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Wie fassen die Sache mit Meißner Holt und Wolzow? – Ziel, Wörter, Vorbereitung, Gefühle (In welchen Termini) Warum verspottet Uta Barnim Holt? 2 page

Er hielt inne. Auch das war geschafft! Wie durch Nebel sah er die Augen seiner Mitschüler auf sich gerichtet, und Maaß lehnte nach vorn über dem Pult, und sein Unterkiefer war heruntergeklappt...

„... meine Beobachtungen als Zeuge zu Protokoll zu ge­ben“, vollendete Holt. Dann fiel er seitwärts zu Boden.

Peter Wiese lief zum Hausmeister, Rutscher stotterte: „Er war schon morgens auf dem W-w-weg so komisch!“ Maaß beugte sich über Holt und sagte: „Das ist... Scharlach...!“ Wolzow schob ihn beiseite. Bald fuhr der Krankenwagen vor.

 

2.

 

Der Juni ging ins Land. Holt lag in der Infektionsabteilung des städtischen Krankenhauses. Wolzow kletterte jeden Tag über die Mauer und schlich durch den Garten unter das Fen­ster. Sein Pfiff wehte ins Krankenzimmer.

Die ersten Tage lag Holt fast ohne Bewußtsein im Fieber, dann genas er rasch und überwand Mattigkeit und Schwäche. Als er wieder bei Kräften war, empfand er den langen Auf­enthalt im Krankenhaus wie eine Freiheitsstrafe. Seine Mutter, von den Schwestern Dengelmann herbeigerufen, hatte un­terdessen bei allen Ärzten vorgesprochen, hatte Trinkgelder an Schwestern und Pfleger verteilt und war wieder abgereist, ohne ihren Sohn gesehen zu haben, und er war nicht einmal böse darüber.

Aber Wolzows Besuche machten ihn froh. Wolzow brachte Nachricht von der Außenwelt. Die Schule war nach Holts Er­krankung für zwei Wochen geschlossen worden, was Holt bei den Schülern aller Klassen populär gemacht hatte wie die Re­volte gegen Maaß. Er war der Held des Tages. Wolzow neidete es ihm nicht länger und war bereit, seinen Ruhm zu teilen. Als das Fieber gewichen war, sprang Holt, wenn im Garten der Pfiff ertönte, ans Fenster. „Wie geht's?“ fragte Wolzow.

„Eigentlich bin ich gesund... Ich soll mich schälen und muß immerfort ganz heiß baden.“ – „Hau ran!“ sagte Wol­zow ... Gestern hatte der Unterricht wieder begonnen, da kein weiterer Krankheitsfall vorgekommen war. „Zum Kotzen langweilig“, meinte Wolzow. „Wenn du rauskommst, dann ist irgendwas fällig...“ – „Ich überleg schon... was Aben­teuerliches!“ – „Abenteuer ist Quatsch“, erklärte Wolzow bestimmt. „Karl May und so was, das ist alles Schwindel. Bloß der Krieg ist richtig.“ – „Weißt du was Neues vom Flak-Einsatz?“ – „Noch dieses Jahr, vielleicht schon im Herbst.“

Diese Perspektive nahm Holt vollends die Lust am Schul­unterricht. Er überlegte: Wenn ich Glück hab, ist die Schule für mich vorbei... „Ich bekomm zwei Wochen Schonung“, sagte er, „dann sind große Ferien ... Bloß gut! Wenn ich an Maaß denke...“

„Maaß ist ein Satan“, sagte Wolzow. Er stand breitbeinig in einem Blumenbeet, die Hände in den Taschen vergraben, und unter seinen Stiefeln knickten Rosen und Nelken... „Weißt du, was Maaß gesagt hat? Dein Scharlach wäre ein ganz raffinierter Trick, daß er dich nicht bestrafen kann. Da ist Gomulka aufgestanden und hat gesagt: ,So ein Trick will gekonnt sein, Herr Studienrat!’ Maaß hat ihn gleich zwei Stunden eingesperrt.“



Ein andermal brachte Wolzow den kleinen Peter Wiese mit und hievte ihn über die Mauer. Wiese riß sich dabei ein Drei­eck in die Hose. „Wenn du gesund bist, spiel ich dir vor, was du willst.“ Tags darauf gab er Bücher für Holt ab.

Holt hatte schon immer viel gelesen, und in diesen Tagen, da er im Bett lag und ungeduldig seiner Entlassung entgegen­sah, las er wahllos, was man ihm aus der Anstaltsbibliothek brachte. Da waren viele seiner Lieblingsbücher dabei, die er nun zum zweiten oder dritten Male durchschmökerte: Steven­son und Jack London, Karl May und die Indianerbücher von Fritz Steuben, Gagerns „Grenzerbuch“, eine Feldpostausgabe „Auswahl aus Nietzsches Werken“, Hanns Johsts „Ave Eva“ und natürlich Kriegsbücher, immer wieder Kriegsbücher, von den Taten des LI-Boot-Fahrers Weddigen bis „Sieben vor Verdun“, und dann Ernst Jünger, „Das Wäldchen 125“, „Feuer und Blut“ und „In Stahlgewittern“ ... Beumelburg, Zöberlein, Ettighoffer und was es noch alles gab... Nun las er, was Peter Wiese gebracht hatte: Novellen von Storm und einen Band „Märchen der Romantik“.

Er lag unbeweglich in seinem Bett und sann über die Ge­stalten nach, die er leibhaftig vor sich sah: Elisabeth, das Puppenspieler-Lisei und die dunkle Renate vom Hof... So ein Mädchen müßte man kennenlernen, dachte er beklommen. Wolzow verabscheute Mädchen und fand Liebe unmännlich; Holt aber hatte das Unvereinbare stets zu vereinbaren ge­wußt: die Heldengestalten aus der Nibelungensage oder aus König Laurins Mantel verwob er mit Indianerhäuptlingen, Westmännern und den feldgrauen Gestalten der Kriegsbücher zu einem idealen Heldentypus, in dessen abenteuerlichem Le­ben für das Grauen der Märchendrachen ebenso Raum war wie für die Anmut Stormscher Mädchenfiguren oder den Ge­rechtigkeitsfanatismus Karl Moors ... Nun las er bei Novalis von einem Liebespaar, in einer Felsenhöhle, bei Blitz und Donner, welches „der erste Kuß auf ewig zusammenschmelz­te“ ... Der erste Kuß ... wie mag das sein?

Er war als Einzelkind aufgewachsen, frühreif, einmal kindisch und ausgelassen, dann wieder ernst, in sich gekehrt. Die frühen Regungen des Geschlechts stürzten ihn in Sehnsüchte und Träume; die Mädchen übten eine immer stärkere Anzie­hungskraft auf ihn aus, und wo er kein Geheimnis finden konnte, dort schuf er sich eins, indem er das Natürliche mit jenem mythischen Schleier verhüllte, der in zahllosen Büchern die Begriffe von Leben und Liebe verdunkelte, bei Hanns Johst zum Beispiel: die Frau steht im Blutdienst der Schöpfung... Vom ewigen Evangelium der Frauen, vom verrätselten Mythos des Geschlechts las er und grübelte... Die Antwort mußte das Leben geben. Er war ungeduldig, voll Sehnsucht nach Abenteuern und Bewährung.

Seine Eltern waren seit Jahren geschieden; er war bei der Mutter geblieben, der vermögenden Frau aus einer Industriel­lenfamilie; er war ihr mehr und mehr entglitten, obgleich sie ihn verwöhnt und versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen. Er war ihr schließlich mitten im Krieg davongelaufen, in Ham­burg aufgegriffen und wieder zurückgebracht worden, und endlich, ein Jahr später, hatte sie seinen Wünschen nachge­geben und ihn aus dem Haus gelassen, hierher, in die kleine Stadt, die ihr von irgendwem als idyllisch und heilsam empfoh­len worden war und die weitab von den Industriezentren lag, über denen sich das Unwetter der Bombardements immer dichter zusammenzog.

Hier war Ruhe. Ringsum waren die Berge von Wäldern be­deckt, eine dünnbesiedelte Landschaft breitete sich weit aus. Hier fühlte Holt sich wohl. Er war in Leverkusen und Bam­berg aufgewachsen. Seine Bindung an Vater und Mutter, die er durch Jungvolk und Hitler-Jugend von Kindheit an gelernt hatte geringzuschätzen, war endgültig zerrissen und hatte sich in Sehnsucht verwandelt, nach einem Freunde und nach dem anderen Geschlecht. Der Freund schien nun endlich ge­funden.

Wolzow, so überlegte Holt, durfte von alldem nichts wis­sen: von den Leidenschaften auf Haderslevhuus, von Elisa­beth, Undine und dem ersten Kuß in der Felsenhöhle. Wolzow pfiff unter dem Fenster, Wolzow hatte andere Sorgen: „Du mußt jetzt schnellstens kriegerische Tugenden entwickeln!“

In den ersten Julitagen wurde Holt entlassen. Er rechnete: Zehn Tage Erholungsurlaub, am Achtzehnten beginnen die großen Ferien, da ist das Schuljahr für mich so gut wie zu Ende, überdies häuften sich die Gerüchte vom baldigen Flak-Einsatz. Vielleicht hab ich’s endgültig geschafft, dachte er, bloß Schluß mit der Schule!

Die freien Tage verbrachte er meist im Flußbad, aber er durchstreifte auch die Umgebung der Stadt. Eines Morgens ließ er sich Brote einpacken, schnitt sich einen derben Stock und wanderte in die Berge. Die letzten Dörfer blieben hinter ihm zurück. Er tauchte in die Laubwälder. Am Nachmittag stand er mehrere Wegstunden von der Stadt entfernt auf einer hochaufragenden Bergkuppe und schaute über das Land. In einer Schleife des Flusses zog sich ein Hochplateau nach Nordwesten hin, von Erosionstälern zerklüftet, von Fels­schluchten, in denen Bäche talwärts zum Fluß stürzten. Durch das Hochplateau waren vereinzelte jüngere Kuppen vulkani­schen Ursprungs gebrochen und stiegen auf mehrere hundert Meter an. Er blickte über den dunkelgrünen Teppich der Laub­und Mischwälder hinweg. Der Fluß glänzte im Sonnenlicht, und fern stieg das Gebirge wellig, in grünen Hügeln, zur Ebene ab. Kein Dorf ringsum, kein Weg, kein Haus! Hier ist es herrlich, dachte er. Ohne Kompaß find ich nicht heim. Hier müßte man leben wie Karl Moor mit seiner Bande!

Der Berg, den er bestiegen hatte, war wie von einer riesi­gen Axt abgehackt. Am Fuß der Kuppe fand er, auf dem Ab­stieg, die Höhle. Ein Steinbruch fiel nach Süden tief in eine Schlucht ab. Im Norden hatte die Erosion das Gestein freige­legt. Holt sah ein Tal mit bewaldetem Hang, unwegsam und felsig. Am Steinbruch im Süden, unter der Gipfelkuppe, ent­wich ein Tier, ein Fuchs vielleicht, in die Büsche, und als er ihm nachspürte und das Buschwerk teilte, fand er einen Fels­spalt hinter dichtem Brombeergestrüpp. Er raffte eine Handvoll Reisig auf und kroch unter niedergebrochenen Gesteins­brocken hindurch, in den Felsen hinein. Es mußte ein uralter Bergwerksstollen sein. Schon nach wenigen Metern konnte er aufrecht gehen, und dann erweiterte sich der Gang. Von den Wänden rieselte Wasser. Er brannte das Reisigbund an und sah den Rauch in die Felsen hineinziehen. Dann stand er in einer großen, etwa drei Meter hohen und trockenen Höhle. Durch einen breiten, schachtartigen Felsspalt fiel helles Tages­licht.

Entdeckerfreude packte Holt. Nichts deutete darauf hin, daß seit langer Zeit ein Mensch hier eingedrungen war. Der Boden war felsig, und die Wände gefügt aus weichem Gestein. Der Schacht, der nach oben ins Freie führte, mußte in den Steinbruch der Gipfelkuppe münden.

Als er die Höhle endlich verließ, sah er draußen den Tag zur Neige gehen, und er beschloß, hier zu übernachten. Rings­um reiften Walderdbeeren, eine üppige Abendmahlzeit. Die Gegend war wildreich. Auf dem Felsabsatz vor dem Höhlen­eingang wuchs dichtes und hohes Gras. Er bereitete sich ein Lager aus Moospolstern und Laub. Dann stieg er noch einmal zum Gipfel empor. Es wurde Nacht. Tief zu seinen Füßen glänzte das phosphoreszierende Band des Flusses.

Vor der Höhle entzündete er ein kleines Feuer, ließ einen trockenen Wurzelkloben glühen und streckte sich auf seinem Lager aus. Er starrte in die Glut. Fledermäuse umflatterten ihn, über ihm stand das Siebengestirn. Er träumte von einem abenteuerlichen Leben, hier in den Bergen, ohne Schule, ohne Maaß. Er träumte vom Sänger und der Prinzessin, von einer verborgenen Felsenhöhle, wo unter Donner und Blitz der erste Kuß das Paar auf ewig zusammenschmelzte. Am Mor­gen wanderte er noch vor Sonnenaufgang in die Stadt zurück.

Die Schwestern Dengelmann setzten Holt, als er am Vor­mittag daheim anlangte, ein Frühstück vor, das ihn mißtrauisch stimmte: Eier, Schinkenbrote, Mohnkuchen. Und das, obwohl sie angeblich nicht wissen, wie sie mich ernähren sollen, dachte er. Schieben die etwa heimlich? Die wollen doch was von mir! Er hatte recht. Unter vielen Versprechungen kam es ans Licht: Holt sollte ab September einen zehnjährigen Jungen zu sich ins Zimmer nehmen, da er ja doch ohnehin bald einrücke... Der Vater, ein Herr Wenzel, habe eine Gastwirtschaft, Hüh­ner und Schweine ...

„Einen zehnjährigen Rotzbengel?“ sagte Holt zu Eulalia, und Veronika schüttelte mißbilligend den Kopf, daß die Loc­kenwickel rasselten. „Können Sie nicht warten, bis ich bei der Flak bin?“ Herr Wenzel schlachte jedes Jahr drei Schweine, erklärte Veronika. Holt warf die Tür hinter sich zu und ging. Im Grunde interessierte ihn das nicht; bis zum 1. September rechnete er fest mit der Einberufung. Er beschloß, baden zu gehen. Das heiße Wetter hielt an.

Er schlenderte über den Marktplatz. Vor dem Cafe blieb er stehen. Er hatte Lust, Billard zu spielen; Billard war große Mode. Aber allein machte es wenig Spaß. Als er weiterging, sah er einen flammend roten Rock, von weitem, auf der gegen­überliegenden Seite des Marktplatzes.

Die Marie Krüger! Sein Herz begann zu klopfen. Wenn ich ganz langsam durch die Lauben am Rathaus geh, überlegte er, treff ich genau an der Talgasse mit ihr zusammen ...

Sie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und beide bogen gleichzeitig in die abschüssige Straße ein, die hinab zum Fluß führte.

„Guten Tag“, sagte er. Sie nickte überrascht und ergriff zögernd seine Hand. „Na?“ sagte er, und noch einmal: „Na?... Gehn Sie auch baden?“ Wie rede ich sie an, Herr­gott?

Er merkte nicht, daß seine Befangenheit sie belustigte; er sah nur, daß sie lächelte, und ihr Lächeln tilgte in ihm alle Furcht. Er ging neben ihr her. Sie fragte: „Sie schwänzen wohl Schule?“

„Ich hatte Scharlach und hab Schonung.“ Er bedauerte, daß ihn seine Klassenkameraden jetzt nicht sehen konnten, an der Seite dieses Mädchens. Ihre Eltern lebten nicht mehr, so hieß es. Sie bewohnte irgendwo ein Zimmer. Sie war siebzehn Jahre alt, schlank, zigeunerhaft, hübsch und schlampig. Die großen dunklen Augen standen ein wenig schräg in dem schmalen Gesicht. Von der rechten Augenbraue zog sich eine halbkreisförmige Narbe über die gebräunte Stirn. Das lockige braune Haar, das immer unordentlich war, raffte sie mit leuch­tend bunten Bändern zusammen, überhaupt bevorzugte sie eine bunte, absonderliche Kleidung, flammend rote Röcke, knallgelbe Mieder, grüne Halstücher. Die Mädchen aus der Oberschule verachteten sie, die Jungen schauten ihr heimlich nach. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, und die Gesell­schaft der Kleinbürger hatte feste Schranken. Es gab keine Industrie am Ort. Die Oberschüler sahen seit je auf die Mittel­schüler herab, und diese wieder dünkten sich besser als die Lehrlinge und Hausmädchen. Der gemeinsame strenge Dienst in HJ und BDM hatte daran nichts geändert. Es gehörte viel Selbstbewußtsein und auch Mut dazu, am hellichten Tag mit Marie Krüger durch die Straßen zu gehen. Auch Holt fand sie etwas anrüchig, denn er war in strengem Kastengeist erzogen, aber die Anziehungskraft, die von ihr ausging, wirkte auf ihn so stark, daß sie alle Bedenken tilgte.

„Sie sind noch nicht lange hier?“ fragte sie freundlich. „Die anderen Oberschüler sind so affig und eingebildet.“

Die haben bloß Schiß, dich anzusprechen, dachte Holt. Er entgegnete: „Am vornehmsten tun die vom Bann, nicht wahr?“ Sie überquerten den Mühlgraben und betraten die Anlagen am Fluß.

Sie sah ihn von der Seite an. „Sind Sie nicht HJ-Führer?“

„Ich? Nein. Ich war Führer beim Jungvolk. Aber ich fall zu sehr auf. Jetzt bin ich Individualist. Die HJ macht mir nicht mehr viel Spaß. Früher, ja. Aber jetzt bin ich viel lieber allein. Nach den Ferien geht's sowieso zur Flak.“

Sie antwortete nicht.

Ein kurzer, toter Flußarm mit dem irreführenden Namen Mühlgraben bildete mit dem Fluß eine Halbinsel, die man Parkinsel nannte; sie zog sich oberhalb der Stadt einige Kilometer weit am rechten Ufer des Flusses hin. Inmitten von Parkanlagen hatte hier der Ruderklub „Wiking“ sein Ver­einshaus, nebenan lagen die Tennisplätze, die Eisbahn und die Badeanstalt. Weiter flußaufwärts endete der Park, und die Halbinsel ging in den „Schwarzbrunn“ über, eine mehrere Quadratkilometer große, unwegsame und wilde Sumpfland­schaft, ein Labyrinth verlandender toter oder mit dem Fluß verbundener Flußarme und schilf gesäumter Tümpel, eine mora­stige Niederung, die vom festen Ufer her nur im Sommer bei niedrigem Wasserstand zugänglich war. Die Badeanstalt war ein großes Gelände mit einer Liegewiese, deren Böschung zum Wasser abfiel, wo das Floß verankert war, das auf leeren Öl­tanks schwamm, mit Bassins für Nichtschwimmer und Sprung­turm. Am Ufer neben der Liegewiese zogen sich mehrere Reihen hölzerner Umkleidekabinen hin, die wegen der jährlichen Hochwasser wie Pfahlbauten auf hohen Balkenfundamenten ruhten.

Holt, der von seiner Mutter ein reichliches Taschengeld be­zog, hatte eine der teuren Jahreskabinen gemietet. Ungeduldig kleidete er sich um, fand das Mädchen am Ufer und setzte sich dort ins Gras. Zu dieser Tageszeit war die Badeanstalt menschenleer. Auf dem Floß im Schatten des Sprungturmes saß nur der alte Bademeister und angelte.

Sie lag lang ausgestreckt im Gras. Sie trug einen roten, zwei­teiligen Badeanzug. Ihr Körper war gleichmäßig braunge­brannt, nur an der Brust, wo sich der Badeanzug ein wenig verschoben hatte, wurde ein Streifen weißer Haut sichtbar. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und hielt die Augen geschlossen. Holt hockte neben ihr. Er betrachtete sie. Der Anblick der schwarzen gekräuselten Haare in den Ach­selhöhlen, der entspannten schlanken Glieder beunruhigte ihn ... Er fand diesen braunen Leib, der sich im Gleichmaß der Atemzüge hob und senkte, seltsam zerbrechlich, er sah lange auf ihr Gesicht, auf ihren Mund, er dachte: Es schaut keiner her... ob sie sich wehrt, wenn ich sie küsse? Mag sie sich wehren ... ich bin viel stärker!

„Wie alt sind Sie?“ fragte sie.

„Siebzehn“, log Holt, und er legte sich neben sie ins Gras. Nun, da er sie nicht mehr sah, fiel ihm das Reden leichter. „Als ich Scharlach hatte“, sagte er, „da hab ich mal von Ihnen geträumt...“ Er hörte sie lachen, das machte ihn unsicher. „Ich geh ins Wasser“, sagte er schnell, „kommen Sie mit?“

„Ich hab keine Badehaube. Ich verderb mir bloß die Haare... Es gibt keine zu kaufen. Ich gab wer weiß was da­für.“

Er dachte nach. „Ich besorg Ihnen eine. Darf ich mir dann was wünschen?“ Sie stützte sich auf die Ellenbogen und blickte zu ihm hin. Er brachte es fertig, ihr in die Augen zu sehen. „Ich bring Ihnen eine Badekappe, und Sie... zum Lohn ... Sie müssen sich von mir küssen lassen ...“

Sie streckte sich wieder aus. Er drängte: „Ja oder nein?“ Sie antwortete: „Nachher sagen Sie: Die läßt sich wegen einer lumpigen Bademütze küssen...“ Er stand auf. „Da will ich verdammt sein, wenn ich so was auch nur denk! Ohne Bade­haube lassen Sie sich doch erst recht nicht...“ – „Fort!“ rief sie lachend. „Los, geh ins Wasser, du!“ Er lief die Böschung hinab, es war eine Flucht vor ihrem Du, vor ihrem unausge­sprochenen Ja. Die Planken des Floßes dröhnten, er sprang aus dem Anlauf kopfüber in den Fluß. Als er auftauchte, sah er sie im Gras sitzen, und als er den Arm aus dem Wasser hob, winkte sie.

Er schwamm zum anderen Ufer, kletterte auf den Damm und schaute noch einmal zurück. Das Mädchen war verschwun­den. Er ging über die Wiesen zu einem dichten Weidenge­büsch, dem vereinbarten Treffpunkt mit Wolzow.

Er warf sich auf den weichen Boden und blickte in den wolkenlosen Sommerhimmel.

 

Er erwachte, als Wolzows greller Pfiff vom Ufer herwehte. Wolzow setzte sich zu Holt. Er hatte in seinem Paddelboot Zigaretten und Streichhölzer mitgebracht. Holt fragte: „Was gibt's Neues in der Penne?“ – „Maaß hat die Lateinarbeit zurückgegeben. Hab eine glatte Fünf. Ich bleib wahrscheinlich sitzen.“ – „Wäre dir das gleichgültig?“ Wolzow hob die Schultern. „Sitzenbleiben oder nicht, darauf kommt's doch gar nicht mehr an... Wir rücken bald ein. Später werd ich mal im Ostraum siedeln, in der Ukraine oder so. Als Offizier unter Wehrbauern brauch ich kein Latein.“ Stimmt, dachte Holt. Beim Militär fragt kein Mensch mehr nach Zeugnis­sen... „Was Neues von der Flak?“ – „Nein... Aber der Reichsjugendführer hat zum Ernteeinsatz aufgerufen.“ – „Das paßt mir gar nicht“, sagte Holt mürrisch. „Die solln uns in Ruh lassen. Wenn wir bloß bald zur Flak kämen! Ich will mich endlich richtig einsetzen. Ich hab eine wahnsinnige Wut auf diese Luftpiraten.“

Wolzow blinzelte faul in die Sonne. „Der Krieg geht ja erst richtig los“, sagte er. „Ich hab keine Angst mehr, daß wir zu spät kommen. Weißt du schon, daß die Amerikaner auf Sizi­lien gelandet sind?“ Holt war überrascht. „Nein... Ich hab ewig keinen Wehrmachtsbericht gehört.“ – „Jedenfalls ist das ein Fortschritt“, behauptete Wolzow. „Wie willst du den Geg­ner schlagen, wenn er sich nicht zum Kampf stellt? Wenn ich Feldherr war, ich würde Entscheidungsschlachten suchen, wenn es die Lage nur einigermaßen erlaubt. Weißt du, wer mein Ideal ist? Ich hab neulich von Marius gelesen. Mensch, das war ein Kerl!“ Er richtete sich auf. „Wir können uns, glaub ich, ab August freiwillig melden. Kommst du mit zu den Schnellen Truppen? Panzer sind die tollste Waffe.“ – „Ich komm mit“, sagte Holt. „Panzer ist gut. Ich stell mir das herrlich vor, wenn man ins Feuer reinbraust, und rings­um trommeln die Granaten, und dann das Duell Panzer gegen Panzer... Du hast recht! Es gibt kein Abenteuer, nur den Krieg. Früher gab's Seeräuber, Banditen wie Karl Moor, die für Gerechtigkeit ihr Leben gaben.“

Eine Stunde lang lagen sie in der Sonne. „Das schönste ist natürlich Truppenführung“, begann Wolzow von neuem. „Da stehst du am Kartentisch, die Mütze auf dem Kopf, und klopfst ganz lässig mit dem Rotstift auf die Karte. Hier ... ein Stoß wird so angesetzt, und einer so... Dann gibst du Befehle. Dein Wort entscheidet die Schlacht.“

In der Badeanstalt herrschte Hochbetrieb. Die Marie Krü­ger, von ein paar Männern umgeben, saß auf der Wiese; Holt sah es von weitem mit einem brennenden Gefühl der Eifer­sucht. Sie banden das Boot fest und kletterten auf das Floß, von jüngeren Schülern respektvoll gegrüßt. Beim Sprungturm hatte sich ein Kreis von Jungen und Mädchen versammelt. Holt hörte die helle, freche Stimme Zemtzkis. Rutscher stot­terte ihnen ein „Aa-ave Cäsar!“ entgegen. Sie waren alle bei­sammen, Wiese, Vetter, Gomulka, auch Nadler mit ein paar seiner Untergebenen, Schenke, Hampel, Kieback und wie sie alle hießen ... Dazu ein paar Mädchen: Rutschers Schwester Ilse, die schlanke Doris Wilke, „Putzi“ genannt, und Friedel Küchler, die strohblonde Mädelgruppenführerin, Tochter des Landrats. Sie rief: „Heil Hitler!“ Holt setzte sich auf die Planken und beobachtete die Mädchen. Doris Wilke errötete bei Wolzows Anblick, sie war in den großen, finsteren Bur­schen verliebt, aber Wolzow merkte es nicht oder wollte es nicht merken. Es ging in Gegenwart der Mädchen recht förm­lich zu. Nur Wolzow benahm sich nicht anders als sonst. „Ihr Mädel werdet immer zackiger, zum Piepen ist das“, sagte er zu Friedel Küchler, während er sich niedersetzte. „Ich seh euch noch als richtige Mannweiber.“ – „Solche Flintenwei­ber“, sagte Vetter, „haste die neulich in der Wochenschau gesehn?“ Friedel Küchler wies Wolzow zurecht: „Das ist ganz falsch!“ Sie konnte wohltönend reden, sie hatte sogar schon einmal bei einer Morgenfeier der Hitler-Jugend im Rundfunk gesprochen. „Sieh dir mal ,Glaube und Schönheit' an, ihr gemessenes Schreiten hinter den Wimpeln, oder den heroisch ernsten Aufmarsch zu Spiel und Tanz ... Niemand wird aus dem lebensfrohen Getümmel eine Vermännlichung fürchten ... Unsere Mädel werden biologisch bessere und sitt­lich keine schlechteren Mütter sein als die Mütter früherer Generationen.“ – „Alles Quatsch“, sagte Wolzow ungerührt. „Du redest doch immer von den Germanen! Bei den Germa­nen hatten die Weiber das Maul zu halten und Kinder zu kriegen!“

Holt fühlte sich nicht recht wohl in diesem Kreis. Er fand diese gleichaltrigen Mädchen, Schülerinnen der Mädchenober­schule, albern, so hübsch sie anzusehen waren in ihren knap­pen Badeanzügen. Jemand sprach ihn an. „Wir hörten gerade deinen berühmten Schachtelsatz.“ Peter Wiese hatte den Satz rekonstruiert und aufgeschrieben. „Der Maaß“, sagte Go­mulka, „verwindet das nie! Er hat keine Freude mehr an Schachtelsätzen!“ – „Dafür ist er noch gemeiner geworden“, schimpfte Vetter, der dick und rosig auf den Brettern saß. „Zu mir hat er gestern gesagt: ,Woher stammt eigentlich Ihre Blödheit? Vom Vater nicht, den kenne ich, wahrscheinlich ha­ben Sie eine saudumme Mutter!' Muß ich mir so was gefallen lassen?“ – „Ei, seht doch mal, wer da kommt!“ piepste Zemtzki.

Alle wandten die Köpfe, über das Floß ging Marie Krüger, mit wildem Haar, am Sprungturm vorbei. Zemtzki sagte, so daß sie es hören mußte: „Die ist eine stadtbekannte ...“ – „Halt den Mund!“ rief Holt. Zemtzki verstummte.

Das Mädchen war an der Treppe stehengeblieben und sah zu ihm hin, dann ging sie rasch davon. Friedel Küchler sagte spitz: „Die nimmst du in Schutz? Bist du etwa in die ver­liebt?“ Holt war turmhoch überlegen. Er stand auf. „Komm, Gilbert... Mir gefällt's nicht mehr. Die dumme Pute will stänkern.“

Sie gingen über die Treppe ans Ufer.

Die Wolzowsche Villa lag über den alten, baufälligen Fach­werkhäusern auf einem Hügel. Ein großer, verwilderter Garten umgab das Haus; von der Mauer blickte man auf die roten Schindeldächer und in die engen Gassen der Altstadt hinab.

Das Haus war verwahrlost. In der dunklen Halle hingen ein paar verstaubte Ahnenbilder an den Wänden. In dem offenen Kamin häufte sich Unrat und Asche. Die Fenster, seit langem nicht mehr geputzt, ließen trübes Licht in den großen Raum. Eine Treppe mit geschnitztem Geländer führte in das Ober­geschoß. Hier bewohnte Frau Wolzow mit ihrem Sohn ein paar Zimmer. Das Erdgeschoß blieb leer und verfiel.

Wolzows Zimmer glich einer Rumpelkammer. An den Wänden hingen Armbrüste, exotische Waffen, Bogen und ge­fiederte Pfeile, indianische Streitäxte, Blasrohre und ein Paar altertümliche Duellpistolen. Vor dem Fenster stand ein großer Eichentisch, von Retorten und Flaschen, Gläsern und verroste­ten Büchsen bedeckt. Ein Totenschädel lag herum, aus dem Beinhaus des Kirchhofs gestohlen, ein ramponiertes, ausge­stopftes Rebhuhn, das als Zielscheibe diente, Papiere und Bücher. Auf einem Haufen Unrat in der Ecke lagen obenauf zwei Schläger, ein krummer Türkensäbel, ein Tellereisen und ein verschmutzter Schaftstiefel. Eine Fechtmaske und aller­hand Kleidungsstücke waren auf dem Boden verstreut, und das eiserne Feldbett bedeckte ein zottiges braunes Bärenfell.

Holt saß auf dem Fell, die Füße auf einen herangeschobenen Stuhl gelegt. Er fühlte sich wohl hier. Wolzow experimen­tierte an dem großen Eichentisch; unter einer Retorte brannte eine Spiritusflamme. Draußen sank die Dämmerung. „Wenn das klappt mit der Salpetersäure, dann mach ich Dynamit.“ – „Was willst du mit Dynamit?“ – „Bomben bauen, richtige Bomben, nicht solche Knalldinger aus Schwarzpulver!“

Was will er mit Bomben? dachte Holt... Dem Maaß eine unters Katheder legen? Er lachte. Aus der Retorte stiegen beizende Dämpfe. Wolzow öffnete das Fenster. Das Geläut der Kirchenglocken erfüllte den Raum... Wolzow baut Bom­ben, und die Glocken läuten dazu!

„Stell dir vor“, sagte Wolzow, „du legst eine Dynamit­bombe an die Penne, Mensch, da bleibt kein Stein auf dem anderen!“ Es war eine Vorstellung, die ihn begeisterte. „Dem Maaß eine Bombe an den Arsch binden ...“

Holt rauchte und sah sich die Bücher an, die herumlagen, kriegswissenschaftliche und -geschichtliche Werke, Verdy du Vernois: „Studien über Truppenführung“, Rüstow: „Geschichte der Infanterie“, Prinz Kraft zu Hohenlohe: „Militä­rische Briefe über Artillerie“, und nun sah Holt auch das dicke Taschenbuch liegen. Er nahm den flexiblen Lederband zur Hand und studierte den Titel: „Lutz von Wulfingen, General­leutnant und Lehrer an der Königlich Preußischen Kriegs­akademie, ,Taschenbuch der Kriegsgeschichte in Stichworten mit strategischen und taktischen Anmerkungen und einem chronologischen Verzeichnis aller Schlachten, Gefechte und Scharmützel der Weltgeschichte samt der daran beteiligten Truppen und ihrer Führer', mit 212 Skizzen versehen und völlig neu bearbeitet von Otto Graf Ottern zu Ottbach, Major a.D., zweite Auflage 1911.“ Holt durchblätterte die dünnen Seiten, „Taginae“ war rot unterstrichen, „Stümperei Totilas, Narses ganz groß“ stand am Rand; und hier bei „Miltiades bei Marathon“ las Holt von Wolzows Hand: „Eine Cannae vor Cannae?“


Date: 2015-12-24; view: 1500


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