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Ja um Gottes willen, woher weiß er denn das alles? 4 page

Holt war diese Szene peinlich. Er sagte, so unbefangen wie möglich: „Bitte erlauben Sie, daß ich mich verabschiede.“ Vielleicht hatte er den unglückseligen Streit durch seinen Wi­derspruch provoziert. „Mein Widerspruch war ungehörig“, sagte er aufrichtig, „und er war falsch. Man verteidigt oft nach außen hin Dinge, die... hier innen drin ganz und gar nicht so klar sind. Vielleicht verteidigt man sie gerade deshalb! Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Danke, es wird schon schiefgehen. Heil Hitler, Herr Doktor.“

Sepp brachte ihn durch den Vorgarten. Er war noch immer aufgeregt. Holt sagte beschwichtigend: „Nimm’s doch nicht so tragisch, Sepp! Ich kenn das! Mit meinem Vater geht mir’s genauso.“ – „Aber der Wahnsinn ist ja, daß er recht hat!“ rief Gomulka. „Er hat recht, ja! Aber ich kann’s nicht zu­geben, nicht so ohne weiteres, ich kann nicht!“ – „Schwimm dich frei, Sepp“, sagte Holt, „wir müssen selber durch den Dreck!“ ... Durch die sieben Höllen, dachte er.

Er ging die Allee entlang. Schluß jetzt mit der Selbstzerfleischung! Ich denk nicht dran, mich selber fertigzumachen! Auf einen imaginären Punkt schauen, dachte er, und vorwärts, marsch!

Er schaute bei den Tennisplätzen auf der Parkinsel eine Weile dem Spiel zweier Mädchen zu. Dann wartete er auf der Brücke. Es war schon drei Uhr vorbei. Er lehnte mit dem Rücken am Holzgeländer, in der sengenden Sonne, und warf den Zigarettenrest in das faulige, abgestandene Wasser. „Nun komm schon“, sagte er laut. Er sah immer wieder auf die Uhr und wunderte sich, daß von Mal zu Mal kaum Minu­ten verstrichen waren. Die Zeit ist aus den Fugen! Er sagte: „Komm!“ Aber als sie dann aus der engen Gasse in den Insel­weg einbog, erschrak er und stand wie festgenagelt am Gelän­der. Sie ging langsam über die Brücke, als sehe sie ihn nicht. Erst als er ihren Namen rief, blieb sie stehen.

„Ich wußte ja gar nicht, ob dir’s ernst war“, sagte sie un­befangen und sah aus großen Augen zu ihm auf. „Ich war ko­misch gestern, nicht? Ich hab erst über alles nachdenken müssen.“ – „Ich war komisch“, widersprach er. „Ich hab unmög­liches Zeug geredet, da mußte ich dir ja ganz unheimlich wer­den!“ Sie lachten beide; das nahm die letzte Befangenheit. „Gehn wir baden? Wir können auch ein Stück wandern.“ – „Wie du willst“, antwortete sie.

Gleich hinter dem Gerichtsgebäude führte ein Feldweg den Berg hinan und mündete in einen breiten und stillen Wald­weg. Holt litt unter der Hitze und zog die Mütze durchs Kop­pel. Auf der Höhe wehte der Wind dann kühlend über sie hin. Holt erzählte, was ihm gerade einfiel, von Wolzows „schlagartiger Aktion“ gegen die Hamburger, damals, vor dem Weihnachtsurlaub.

„Der Große?“ fragte sie. „Ist das dein Freund? Ich glaube, er... hat kein Herz.“ Er fragte verblüfft: „Wie meinst du das?“ – „Gestern, als sie alle vorbeigingen“, sagte sie, „da hat er mich angeschaut. Er sieht so... gleichgültig aus.“ – „Aber er ist ein treuer Freund“, rief Holt, und er rief es gleich­sam auch sich selbst zu. Er erzählte weiter und gab sich Mühe, die Situation anschaulich zu schildern, wie Wolzow das Aquarium nach Günsches Bett geworfen hatte... „Das ist schrecklich!“ rief Gundel. „Und die Fische?“ – „Es wa­ren keine drin“, log Holt, „bloß leere Schneckenhäuser, Steine und so was.“ – „Ich glaube, er hätte es auch mit den Fi­schen hingeworfen“, sagte sie. Holt schwieg. Er sah Wolzow im Biologiezimmer Zickels Zierfische an die schnurrende Katze verfüttern ...



Der Wald nahm sie auf. Der Weg war kühl und schattig. In den Wipfeln rauschte das Laub. „Du sagst ja gar nichts mehr.“ Er meinte: „Ich überleg. Hab ich auch kein Herz?“ – „Du mußt nicht gekränkt sein“, sagte sie. „Ich wollte deinen Freund nicht beleidigen.“ Er fand sie eigenartig, ganz anders als die Mädchen, die er kannte. „Die anderen“, begann er vor­sichtig, „haben gesagt, du sonderst dich ab ... du weichst allen aus .. . Aber warum hast du mich dann gestern nicht weg­geschickt?“

„Ich weich allen aus“, wiederholte sie, „ja, das stimmt. Die einen wissen nichts und reden immerfort von Zusammenneh­men. Das ertrag ich nicht. Die anderen wissen nur die Hälfte und haben Mitleid, oder sie heucheln. Mitleid mag ich nicht, überhaupt... ich paß nicht zu denen.“ – „Und ich?“ fragte er. – „Bei dir“, sagte sie nachdenklich, „hatte ich das Gefühl, du... könntest wirklich mich meinen.“ – „Das versteh ich nicht“, entgegnete er. – „Ich weiß schon, was ich sagen will. Ich kann es bloß nicht richtig ausdrücken... Außerdem könnte es ja sein, daß du mich brauchst.“ In einer impulsiven Regung streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wich zur Seite, bis an den Rand des Weges, doch dann folgte sie ihm durch das kniehohe Farnkraut zum Waldrand, wo die Sonne auf Brombeerhecken lastete. Der gelbe Roggen neigte sich schwer im Wind. Jenseits des Talgrundes auf dem Hügelrücken ragte der Rabenfelsen in den Himmel. „Setz dich“, sagte er, „der Boden ist trocken, es gibt auch keine Ameisen hier.“

Sie saß mit untergeschlagenen Beinen im Gras und zupfte einen Faden aus dem Rocksaum. Holt legte sich lang auf den Boden und verschränkte die Hände unter dem Kopf. „Erzähl mir was.“ Er sah, daß sie überlegte. „Du hast keine Eltern mehr? Erzähl mir von deinen Eltern.“ Sie zögerte und sah zu dem schwarzen Basaltfelsen hin. „Von meinem Vater weiß ich nichts“, sagte sie schließlich. „Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Ich war erst vier Jahre alt, als er verhaftet wurde.“

Verhaftet? Sie kann kein ... Verbrecherkind sein ... Hätte ich bloß nicht gefragt! dachte er müde... Sie beobachtete ihn.

„Es war im Februar 1933“, erzählte sie. „Er ist nie wieder­gekommen, aber er hat noch lange gelebt, in einem Lager. Ich war schon elf Jahre alt, als die Todesnachricht kam, am 3. August 1940. Meine Mutter hat nie von meinem Vater ge­sprochen. Aber als der Brief kam, da war sie weiß wie die Wand. Ich hör noch jedes Wort. Sie hat gesagt: ,Ich hab ge­schwiegen, weil ich gedacht hab, ich kann ihm helfen, daß er zurückkommt... Aber jetzt’, hat sie gesagt, Jetzt kann ich nicht mehr schweigen.’ Ich hab das nicht verstanden. Ein paar Tage später ist sie abends zu mir ans Bett gekommen. Sie hat gesagt: ,Sie haben deinen Vater bespuckt, sie werden auch deine Mutter bespucken, aber du darfst niemals glauben, was sie von uns behaupten.’“

Gundel flüsterte nur noch. „Von diesem Tag an war alles durcheinander. Ich hab oft gehört, wie meine Mutter nachts fortgegangen ist, wir hatten ja nur Stube und Küche. Im De­zember, am 9. Dezember, als ich aus der Schule kam, da war die Polizei da. Sie haben mich gefragt und gefragt, und nach­her hat mich eine Frau mitgenommen und hat mich geschla­gen, ich soll sagen, was ich weiß. Ich wußte nichts. Dann bin ich in ein Heim für verwahrloste Jugendliche gebracht worden. Im Frühjahr haben sie meine Mutter sechsmal zum Tode ver­urteilt und gleich hingerichtet.“ Sie schwieg. „Nun weißt du’s. Ich bin auch schon angespuckt worden. Im Heim, da waren Mädchen, die gestohlen hatten und noch viel Schlimmeres, aber die waren alle besser als ich. Und alle haben auf mich geschrien: ,Dreckstück’...“ Ihr Gesicht war verschlossen. „Geh! Lauf ruhig weg! Ich brauch keinen.“ Er lag unbeweglich und starrte in den Sommerhimmel, bis die Augen schmerzten. „Sprich zu niemandem darüber!“ sagte er endlich. „Daß nur dir nichts geschieht.“

Ihr Gesicht wurde weich. Er sagte leise: „Ich weiß nicht, wie lang der Krieg noch dauert. Ich weiß nicht, was los ist in der Welt und was aus mir wird. Manchmal denk ich, das ist alles nur ein böser Traum. Wenn ich heimkomm aus dem Krieg, dann mußt du noch da sein. Ich weiß sonst nicht, wo ich hin­gehen soll.“ Sie sagte: „Wirst du mich auch nicht gleich wie­der vergessen?“ Er riß einen Getreidehalm ab und warf ihn ins Feld zurück. „Nein.“ Auf einmal lachte sie. „Ich glaube, jetzt kann ich dir auch sagen, was ich gedacht hab, vorgestern, auf der Straße.“ Sie blinzelte in die Sonne, die schon dicht über dem Rabenfelsen stand. „Ich hab gedacht: Der müßte mein Bruder sein.“ – „Dein Bruder?“ Holt war verwirrt, und sie fragte auch noch: „Möchtest du nicht mein Bruder sein?“

Er richtete sich auf. Aber nun sah er nicht nur das Gesicht mit den großen Augen und dem kindlichen Mund, sondern auch die nackten braunen Arme, die junge Brust, die das knappe Kleid schlecht verbarg, die winzigen Füße mit den Holzsandalen, die unter dem ausgebreiteten Kleidersaum her­vorsahen. „Nein. Nicht dein Bruder“, sagte er und sprang auf. „Komm. Es wird bald Abend.“ Er hielt ihr die Hände hin und half ihr aufzustehen, einen Augenblick standen sie unbeweglich voreinander, dann riß sie sich los. Er folgte ihr, sie gingen durch den Wald stadtwärts.

Es dämmerte. Zwischen den Bäumen herrschte ein durch­sichtiges Halbdunkel. Der Pfad teilte sich. Holt wählte den längeren Weg. Eine Bank stand zwischen den Sträuchern, er zog Gundel neben sich auf den Sitz und faßte ihre Hände. Dann hob er sie auf seinen Schoß. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Er legte den linken Arm um sie und strich ihr mit der Rechten das Haar aus der Stirn. Etwas wie Mitleid über­kam ihn, er sagte: „Du bist noch so jung!“ Sie antwortete mit geschlossenen Augen: „Du doch auch!“ Er küßte sie, nur flüch­tig. „Nicht doch“, sagte er, „du mußt den Mund nicht so fest zumachen! Die Lippen nur ganz leis aufeinanderlegen ...“ Sie begann plötzlich zu lachen. „Probier’ s noch mal!“ Er küßte sie wieder, sie hatte begriffen. „War’s jetzt richtig?“ fragte sie. Er antwortete: „Das darfst du mich doch nicht fra­gen, du dummes Kind, wenn dir’s gefällt, dann war’s richtig.“ Sie hob ihm schon wieder die Lippen entgegen, sie fand Ge­fallen daran. Er zog sie fester an sich. Behutsam, um sie nicht zu erschrecken, legte er die Hand auf ihre Brust. Sie wollte etwas sagen, aber er drückte ihr Gesicht fest an sich, dann öffnete er ihr das Kleid bis hinab zum Gürtel, sie trug darunter nur den Badeanzug. Er fühlte ihre warme Haut, er streifte den Träger des Badeanzugs von der Schulter und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über die Wölbung ihrer Brust. Sie seufzte: „Ich hab Angst.“ Aber sie legte den nackten und kühlen Arm um seinen Hals.

Er kam zu sich und erschrak so sehr, daß er sie fast von sich stieß. „Was ist?“ fragte sie. Er zog sie ganz sacht wieder zu sich heran, er sprach, den Mund in ihrem Haar: „Nichts. Du gefällst mir. Du bist wie... eine Elfe.“ Sie sagte unver­mittelt: „Du hast recht.“

„Womit hab ich recht?“

„Daß du nicht mein Bruder sein willst.“

Das überwältigte ihn. „Wenn der Krieg vorbei ist“, sagte er, „dann komm ich und hol dich. Wenn du mich nur bis dahin nicht vergessen hast!“ – „Ich dich vergessen!“ rief sie. Er erhob sich und trug sie ein paar Schritte weit, und während er sie auf den Weg stellte, lag sie eine Sekunde lang an seiner Brust wie das kleine Mädchen mit den roten Schuhen. Er preßte sie hilflos an sich und barg das Gesicht in ihrem Haar.

Er ging langsam durch die winkligen Gassen. Wolzow war noch nicht zu Hause. Holt saß lange am offenen Fenster. Er konnte durch die Sommernacht bis hinab zum Fluß sehen.

Nach Mitternacht polterte Wolzow ins Zimmer, staubig und verschwitzt. „Das war ein Gewaltmarsch!“ Er warf ein schwe­res Bündel auf den Tisch. „Unsere Schießeisen!“ Das Le­der der Taschen war feucht und verschimmelt. Holt hielt den belgischen Browning in der Hand, ein paar Rostflecke auf dem dunklen Stahl ließen sich abreiben. Sie rauchten Zigarren und putzten die Waffen. Wolzow war merkwürdig wortkarg. „Was hast du?“ fragte Holt. „Ich? Nichts“, antwortete Wol­zow. Er zog den Schlitten der Walther-Pistole zurück und ließ eine Patrone in den Lauf schnappen, zielte auf das ausge­stopfte Rebhuhn und drückte ab. Der Schuß krachte in dem engen Zimmer wie eine Kanone, der Pulverdampf wehte zum offenen Fenster hinaus. Wolzow warf die Pistole auf den Tisch. Im Haus wurde es lebendig. Von unten rief jemand: „Was ist... Um Gottes willen!“ Wolzow sprang zur Tür und brüllte: „Ruhe! Sonst kracht’s noch mal!“ Dann saß er wieder auf dem Bett. „Und du?“ fragte er übellaunig. „Warst du bei der Kleinen? Spinnt sie denn nun wirklich? Sogenannte trau­matische Neurosen sind das, gibt es im Krieg häufig, ,Kriegsneurosen’, das sind bloß abnorme Reaktionen, gab’s auch schon früher, ich glaube, ich habe schon bei Altgeld in ‘Sani­tätsdienst im Felde’ drüber gelesen. Meistens ist es nur Si­mulation ... Was denkst du, wie die das während des Weltkrieges in den Lazaretten des 16. Armeekorps gemacht haben? Da haben sie den Kriegsneurosen Gewaltexerzieren verordnet, dreimal täglich vier Stunden; du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholfen hat! In acht Tagen waren schwere Fälle von Schüttlern und Verkrümmten wieder fronteinsatzfähig...“

Als Holt auf seinem Feldbett lag und einschlief, sah er Wolzow wieder über den schwarzen, in Wachstuch gebundenen Heften sitzen und lesen, mit finsterem und verschlossenem Ge­sicht.

Am anderen Morgen gegen elf erwachte Holt durch ein Klopfen an der Tür. „Runterkommen, die Post ist da!“

Die Briefträgerin ließ sie beide unterschreiben. Holt sah den Umschlag. Er las nur den Stempel: „Frei durch Ablösung Reich“. In einem Schwindelgefühl lehnte er sich gegen den Türpfosten.

Wolzow riß den Umschlag auf und las laut vor: „Sie haben sich ... Mensch, das war vorgestern!... bei der RAD-Abtei-lung 2/461 ...“ Sie gingen wieder die Treppe hoch. Wol­zow bürstete seine Uniform. Die Briefe waren von Gelsenkir­chen an die Batterie und von dort an Wolzows Adresse nach­geschickt worden. Wolzow befahl: „Du holst den Sepp!“ Aber Holt lief die Gasse hinab.

Er fand das Haus wieder, riß die Tür auf und stieg die Treppe hoch. Es war dunkel hier, die Luft roch muffig. Hinter dem ersten Treppenabsatz kniete Gundel und scheuerte die hölzernen Stufen. Als sie ihn hörte, wandte sie den Kopf. Ihr Gesicht leuchtete auf. Sie war barfuß und trug eine graue Kleiderschürze. Verwirrt strich sie sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stim.

„Ich muß fort!“ sagte er. „Ich muß dich noch mal spre­chen.“ – „Du mußt fort?“ fragte sie fassungslos. „Schon heute?“ Oben schlug eine Tür. Eine Frauenstimme rief: „Gun­del! Mit wem schwatzt du?“ Holt sah, wie Gundel erschrak, warnend den Finger auf die Lippen legte und hastig weiter­arbeitete. Eine große, derbe Frau mit wirrem Haar stand auf der Treppe und lehnte sich schimpfend über das Geländer. Als sie Holt sah, rief sie erschrocken: „Guten Tag... was wollen Sie?“

„Heil Hitler!“ schrie Holt. Warte, dir werd ich! dachte er, während er die Hacken zusammenknallte. „Heil Hitler heißt das, nicht guten Tag, wo gibt’s denn so was!“ Das Ge­sicht der Frau lief rot an. „Das brauchen Sie mir...“ „Offenbar doch!“ schrie Holt, von einer grimmigen Freude erfaßt, und er versuchte, Hauptmann Kutschera nachzuahmen: „Mal herhörn! Ein Benehmen wie die Banditen!“ Die Frau schielte argwöhnisch nach oben, wo geräuschvoll eine Tür auf­gerissen wurde, und sagte: „Aber machen Sie doch kein ...“ Benagelte Sohlen polterten die Treppe herab, ein Mann beugte sich über das Treppengeländer, ein vierschrötiger Kerl mit grauem Stutzbärtchen und Glatze; er trug schwarze Reithosen und Stiefel, und das Netzhemd ließ die behaarte Brust sehen. „Was is ’n hier los?“ fragte er.

Durchhalten! Jetzt ist schon alles egal! Holt bellte: „Was hier los ist? Die Frau da empfängt einen, daß man denkt, man ist in der Pollackei! An den Baum binden und auspeit­schen!“ Das saß. Der Kerl sagte drohend: „Haste wieder dein ungewaschnes Maul... Los, du, verschwinde!“ Und zu Holt: „Nu sei mal friedlich, Kamrad... Was willste denn?“ Jetzt fort! dachte Holt, planmäßig absetzen! „Ich will die Eltern eines gefallenen Kameraden besuchen“, sagte er. „Nadler, das muß hier wo sein.“ – „Nadler?“ wiederholte der Kerl auf der Treppe und überlegte. „Da biste aber schiefgewickelt, da biste falsch, aber komm erst mal hoch.“ Holt zögerte. Die Neugier ließ ihn die Treppe hinaufsteigen.

In einer großen Wohnküche lungerten fünf Kinder herum, ein sechstes lag in einem Korb am Fenster. Der Kerl zog sich einen schwarzen SS-Rock über und sagte zu den Kindern: „Hagen, Wulf, haut ab... Raus, Annegret, nimm die Klei­nen mit, dalli!“ Dann ließ er sich auf das Sofa fallen. „Nimm Platz!“ Holt studierte die Rangabzeichen. Es wurde Zeit zu verschwinden. „Ich bitte um Entschuldigung, Unterscharfüh­rer, ich konnte natürlich nicht wissen ...“

„Nu setz dich erst mal“, sagte der Kerl. „Is schon gut, hast ja recht, dieses Weibszeug spurt nicht, was hab ich nicht schon versucht! Erzähl mal, wo kommst’n her?“ – „Gelsen­kirchen“, sagte Holt einsilbig. – „Ja richtig! Die Jungs von hier sin ja alle dort unten... Und wie sieht’s dort nu aus?“ – „Wie soll’s denn aussehen“, sagte Holt. „Es wird gearbeitet, trotz der Bomben, die Leute sind zähe.“ – „Na also“ meinte der Kerl befriedigt. „Hier gibt’s Gerüchte, du ahnst es nicht... von Demoralisation un so... Unser Mädel spielt sich wer weiß wie auf, bloß weil sie in Schweinfurt was aufs Dach ge­kriegt hat... Hab ich längst durchschaut... von der Arbeit drücken will sich das Aas! Du mußt’s ja nu wirklich wissen.“ Holt erhob sich. „Ich hab heut die Einberufung zum RAD be­kommen, irgendwo im Protektorat muß das sein, nach der Slo­wakei hin.“

„Slowakei? Feine Ecke haste da erwischt!“ Der Kerl nickte freundlich mit dem kahlen Schädel. „Die dort unten sin ganz schön frech... Zugüberfälle, Brückensprengungen un so, im­mer freiweg, wem immer frecher, un die Russen setzen nachts welche mit ’m Fallschirm ab ... Na, unsre gehn da jetzt aber ran, die wem hingemacht, das geht eins fix drei.“ – „Vorher muß ich noch aufs Meldeamt, wegen der Adresse“, sagte Holt, „ich hab nur noch ganz wenig Zeit...“ – „Hals- un Bein­bruch“, sagte der Kerl und führte Holt zur Küchentür, „halt die Ohren steif! – Hagen“, schrie er, „Wulfi, Annegret, Heid­run, könnt wieder reinkomm!“

Holt lief die Treppe hinab. Im Vorbeigehen drückte er Gundels Hand. „Nach drei ... wieder an der Brücke, ja?“ Sie nickte. Holt stand vor dem Haus, erschüttert, verstört. Auf dem Wege zu Gomulkas dachte er: Sie muß dort raus!

Bei Gomulkas öffnete niemand. Aus der Wohnung dröhnte Radiomusik bis auf die Straße. Holt klingelte und klopfte, nichts rührte sich. Er lief durch den Garten. Die Verandatür stand offen. Holt trat ins Haus. „Sepp!“ Er trat in die Diele. Das Radio dröhnte so laut, daß eine Vase auf dem Fensterbrett klirrte. Auf einmal verstummte die Musik. In der Stille hörte Holt durch die angelehnte Speisezimmertür Gomulkas Stimme, in einer fremden Sprache, langsam und betont. Nun die Stimme des Rechtsanwaltes: „Das Kroatische macht dir die mei­sten Schwierigkeiten, du mußt es jeden Abend in Gedanken wiederholen! Jetzt noch einmal auf russisch!“ Komisch, dachte Holt, wirklich komisch! Wieder hörte er Gomulkas Stimme fremdartige, konsonantenreiche Worte formen ...

„Sepp!“ rief Holt. In diesem Augenblick setzte wieder das Radio ein. Frau Gomulka erschien in der Tür. „Entschuldigen Sie vielmals, ich habe geklingelt, geklopft, gerufen...“ Sie führte ihn unbefangen ins Speisezimmer. „Wir haben Sie er­wartet. Was meinen Sie, wann Sie reisen müssen?“ – „Heute noch“, sagte Holt. „Komm mit, Sepp, zu Wolzow!“ Gomulka ging, sich anzukleiden. Holt hockte trübselig auf einem Stuhl. Sie muß raus dort, dachte er. „Herr Doktor“, sagte er in plötzlichem Entschluß, „dürfte ich Sie wohl um ... eine Unterredung bitten?“

Der Anwalt wechselte einen Blick mit seiner Frau. „Aber gern!“ Er führte Holt in sein Arbeitszimmer. An den Wän­den standen Regale mit Hunderten von Büchern. Holt, in einem Klubsessel, wurde ein unbehagliches Gefühl nicht los. Worauf laß ich mich da bloß wieder ein?

„Es ist... wegen gestern“, begann er stockend. „Ich bin mir darüber im klaren... Ich will sagen, man kann sich so furchtbar täuschen, aber bei Ihnen glaube ich...“ – „Aber ich bitte Sie!“ unterbrach ihn der Anwalt. „Der kleine Streit ist doch nicht der Rede wert... Uns muß es peinlich sein, nicht Ihnen! Zwischen den Vätern und den Söhnen gibt es gelegentlich Differenzen, das hat doch nichts zu bedeuten.“ Er erhob sich. „Sie verstehen mich falsch“, sagte Holt schnell. „Ich wollte nur erklären, warum ich gerade zu Ihnen... war­um ich mich gerade an Sie ... es ist eine ... Vertrauensfrage.“

Doktor Gomulka setzte sich wieder. „Immer frisch von der Leber weg! Reden Sie ohne Hemmungen! Sie wissen, ich bin in der Partei, Sie brauchen also keinerlei diesbezügliche Scheu zu haben. Andererseits... ich versichere Sie, daß ich Ihnen zuhören werde, als wären Sie mein leiblicher Sohn.“

„Ich habe eine Freundin hier“, sagte Holt, und er schaute auf den Anwalt, denn er fürchtete insgeheim, ausgelacht zu werden. „Es ist ein sehr junges Mädchen. Sie heißt Gundel Thieß.“

„Thieß, Thieß?“ wiederholte der Anwalt. „Warten Sie. Ich entsinne mich. Das braucht Sie gar nicht zu wundern, ich kenne so gut wie jeden hier. Thieß ... Ja, da war ein Vorgang, eine Vormundschaftssache ... – „Das könnte stimmen“, sagte Holt eifrig, „denn sie hat keine Eltern mehr...“ – „Ich erinnere mich jetzt genau. Sie hat beide Eltern durch ... recht unglückliche Umstände verloren. Vor einiger Zeit wurde die Vormundschaft neu verfügt. Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Ich war heut dort, wo sie im Pflichtjahr ist“, sagte Holt langsam. Der Anwalt unterbrach ihn abermals. „Sind Sie über die... Ereignisse informiert, die den Tod ihrer Eltern zur Folge hatten? Ja? Dann erlauben Sie mir zunächst die Frage, ob Sie sich nicht veranlaßt sehen, die Verbindung zu dem Mäd­chen zu lösen.“

„Wenn Sie das von mir erwarten“, sagte Holt heiser, und er war enttäuscht, „dann...“ – „Nichts, gar nichts erwarte ich“, entgegnete der Anwalt ruhig. „Ich frage nur. Sie sehen sich also nicht veranlaßt. Gut. Es paßt zu dem Bilde, das Sepp von Ihnen zeichnete. Nun weiter. Bitte.“

„Ich war heut dort. Sie können sich das Milieu kaum vor­stellen, und die Menschen...“ – „Ich kann es mir vorstel­len“, sagte der Anwalt. „Ich kenne den Herrn. Er ist in einer bestimmten Abteilung der Gefangenen-Anstalt beschäftigt. Er genießt auch sonst den Ruf, ein... beispielhafter Nationalsozialist zu sein, überdies ist er der Vormund des Mädchens. Gewisse Bestrebungen, dies zu verhindern, waren nach Lage der Dinge zum Scheitern verurteilt.“

„Kann man sie dort nicht wegholen?“ fragte Holt. „Kann man ihr nicht helfen?“

Der Anwalt antwortete unumwunden: „Nein. Jura noscit curia. Glauben Sie mir, da ist keine Möglichkeit, überhaupt keine, vorerst nicht. Es gibt viele solcher oder ähnlicher Fälle“, sagte er und blickte zur holzgetäfelten Decke. „Es gibt weit­aus schlimmere. Sie können sich nur in das Heer der Warten­den einreihen.“

„Warten“, sagte Holt, „worauf?“

Der Anwalt strich sich durch das schüttere Haar. „Credo rem integram restitutum iri“, flüsterte er. Dann lächelte er schwach und sagte: „Daß der Märchenprinz unser verwun­schenes Kind bald befreie!“

Sepp riß die Tür auf. Holt erhob sich. „Ich danke vielmals, Herr Doktor.“ Der Anwalt sagte: „Sie sollen sich nicht sor­gen, lieber Werner Holt. Das Mädchen ist nicht so völlig ver­lassen, wie Sie glauben.“ Er begleitete die beiden Jungen bis an die Gartentür.

Holt grübelte. Manches Wort des Anwalts blieb unklar. Er sagte zu Gomulka: „Ich finde deinen Vater großartig, Sepp!“ Gomulka erwiderte nachdenklich: „Ja... Ich versteh mich ja auch mit ihm. Nur manchmal... da ist es mir zu einfach, was er sagt. Es ist in Wirklichkeit viel komplizierter.“

Wolzow saß inmitten der Unordnung seines Zimmers und las in den schwarzen Heften. Sein Rucksack stand gepackt an der Tür. Er sagte: „Wir fahren achtzehn Uhr, über Prag. Das Nest liegt an der slowakischen Grenze. Vielleicht werden wir gegen Partisanen eingesetzt. Ich hab mit Essen telefoniert, Gottesknecht läßt euch grüßen. Schau nicht so dumm, Sepp, hau ab! Punkt vier treffen wir uns im Cafe am Markt.“

Als Gomulka gegangen war, sagte Holt: „Da hat unser Urlaub ein verdammt schnelles Ende gefunden.“ Wolzow rauchte und las schweigend weiter. „Diese Tagebücher“, sagte Holt, „hätten mich ja auch mal interessiert. Da müssen doch tolle Sachen drinstehen, nicht?“ Wolzow legte den Kopf auf die Seite. „Wie meinst du das?“ fragte er. „Was soll das heißen?“

Holt blickte verwundert auf. „Na... nichts! Ich mein bloß so! Dein Vater war Oberst, das muß doch interessant sein, was er da schreibt!“ Er schob den Rucksack zur Tür. „Gib mir eine Zigarre. Danke.“ Er rauchte. „Ich wollte mich über viele Dinge mit dir unterhalten. Zum Beispiel... dieses Attentat. Ich versteh das noch immer nicht.“

Wolzow sprang auf und starrte Holt ins Gesicht, aber dann bückte er sich und holte unter dem Holztisch eine Rotwein­flasche hervor. „Jetzt hör mal zu“, sagte er, während er zwei Gläser füllte. „Jetzt werd ich dir mal was sagen.“ Er rief: „Ein Wolzow verabscheut diese Verräter! Ein Wolzow hält seinem Kriegsherrn die Treue... Mein Onkel ist seit 1930 in der Partei, und wir sind seit 1742 Offiziere, und da hat noch keiner seinen Treueid gebrochen!“ Er hielt den Packen der Tagebücher in der Hand. Nun warf er ihn auf den Tisch, daß die Weingläser überschwappten. „Ein Wolzow steht zum Führer“, rief er und schlug mit der flachen Hand auf die schwarzen Hefte, „und zeigt, was soldatische Haltung ist! Jetzt beginnt für uns ein neuer Abschnitt, jetzt wird es Ernst! Geb’s Gott, daß der Krieg noch zwei Jahre dauert, dann sollst du erleben, was ein deutscher Offizier ist.“

Er weiß, was er will, dachte Holt, wenn er auch Wolzows Erregung nicht recht verstand. Alles oder nichts, die Halben soll der Teufel holen! Sie tranken. „Auf gute Kameradschaft!“ rief Wolzow. Er hielt Holt die Parabellum hin. „Zeig sie nicht rum, bis wir mal im Einsatz sind.“

Holt sah auf die Uhr. Er nahm einen Zettel und schrieb die Adresse seines Vaters auf. Er bat Wolzow: „Nimm meinen Rucksack mit, ich komm später.“ Er lief durch die Straßen zur Parkinsel. Holt wartete länger als eine halbe Stunde.

„Ich muß auf die Kinder aufpassen“, sagte Gundel, atemlos vom schnellen Lauf. „Ich hab nur zehn Minuten Zeit...“ Er zog sie über die Brücke in die Anlagen und redete auf sie ein. „Denk an alles, was ich dir gesagt hab: ich komm wieder! Ich schreib dir postlagernd, geh ab und zu fragen. Schreib mir, sooft du kannst, ja? Und hier... die Adresse meines Vaters.“ Sie las den Zettel. „Doktor Richard Holt?“ – „Er ist Profes­sor. Aber jetzt hat er eine ganz armselige Stellung, weil er ... Ich hab so gut wie keine Verbindung zu ihm. Aber wenn du je im Leben hinkommen solltest, sag, daß wir uns kennen. Du kannst ihm alles erzählen, da wird er dir bestimmt helfen.“ Er nahm ihre Hand, eine rissige, verarbeitete Kinderhand. „Leb wohl, Gundel!“ Sie sagte: „Komm wieder, Werner... Und werd nicht so ... so, wie du heute morgen warst!“ – „Ich hab doch Theater gespielt!“ rief er. „Ich hab meinen Haupt­mann nachgeahmt!“ – „Ich weiß“, sagte sie. „Aber etwas davon ist auch in dir.“ Er fühlte den Druck ihrer Hand. Sie wandte sich ab. Er rief sie noch einmal zurück, zog das Käst­chen aus der Brusttasche und legte Utas Kreuz mit dem Kettchen in ihre Hände. „Ich hab’s vor einem Jahr geschenkt bekommen, von einem Mädchen, das vielleicht gar nicht mehr lebt...“

Sie schaute lange auf das rote Gold und flüsterte die Jah­reszahl: „Sechzehnhundertzweiundneunzig...“

„Lies, was da steht“, bat er. Sie buchstabierte die verschnör­kelte winzige Gravierung. Dann lief sie davon.

Er ging durch die Anlagen und schaute über den Fluß.

 

Im Cafe saßen Wolzow und Gomulka zwischen den Mäd­chen. Auch Wurm war dabei. Wolzow führte große Reden, er war angetrunken. Gomulkas Gesicht war gerötet. Wolzow rief: „Die Olle rückt nur Bier raus!... Da hat Stammführer Wurm eine Pulle von daheim geholt! Bist eben doch ein guter Kerl, was?“ Er schlug ihm kräftig auf die Schulter. Man drückte Holt ein Glas in die Hand. Jemand rief: „Trinkspruch!“ Wolzow sprang auf und brüllte, daß die Adern auf seiner Stirn schwollen: „Schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s ans Sterben, ich bin dabei!“ – „Wir müssen zur Bahn“, mahnte Gomulka. Ein Bierglas fiel vom Tisch und zerbrach. Holt warf den Rucksack über die Schul­ter. Der Stahlhelm klirrte gegen einen Stuhl. Auf einen imagi­nären Punkt schauen, dort, über der Tür, und: vorwärts, marsch!


Date: 2015-12-24; view: 891


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