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Wie fassen die Sache mit Meißner Holt und Wolzow? – Ziel, Wörter, Vorbereitung, Gefühle (In welchen Termini) Warum verspottet Uta Barnim Holt? 3 page

Er legte das Buch aus der Hand. Was er jetzt unter dem Wust hervorzog, war Goethes „Faust“. „Liest du den ,Faust'?“ fragte er erstaunt. Wolzow antwortete: „Ich hab gehört, da soll ein Soldat mitspielen, ich hab mir das angesehn: militä­risch ist es uninteressant.“ Er löschte den Spiritusbrenner und schob die Retorte zur Seite. Es war dunkel im Zimmer, er schaltete Licht ein. Holt hatte das Buch aufgeschlagen und las: „Zueignung“ ... Er überflog die Verse und las noch ein­mal: „... was ich besitze, seh ich wie im Weiten, und was ver­schwand, wird mir zu Wirklichkeiten .. .“ Das ist wunder­bar ... Er fragte unvermittelt: „Denkst du eigentlich gern an die Zeit, als du ein Kind warst?“ – „Wozu?“ sagte Wolzow. „Nein. Du? Warum lebst du eigentlich nicht bei deinen Eltern?“

„Meine Eltern sind geschieden“, antwortete Holt unlustig. „Mein Vater ist weggegangen, und bei meiner Mutter, na, ich hab's nicht ausgehalten, ich weiß auch nicht, warum. Sie ist so ... steif, gar nicht wie eine Mutter. Großzügig war sie ja, in allem, wir hatten da eine Sportschule, sie hat mir einen Trai­ner für Jiu-Jitsu bezahlt und alles mögliche ... Aber sonst... Und meine Tante aus Hamburg ist noch schlimmer, wie ein Eisklumpen, die hat nun dauernd bei uns gesessen, mir hat diese Weiberwirtschaft einfach nicht gepaßt. Dauernd gab's Krach.“ – „Und warum bist du nicht bei deinem Vater?“ – „Er hat kein Sorgerecht, und Mutter läßt mich von der Polizei wegholen, wenn ich hingeh. Mein Vater ist Bakteriologe, weißt du, so wie Robert Koch ... Er war Hochschulprofessor und dann in der Industrie. Er hat immer nur seine Arbeit im Kopf, das heißt, zu mir war er ja ganz nett... Aber Mutter sagt, er ist ein Menschenfeind und ganz weltfremd.“ Er schwieg, es gab noch mehr zu sagen, aber eigentlich ging das niemanden etwas an, auch Wolzow nicht. „Und schließlich hat mich meine Mutter fortgelassen, jetzt bin ich eben hier.“ – „Ein Glück“, entgegnete Wolzow, „sonst war ich jetzt relegiert.“ Daß Holt ihn erst so weit getrieben hatte, übersah er. „Übri­gens“, brummte er, „das wollte ich dir noch sagen: Daß du mich rausgerissen hast, ich vergeß dir das nie! Wenn du mich jemals um etwas bittest“, sagte er mit einer mürrischen Feier­lichkeit, „so erinner mich an diese Stunde, und ich will ein Lump genannt werden, wenn ich nicht alles für dich tu...“ Holt sagte schnell: „Wenn wir zusammen in den Krieg kom­men, dann wollen wir zusammenhalten wie... Hagen und Volker. Es ist gut, wenn man im Krieg einen Freund hat.“ Wol­zow knurrte etwas Unverständliches. Er nahm den Krumm­säbel und hieb auf den Totenschädel, der krachend in Stücke sprang. Dann warf er den Säbel in die Ecke. „Zwei alte Krie­ger wie uns, die trennt nur der Tod!“

 

3.

 

Die Badehaube bereitete Holt Kopfzerbrechen genug. Schließlich erinnerte er sich, daß Veronika Dengelmann angeb­lich noch vor zwei Jahren regelmäßig geschwommen sei... Am anderen Morgen, beim Frühstück, fingen die Schwestern wieder von Herrn Wenzel an. Holt erwiderte auf alle Bitten hinterhältig: „Nein. Sie würden mir ja auch keinen Gefallen tun.“ – „Aber natürlich! Jeden Gefallen würden wir...“ „So? Dann geben Sie mir Ihre Badehaube.“



„Meine Badehaube?“ Sie kam sich veralbert vor. Er stand schon auf. Sie rief: „Gewiß ... Gewiß doch!“ Wie schön das geklappt hat, dachte er. Eh dieser Knabe einzieht, bin ich bei der Flak.

Veronika brachte die Kappe. „Was wollen Sie bloß damit?“ – „Also meinetwegen, schreiben Sie Ihrem Herrn Wenzel, ich bin einverstanden.“ Eulalia atmete auf. Aber Veronika fand keine Ruhe: „Was wollen Sie um Gottes willen mit meiner Badehaube?“ – „Eine Geranie werd ich hineinpflanzen“, sagte Holt. Er lief zur Badeanstalt.

Er saß in seiner Kabine und wartete, krank vor Aufregung, bis er die Marie Krüger im Badeanzug über die Liegewiese gehen sah. Er versteckte die Badekappe hinter dem Rücken. Sie gab ihm freundlich die Hand. „Heut müssen Sie mit mir schwimmen“, sagte er und hielt ihr die Badehaube hin.

Sie nahm ihm zerstreut die bunte Mütze aus der Hand. Dann stopfte sie das Haar unter den Gummi und sagte end­lich: „Ich muß mich im Spiegel sehn.“ Er folgte ihr über die Wiese. Schweigend ging sie voran, die hölzerne Treppe hin­auf und dann den Gang zwischen den Kabinenreihen ent­lang. Sie bückte sich nach dem Schlüssel, der irgendwo ver­steckt war, und stieß die Tür weit auf. Dann trat sie in den kleinen Raum. Holt lehnte sich an den Türpfosten.

Sie stand vor dem Spiegel und setzte die Mütze auf, wort­los, mit flinken Bewegungen, setzte sie wieder ab und hockte sich quer auf die kleine Bank, hob die Füße auf den Sitz, zog die Beine dicht an den Körper und schlang die Arme um die Knie. Sie sah ihn an, seitlich an die Kabinenwand gelehnt, zu­sammengerollt wie eine Katze. Zwischen den engen Wän­den herrschte ein dämmriges Halbdunkel; ein Lichtstrahl zau­berte ein paar spitze Lichter in ihre Pupillen.

Holt hatte Angst. Aber der Gedanke, er könne sich lächer­lich machen, trieb ihn doch den einen Schritt zu ihr hin. Er beugte sich hinab und küßte sie flüchtig auf die Lippen, die sie ihm entgegenhob. Dann richtete er sich auf, enttäuscht: die Bücher, die Träume hatten gelogen!

Sie lachte. Ihre Zähne blitzten. Sie stand auf und trat ganz dicht an ihn heran; sie schlang beide Arme um seinen Hals und küßte ihn. Er erwachte, er faßte mit beiden Händen ihre Schul­tern. Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück, aber er zog sie aufs neue an sich; er zwang ihr rasch die Arme auf den Rücken, er strich über ihre Schulter, ihren nack­ten Arm, er suchte ihre Brust. „Du tust mir weh“, sagte sie leise... Erst als auf dem Gang Schritte laut wurden, gab er sie frei. Die Schritte verloren sich. Sie trat aus der Kabine.

Er ging an ihrer Seite zum Ufer zurück, dann schwamm er mit ruhigen Stößen in den Fluß hinaus. Erst weit draußen, als er sich auf den Rücken warf, sah er, daß sie ihm folgte.

Am anderen Ufer liefen sie stromaufwärts, zu einem Wäld­chen von Erlen und Weiden. Hier wucherte zwischen hohem Riedgras der Löwenzahn. Von einem Tümpel stieg schreiend ein Schwärm Wildenten auf. Sie lagen lange Zeit in der Sonne.

„Ich habe in letzter Zeit viel an dich gedacht“, sagte er. „Wir beide bleiben immer beisammen!“

„Ach du . . .“, sagte sie gedehnt, „schlag dir so was aus dem Sinn. Außerdem geh ich in ein paar Tagen zum Arbeitsdienst.“ Sie richtete sich auf. „Vielleicht meinst du's wirklich so“, sagte sie sanfter, „aber ... das werd ich mir nie einbilden, daß so einer wie du's ernst meint...“

Bei diesen Worten fiel ihm eine Episode aus seiner Kindheit ein.

Sie hatten in Leverkusen eine Villa am Rande der Stadt be­wohnt. Im Kellergeschoß hauste die Portiersfamilie. Holt war vier oder fünf Jahre alt, und einmal entlief er der ewigen Auf­sicht des Kindermädchens und spielte mit der gleichaltrigen Tochter des Portiers, die ihn schließlich mit zu sich in die Kel­lerwohnung nahm. Er saß in der dunklen Küche am Tisch und spielte im Kreis der Familie „Schwarzer Peter“, bis ihn das verärgerte Kindermädchen fand. Oben mußte er baden und die Wäsche wechseln. Die Episode wäre wohl kaum in seinem Gedächtnis haftengeblieben, aber am Abend ließ ihn ein Zufall mit anhören, wie seine Mutter voll Sorge zu sei­nem Vater sagte: „Wo hat er das her... diesen Hang zum Niederen?“

Bei dieser Erinnerung überkam ihn die Lust, die ganze Welt herauszufordern. „Und... wenn ich dich in unseren Kreis einführe, gleich heut? Wenn ich dich meinen Freunden vor­stell? Soll einer ein Wort gegen dich sagen! Gilbert und ich, wir prügeln jeden windelweich!“

Sie lächelte flüchtig. „Jeden? . .. Kennst du den Meiß­ner?“ Meißner war seit seinem Notabitur hauptamtlicher HJ-Führer, neunzehnjährig, einer der wenigen seines Jahrgangs, der nicht schon seit langem im Wehrdienst stand, ein enger Freund des Bannführers, SS-Freiwilliger und Führer des HJ-Streifendienstes. „In ein paar Wochen wird er zur SS einrücken“, antwortete Holt, verwundert über den Gedanken­sprung, den ihre Frage verraten hatte. Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an .„Und... kennst du die Ruth Wag­ner?“ Er erinnerte sich schwach. Da hatte es vor Wochen ein Gerücht gegeben, ein unklares Gerücht von einem töd­lichen Unfall. „Was ist mit ihr?“

Sie redete leise, den Kopf gesenkt, aber die dunklen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. „Sie war Verkäuferin. Der Meißner hat sich an sie rangemacht. Das dumme Ding hat sich in ihn verliebt und hat sich alles gefallen lassen, obwohl so einer es mit uns ja gar nicht ernst meint. .. Aber er hat ihr sonstwas vorgeredet und daß es noch Geheimnis bleiben muß. Dann hat er sie plötzlich abschieben wollen, da war sie schon in anderen Umständen. Er hat gesagt, es ist Schluß. Er hat ihr Geld gegeben, daß sie's wegbringen lassen kann, aber wenn sie erzählt, daß er's gewesen ist, dann passiert was. Da ist sie zu mir gekommen. Sie war ganz verzweifelt. Und densel­ben Abend ist sie in den Schnellzug gestiegen. Am anderen Tag ist ihr Vater bei mir gewesen, ob ich weiß, warum sie weggefahren ist. Ich hab natürlich von nichts gewußt. Dann haben sie die Ruth gefunden, sie hat sich aus dem fahrenden Zug gestürzt, grad als der Gegenzug kam. Es heißt, es war ein Unglücksfall. Dann hat der Vater einen Brief von ihr bekom­men, den sie unterwegs aufgegeben hat, und er ist zum Bann gelaufen und hat Krach gemacht. Sie haben ihn dort festge­halten, und unterdessen ist der Meißner ganz aufgeregt zu Kretschmar gelaufen, was der Chef vom SD ist. Ruths Va­ter ist nicht wieder nach Hause gekommen, und niemand weiß, wo er jetzt ist.“

Er sah vor sich hin.

Sie neigte sich zur Seite, sie brachte den Mund dicht an sein Ohr. „Siehst du, deshalb bin ich mißtrauisch bei einem wie dir.“ Sie sprang auf. „Aber mach dir nichts draus, bald bin ich nicht mehr hier.“

Er war auf einmal allein. Er glaubte kein Wort, und er glaubte doch alles. Er war entsetzt und zugleich traurig, er fühlte eine Erbitterung in sich, die in Zorn umschlug, in Zorn gegen Meißner. Er lag noch lange im Gras und dachte nach. Dann beschloß er, mit Wolzow zu reden.

„Ich muß dir was erzählen“, sagte Holt, als Wolzow ihm öffnete. Dann horchte er auf. Durch die Wände drang ein seltsamer Laut, langgezogen wie das Heulen eines Hundes. „Meine Mutter“, sagte Wolzow. „Seit zwei Jahren immer dasselbe Theater, seit mein Vater an der Ostfront steht... Und so was nennt sich Offiziersfrau! Sie war schon mal im Irrenhaus, aber denkst du, sie haben ihr das Gejammer ab­gewöhnt?“ Er bot Zigaretten an. „Hör nicht drauf, du ge­wöhnst dich dran. Erzähl.“

„Kennst du die Ruth Wagner?“ – „Hm“, machte Wolzow. „Eine undurchsichtige Geschichte.“ Er zeigte sich wenig in­teressiert.

Holt erzählte. Er fragte anschließend: „Glaubst du das?“

„Warum denn nicht? Voriges Jahr ist auch so was passiert. Da sind ein paar Kerle vom Bann eingerückt, die haben Ab­schied gefeiert. Als sie besoffen waren, haben sie das erste beste Mädel von der Straße hochgelockt, haben sie nackt ausgezogen und dann der Reihe nach... na, verstehst schon. Das haben sie Äquatortaufe genannt, weil sie Marinefreiwil­lige waren, ganz originell, was? Das Mädel war erst fünfzehn. Der Vater wollte Krach schlagen, aber der Bannführer hat seine Leute gedeckt. Wenn er nicht Ruhe gibt, haben sie dem Vater gesagt, dann ist seine u.-k.-Stellung hin ... Da hat dieser Zivilist aus Angst vor der Front gekuscht, und so wurde die ganze Sache totgeschwiegen. Das mit dem Meißner kann schon stimmen.“

„Und... wie stehst du dazu?“ rief Holt.

„Das geht mich nichts an“, erwiderte Wolzow mürrisch. Aber Holt ließ nicht nach. „Geht dich nichts an? Mich auch nicht. Aber unsereins ist ja schließlich nicht irgendwer! Ist dir's wirklich egal, was dieser Meißner angerichtet hat?“ – „Reg dich nicht auf“, meinte Wolzow beschwichtigend. Aber Holt rief: „Haben wir eine Ehre im Leibe? Ja? Dann muß man ... zur Polizei gehn...“

Wolzow tippte mit dem Finger an die Stirn. „Polizei? Die werden sagen, das ist Hetze gegen die Partei.“

Holt saß eine Weile erschrocken auf dem Bett. Dann sagte er trotzig: „Aber es geht um... Gerechtigkeit! Wir müssen auf eigene Faust Gerechtigkeit üben, wie Karl Moor: ,Mein Handwerk ist Wiedervergeltung.' Wir werden die Ruth Wag­ner an Meißner rächen.“ – „Das Weibsbild ist mir egal“, erwiderte Wolzow. Er ging plötzlich im Zimmer auf und ab. „Der Meißner...“, sagte er dann, „das sind zwar alte Ge­schichten, aber immerhin: der hat mir damals meine Karriere als HJ-Führer versaut, da darf ich gar nicht dran denken ... Also gut, ich überleg mir das.“

 

4.

 

Holt nahm die letzten Tage vor den Ferien wieder am Un­terricht teil. Die Mitschüler begrüßten ihn jubelnd, aber Wol­zow fehlte. Das vergällte Holt den Tag. Er war überdies unruhig, weil es ihm nicht gelungen war, die Marie Krüger noch einmal wiederzusehen. Auf dem Stundenplan stand heute: Mathematik, Physik, Biologie und zwei Stunden Leibesübun­gen. Glaser hielt auf dem Korridor Wache. Zemtzki rief: „Ich bin bei Benedict mit dem Vorspruch dran!“ Benedict verlangte vor jeder Turnstunde eine Art Losung, die mit den Worten zu enden hatte: „Darum... Sport frei!“ Zemtzki piepste: „Wenn ich ,Darum' gesagt hab und das linke Auge zukneif, dann brüllt ihr alle: ,... eßt Pellkartoffeln!' Wir probieren!“ Er stand auf dem Podium und rief: „Trotz guter Kartoffel­ernte bleibt Sparsamkeit oberstes Gebot! Darum ...“ – „...eßt Pellkartoffeln!“ Holt hatte gleich nach seinem Ein­tritt in die Klasse Wilhelm Busch zitiert: „Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör, darum... Sport frei!“ Seither war die einstmals ernstgemeinte Sitte zu einer Quelle ständigen Unfugs geworden.

Mathematik bei Schöner: Der dicke Vetter holte seine Spiel­karten hervor, mischte und teilte aus.

Die nächste Stunde war interessanter: Physik bei Gruber. Man begab sich ins Physikzimmer.

Gruber stand am Experimentiertisch und baute eine In­fluenzmaschine auf. Man brüllte ihm den Hitlergruß entge­gen, denn das kleine, kugelrunde Männlein, weit über sechzig Jahre alt, war schwerhörig, fast taub. Er kleidete sich stets in grünes Loden und beteuerte immer wieder: „Ich höre fa­mos! Ich höre fabelhaft und ziehe die Konsequenz!“ Er beob­achtete die Gesichter seiner Schüler argwöhnisch und strafte, wenn er jemanden auch nur die Lippen bewegen sah. Man hatte folglich gelernt, mit geschlossenem Mund die erschüt­terndsten Laute hervorzubringen.

Der Unterricht begann vor einer Kulisse von Urgeräuschen. Holt hatte keinen Spaß daran. Er las, das Buch unter der Bank versteckt. „Holt, nach vorn!“ befahl Gruber. Er sprach sehr leise. Holt überhörte die Aufforderung, aber die Mitschü­ler heulten: „Holt... nach vorn!“

Er erhob sich und sagte: „Ich hab sechs Wochen gefehlt!“ Gruber verstand falsch. „Nein, Ihre Aufzeichnungen brauchen Sie nicht mitzubringen.“ Holt wiederholte: „Ich hab gefehlt!“ – „Nun ja, eben deshalb“, beharrte Gruber. Und da geschah es, daß Holt zurückbrüllte: „Ich habe aber keine Lust.“ Dann setzte er sich und zeigte ein abweisendes, gleichgültiges Ge­sicht.

Die Klasse jubelte, verstummte aber, als Gruber den Mund zur Antwort öffnete. Der kleine Lehrer in seinem grünen Lo­den rang nach Luft, dann rief er empört: „Ich hörte es famos! Keine Lust! Ich strafe es durch einen Tadel, ich protokolliere es im Klassenbuch.“ Gruber schraubte den Füllhalter auf. Da erhob sich Zemtzki und rief mehrmals hastig: „Herr Lehrer... Herr Lehrer! Ich! Ich!“ Er lief nach vorn zu Gruber, der ihm bereitwillig das Ohr hinhielt. „Sie dürfen ihn nicht bestrafen! Bitte, er war krank! Er hatte Gehirnscharlach! Der Arzt hat ge­sagt, noch lange Zeit setzt ihm der Verstand aus... Bitte ... er kann nichts dafür!“ Gruber stand unschlüssig. Aus der Klasse kam das Echo: „Ja! Er spinnt! Er kann nichts dafür!“ – „Er ist zeitweilig blöd“, flehte Zemtzki, „Sie dürfen ihn nicht bestrafen!“

Holt war damit nicht einverstanden und erhob sich. „Das ist nicht wahr! Ich bin völlig normal!“ Aber gerade diese Be­merkung schien Gruber vom Gegenteil zu überzeugen; auch mochte ihm ein kranker Schüler sympathischer als ein auf­sässiger sein. Also schraubte er den Füllhalter wieder zu. „Mit Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand sehe ich von der Pro­tokollierung des Tadels ab.“ Er fügte hinzu: „Schonen Sie Ihr Gehirn!“, was ihm stürmischen Beifall eintrug.

Holt hatte keine Freude an Zemtzkis Streich. Wie mir das alles zum Halse heraushängt! dachte er. Der Gedanke an Wolzow ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Vor dem Portal der hohen Gartenmauer parkten ein paar Kraftwagen. Sollte Wolzows Vater auf Urlaub gekommen sein? Er betrachtete neugierig die Militärfahrzeuge, zwei of­fene Kübelwagen mit aufmontierten Maschinengewehren, mehrere Motorradgespanne und eine große Limousine. Solda­ten hockten in den Fahrzeugen, mit Helmen, Karabinern, viel Gepäck und dreckverkrosteten Stiefeln. Sie sahen müde und überanstrengt aus, als hätten sie eine strapaziöse Fahrt hinter sich.

In der Halle standen ein paar Koffer herum. In einem Sessel schnarchte ein Unteroffizier, die schmutzigen Stiefel auf dem Teppich. Wolzows Zimmer war leer. Holt rief durch die Kor­ridore, setzte sich auf das Bett und wartete.

Wolzows Augen waren klein vor Müdigkeit. „Mein Vater ist gefallen. Onkel Hans ist heute nacht gekommen, direkt aus Rußland, durch Ungarn. Er ist nach Berlin kommandiert... Laß nur“, fügte er hinzu, „ist ja alles egal. Soldat ist Soldat. Bloß meine Mutter... Onkel Hans bringt sie in die Nerven­klinik. So was will Offiziersfrau sein! Komm! Ich stell dich Onkel Hans vor.“

Er schob Holt in ein großes, düsteres Zimmer. Auf der Couch am Fenster lag die hagere Gestalt des Generalmajors Wolzow. Er trug keinen Waffenrock, hatte die Ärmel hochge­krempelt, und seine Stiefel lagen auf dem Teppich. Auf einem Rauchtisch standen mehrere Rotwein- und Kognakflaschen, dazwischen Zigarettenpackungen, eine halbgeleerte Zigarren­kiste. Der General richtete sich ein wenig auf. „Aha!“ sagte er. Dann ließ er sich wieder auf die Couch fallen. Wolzow bot Holt einen Stuhl an, schenkte Kognak ein und erzählte: „Vater hat noch die Offensive im Kursker Bogen mitgemacht, hast ja im Wehrmachtsbericht gehört, daß da was los war...“ – „Hab gelesen“, sagte Holt, ein wenig befangen in der Nähe des Generals, „jetzt greifen die Russen bei Orel an, es wird eine riesige Materialschlacht.“ Der General richtete sich auf und nahm ein Kognakglas in die Hand. „Gilberts Freund? Freut mich. Auf Philipps Gedächtnis! Also Prost!“ Er trank, er hatte leise gesprochen, mit einer hellen und ätzenden Stimme; jetzt sagte er, während er sich wieder auf die Couch fallen ließ: „Knoth!“ Wolzow riß die Tür auf und schrie: „Unteroffizier Knoth!“ Holt atmete hastig, der Kognak brannte in seiner Kehle.

Schritte polterten die Treppe hoch, eine Gestalt in Feldgrau rief an der Tür: „Herr General?“ Es war der Unteroffizier, der in der Halle geschlafen hatte. „Spritfrage regeln“, sagte der General, die linke Hand flach auf der Stirn. Dann stützte er sich auf die Ellenbogen. „Ich kann mich nicht erinnern, wo Schreyer hingekommen ist.“

Wolzow flüsterte: „Sie haben heut nacht gesoffen wie die Stinte!“

„Der Herr Oberleutnant ist heute morgen zu seiner Frau vorausgefahren“, sagte der Unteroffizier. – „Richtig!“ sagte der General. „Ich erinnere mich... Wenzke muß mich jetzt schnell noch wo hinfahren. Weiterfahrt sechzehn Uhr. Ab!“

Der Unteroffizier polterte die Treppe hinab. Unter dem geöffneten Fenster wurde Motorengeräusch laut und entfernte sich. Nebenan schlug eine Tür. Wieder klang das klagende Geheul durchs Haus. „Richtig!“ sagte der General abermals. Er erhob sich ächzend, fuhr in den blauen Luftwaffenrock und ließ sich von den Jungen die Stiefel anziehen. „Ich bringe jetzt Sibylle weg. Elektroschocks sollen das einzige sein.“ Wol­zow schnob durch die Nase. „Bei der hilft nichts mehr. Die sollten sie am besten gleich drinbehalten.“ Der General mur­melte etwas vor sich hin. Er war so groß wie sein Neffe, hatte die gleiche Adlernase und die gleichen grauen Augen unter buschigen Brauen. Er stand fertig angekleidet im Zimmer und preßte beide Handflächen gegen die Schläfen. „Verdammter Kognak! Verdammtes Gesaufe!“ Er sah seinen Neffen nach­denklich an und fragte plötzlich: „Sorgen?“

„Mit der Schule“, sagte Wolzow. „Ich bleib vielleicht sit­zen.“ – „Dumm oder faul?“ fragte der General. „Natürlich faul“, entgegnete Wolzow. „Wir rücken noch dieses Jahr ein... Erst mal zur Flak.“ Der General begann zu lachen, nahm die Flasche und füllte die Gläser. „Prost! Mach dir nichts draus!“

Draußen klappten Türen, und die ätzende Stimme wurde vom Klagegeheul Frau Wolzows übertönt. Wolzow schenkte Rotwein ein.

Betäubt und angeregt lief Holt nach Hause. Am Himmel zogen Wolken auf. Als es dunkelte, flammte hinter den Ber­gen fernes Wetterleuchten. Holt stand am Fenster. Er dachte an den Augenblick in der Badekabine.

Am anderen Morgen fehlte Wolzow noch immer. Maaß verlas eine Anordnung: „Die Klassen III bis VI werden für drei Wochen zur Erntehilfe eingesetzt. Abreise am 21. Juli. . . gez. Knopf, Bannführer, Mietzsch, Oberstudiendirektor.“ – „Schon drei Tage nach Ferienbeginn!“ murrte Gomulka.

Nach Schulschluß fand Holt die Wolzowsche Villa ver­schlossen. Enttäuscht machte er sich auf den Heimweg. Aus dem Fenster des Wieseschen Hauses schaute der blasse Peter und rief ihn herein. In dem großen, hellen Salon stand der Flügel. Peter Wiese sprach leise und nachdenklich. Er setzte sich bald an den Flügel und spielte.

Wieses Spiel stimmte Holt meist ein wenig melancholisch. „Man muß etwas Formenlehre beherrschen...“, erklärte Wiese. „Diese Sätze zeigen dann ihre Architektur. Ohne For­menkenntnis gibt es kein richtiges Musikverständnis.“ Er schlug ein paar Takte an. „Beethoven, Sonate Opus zwei Num­mer eins, ein Schulbeispiel! Der Hauptsatz: viertaktiger Vor­dersatz, und jetzt... vier Takte Nachsatz. Ich wiederhole noch mal. Dritter und vierter Takt sind die Wiederholung der Takte eins und zwei in der Dominante.“ Er spielte. „Sieben­ter und achter Takt... Kadenz, ein Halbschluß ... damit ist der Hauptsatz beendet...“ Wiese erklärte den ersten Satz Takt für Takt. „Überleitung. Seitensatz.“ Er spielte. „Schluß­gruppe. Das Ganze bis hierher nennt man auch Exposition. Und nun folgt die Durchführung.“ Das Nacheinander der Töne wurde durchsichtig. „Ist jedes Musikstück so streng aufgebaut?“ fragte Holt. Wiese holte weit aus. „Die Form zerfällt... Nur wenige Prinzipien werden noch beibehalten, zum Beispiel Achttaktigkeit...“ – „Was ist eigentlich das Schwerste auf dem Klavier?“ fragte Holt.

Wiese überlegte. „Klavierauszüge von Richard Strauss... Aber es ist nicht schlimm, wenn man danebengreift, Strauss klingt sowieso immer ein bißchen falsch.“ Er kramte lange in den Noten. Holt horchte auf.

Das hab ich noch nie gehört, dachte er. Wiese rief stockend, während er sich abmühte: „In der Partitur klingt es natürlich ganz anders... Hier, das soll ein Glockenspiel sein ... oder Triangel.“ Kling-ling-ling, klimperte er im Dis­kant. Die Flut der Töne, dissonant und erregend, dann wieder harmonisch, verwirrte Holt. „Überreichung der silbernen Rose“, rief Peter Wiese, „da mußt du dir zwei Frauenstimmen vorstellen...“

Ich hab viel erlebt in den letzten Wochen, dachte Holt. Noch kurze Zeit, dann ist alles vorbei, der Sommer, die Stun­den hier bei Wiese, die Nachmittage am Fluß. Dann beginnt das große, das abenteuerliche Leben, der Krieg, die von gewal­tigen Schicksalsmächten geforderte Bewährungsprobe! „Spiel weiter“, bat er, „mir gefällt das ...“ Keiner weiß, wo wir hin­geraten, dachte er. Hier ist ja nirgendwo Flak, vielleicht wer­den wir an einem Brennpunkt eingesetzt! Das ruhige Leben ist eine Schande in dieser Zeit! Da hab ich die letzten beiden Jahre mit meiner Mutter in Bamberg gesessen, auch dort wa­ren Bombennächte nur eine Sage; dann und wann Alarm, was ist das, wo andere, kaum ältere, schon an der Kanone stehen? „Selbsthilfe gegen Feuer und Tod“, hatte er gestern in der Zeitung gelesen, und „Ein Wort zum Luftkrieg“ von Reichs­minister Doktor Goebbels.

Denn es ist die Pflicht eines jeden, mutig, ruhig und vorbe­reitet zu sein, hatte da gestanden ... Weil die Wirklichkeit des Bombenkrieges jeden Brief, jeden Bericht und jedes Vorstel­lungsvermögen übersteigt. . . Ein brennendes Haus, ein ver­schütteter Keller darf keine neue und überraschende, nur eine hundertmal durchdachte und längst erwartete Lage schaf­fen ... Durch die hohe Glaswand des Wintergartens fiel mil­des Sonnenlicht. Wiese spielte: Kling-ling-ling... Keller, Fluchtwege ins Freie, Mauerdurchbrüche, wassergetränkte Decken, Gasmaske, Kerzen und Streichhölzer, im Keller Trinkwasser und reichlich Mundvorrat, derbe Kleider, Phosphor­spritzer, Mut und Fähigkeit zur Selbsthilfe. Nicht verzagen! Zähne zusammenbeißen!

„Die Sänger-Arie“, sagte Wiese und sang mit kindlicher Alt­stimme: „Di ri-go-o-riiii...“ Gewiß, der Luftterror nimmt in diesen Wochen immer mehr zu. Aber der Doktor Goebbels sagt: Was die Engländer durchgestanden haben und wofür sie mancher von uns bewunderte, das müssen wir jetzt durchste­hen! Wie sich für die Briten auf dem Gebiet des Luftkrieges das Blatt gewendet hat, so wird es sich wieder für uns wen­den. Die Engländer haben zwei Jahre darauf gewartet, unsere Wartezeit wird nur einen geringen Bruchteil der englischen Wartezeit ausmachen. Es soll niemand glauben, daß der Führer dem Wüten des feindlichen Terrors untätig zuschaue. Wenn wir über unsere Maßnahmen dagegen nicht reden, so ist das nur der Beweis... Ja, dachte Holt, der beste Beweis!... da­für, daß wir um so mehr daran arbeiten. Die Zeit ist groß und erhaben und beschwört die Erinnerung an die besten Jahre des friderizianischen Zeitalters herauf. Friedrich stand manch­mal mit seinem jungen preußischen Staat vor Gefahren, mit denen wir die, welche wir heute zu überwinden haben, gar nicht vergleichen dürfen! Er ist damit fertiggeworden.

Und wir, dachte Holt, Kerle wie Wolzow und ich... es wäre gelacht!

Peter Wiese spielte. Dann, eines Tages der Endsieg! dachte Holt. Blumen, Jubel, Glockengeläut. Kling-ling-ling, läutete das Klavier. Als Holt sich verabschiedete, sagte Wiese leise: „Ihr geht ja nun bald ... Ich werde wohl hierbleiben, untaug­lich ...“ Holt sah durch den Wintergarten ins Freie. Armer Kerl, dachte er.

Am Abend war Wolzow wieder da, und Holt blieb bei ihm in der leeren Villa. Sie saßen zusammen in der Halle, vor dem schwelenden

Kaminfeuer. „Es werden ganz neue Flak-Waffen vorbereitet. Hoffentlich kommen wir noch richtig zum Schuß!“ sagte Wolzow.

 

5.

Stenographie bei Hessinger, dann Zeugnisverteilung durch Studienrat Maaß, da herrschte in der Klasse schon Ferienstim­mung. Man verabschiedete sich vom alten Schuljahr mit Rü­peleien. Hessinger, ein gutmütiger alter Mann, hatte arg zu leiden; er war wehrlos, und man quälte ihn. „Ich weiß nicht“, sagte Holt in der Pause, „aber es war zu viel, es war gemein.“ Gomulka betrachtete ihn nachdenklich. „Hast recht.“ – „Warum läßt er sich's gefallen?“ rief Vetter. „Halt 's Maul“, sagte Wolzow.

Da geschah etwas Außergewöhnliches. Der dicke, blonde Vetter, wegen seiner Leibesfülle stets verspottet, rebellierte gegen Wolzow. „Jetzt geht dir der Arsch vorm Sitzenbleiben, ha?“ Es war eine Sensation.

Aber Wolzow nahm Vetter gar nicht ernst. „Du? Na, ich halt's deiner Blödheit zugut.“ Er grinste. „Da hat der Maaß nämlich ganz recht, wenn er fragt, ob du die Blödheit von deiner Mutter hast. Denn das viele Fett hast du von deinem Vater.“


Date: 2015-12-24; view: 1173


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