und in dieser Tonart ging es weiter,...

Morgen Revierreinigen, Zeugputz und so weiter, dachte Holt, da ist ein Spindappell fällig, und ich muß die Parabellum verstecken. Bloß früh nicht auffallen, sonst muß ich nachmit­tags die Latrine scheuern! Wäsche tauschen, vielleicht rückt der Kammerchef neue Fußlappen raus...

Die Stunde ging zum Glück rasch vorbei. Händewaschen, Anzug säubern, Eßbesteck, Haare kämmen, Fingernägel, womöglich steht Böhm am Eingang und läßt sich die Hände zeigen... „Raustreten zum Mittagessen!“ Tatsächlich, Böhm stand an der Tür: „Zeigt eure Krallen her!“ Holt durfte passieren, hinter ihm ging das Gebrüll los: „Ist denn so was möglich, o Gott, diese Toppsau! Scheren Sie sich zur Hölle!“

Zwei Trupps aßen zusammen an einem langen Holztisch, dreißig Mann, eng aneinandergedrückt. Der Stubendienst schleppte Waschschüsseln voll Pellkartoffeln heran, einen Eimer graubrauner Soße, in der undefinierbare Fleischfet­zen schwammen. „Achtung!“ Der Abteilungsführer, Oberfeld­meister Lesser, gefolgt von Feldmeister Böttcher, stapfte zwi­schen den Stuhlreihen hindurch zu seinem Tisch, wo er gemeinsam mit den Zugführern aß. „Tischspruch!“ Aus einer Ecke brüllte jemand auf sächsisch: „Kartoffeln mit Soße und Zwiebeln dazu, das läuft durch die Hose bis in die Schuh!“ Der Oberfeldmeister lachte, dann rief er: „Alle Mann ...“ – „... ran!“ brüllte die Abteilung.

Holt fand das Essen miserabel, aber er hatte Hunger und aß große Mengen Kartoffeln.

Es war üblich, beim Essen ekelerregende Dinge zu erzählen, und es galt als Zeichen soldatischer Tugend, dessenungeachtet weiterzuessen.

Böhm trat in die Kantine, einen dicken Packen Briefe unter dem Arm. Heute muß für mich was dabei sein, dachte Holt. Er hatte bisher vier Briefe von Gundel erhalten. Böhm verteilte die Post an die Truppführer. Holt schielte auf Schulze. Der setzte sich wieder und legte die Briefe mitten in die Kartoffelschalen und Soßenflecken hinein. Auf der Stube teilte er aus.

Holt sah auf die Uhr: gleich eins. Er zog einen Schemel ans Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Er riß unge­duldig den Umschlag auf. Als er letzthin an Gundel schrieb, hatte er sich gehenlassen. Es gab Tage, da ihn Schikane, Ge­brüll und Drill zur Verzweiflung trieben. In einer solchen Stimmung hatte er sich Gundel anvertraut. Zu Mutlosigkeit und Bedrückung hatten sich trübe Erinnerungen gesellt, und das Ergebnis waren konfuse und abstrakte Worte gewesen, die ihn am anderen Morgen reuten.

Nun überflog er ihre Zeilen; ganz am Ende stand: „Ich kann verstehen, daß Du manchmal traurig bist.“

Ihre Handschrift war kindlich und wenig ausgeschrieben. In den ersten beiden Briefen war ihr sprachlicher Ausdruck ungeschickt und holpernd gewesen, aber nun schrieb sie so unbefangen, wie sie gesprochen hatte. „Lieber Werner, stell Dir vor, was ich gestern erlebt habe! Beim Einkaufen hat mich eine Dame angesprochen.“ Erst hatte es „Frau“ gehei­ßen, aber das Wort war durchgestrichen. „Sie hat ihren Na­men genannt: Gomulka.“ Seltsam! Holt las gespannt weiter: „Dann hat sie gefragt, ob ich nicht einen Augenblick Zeit habe. Auf der Straße sagte sie, Du bist ein guter Freund von Sepp. So heißt ihr Sohn. In der Badeanstalt hattest Du mir erzählt, daß Deine Freunde Gilbert und Sepp heißen. Da habe ich ihr geglaubt. Du sollst Frau Gomulkas Mann erzählt haben, daß Du bei uns gewesen bist und daß es Dir gar nicht gefallen hat. Auch die Leute nicht. Wenn Du das erzählt hast, mußt Du Herrn Gomulka ja sehr gut kennen. Dann hat sie gefragt, was ich in meiner Freizeit mache. Und ob ich sie nicht einmal besuchen will. Sie war sehr nett. Ich weiß gar nicht, warum. Sie hat gesagt, leider hat sie keine Tochter, so ein junges Mädchen wäre ihr schon recht, manchmal am Abend, und auch sonntags. Als Besuch. Wenn ich nicht will, erzählt sie auch keinem davon, und ich kann vom Hügelweg durch die Gärten kommen, daß es keiner sieht. Ich habe gesagt, daß ich es mir überlegen muß, aber vielleicht komme ich doch einmal, wenn es ihr wirklich recht ist. Lieber Werner, Du mußt mir schreiben, ob ich hingehen soll und was es für Leute sind. Du weißt ja, warum ich mit vielen nichts zu tun haben will.“

Was haben Gomulkas für Gründe, Gundel einzuladen? Menschenfreundlichkeit? Holt erinnerte sich: . .. das Mädchen ist nicht so völlig verlassen, wie Sie glauben... Sie habe viel Arbeit, schrieb sie, aber sie sei das Anpacken ja gewöhnt. Die Kinder machten doch Freude, obwohl sie frech zu ihr seien, denn sie habe Kinder gern, auch freche. Die Bitte um eine Photographie könne sie ihm nicht erfüllen, denn sie habe keine. Dann jener Nachsatz und am Ende der Wunsch: „Schreib mir bald wieder, wenn es Dir nicht zuviel Mühe macht.“

„Fertigmachen zum Raustreten!“ Holt sagte zu Gomulka: „Lies mal, Sepp.“ Er hatte Gomulka Gundels Schicksal er­zählt. Gomulka nahm den Brief. „Warum lädt deine Mutter sie ein?“ fragte Holt. „Was weiß ich?“ entgegnete Gomulka.

 

2.

Das Antreten zog sich in die Länge. Der Abmarsch zum Scharfschießen verzögerte sich. Oberfeldmeister Lesser ließ auf sich warten. Ein Kradmelder war ins Lager gerollt, nun hieß es, der Chef telefoniere. Die Abteilung stand Gewehr bei Fuß, Gerüchte machten die Runde, Feldmeister Böttcher und die Zugführer wurden vom Appellplatz weg zur Schreib­stube gerufen. Auf einmal war es kein Gerücht mehr: Ein­satz! Die nächsten Stunden ging im Lager alles drunter und drüber. Schulze schrie: „Wolzow, Wenskat, Holt, Gomulka, Hu­ber... mitkommen!“ Sie holten drei Kisten Patronen. Wäh­rend in der Stube scharfe Munition verteilt wurde, meckerte Vetter: „Zweihundert Schuß pro Mann, wer soll denn das schleppen?“ Aber Wolzow wies ihn zurecht.


Date: 2015-12-24; view: 732


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