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Einer stottert, einer sieht schlecht und einer lügt

 

Ich habe mich angezogen und gesagt, dass ich zur Chorprobe gehen muss. Fürs Weihnachtssingen. Jetzt schon?", hat die Mama gefragt. Ja", habe ich gesagt, „weil alle so falsch singen. Da müssen wir lang üben!"

Das stimmt sogar. Der Chor übt wirklich schon für das Weihnachtssingen. Bloß singe ich nicht im Chor mit. Ich wollte einfach mit jemandem reden, dem ich die Wahrheit sagen konnte. Außerdem war ich ohnehin schon viel zu lange nicht mehr bei der Oma gewesen.

Die Oma war nicht daheim. Ich hörte den Opa hinter der Tür herumgehen und murmeln. Er redet oft mit sich selber. Ich klopfte laut an die Tür. Der Opa ist schwerhörig. Der Opa hat nicht einmal das laute Klopfen gehört. Ich setzte mich auf das Fensterbrett vom Gangfenster und schaute in den Hof hinaus. Dort haben die Ilse und ich früher immer gespielt. Die Ilse hat meistens Prinzessin gespielt. Mit einem alten Vorhang als Schleppe. Die Schleppe habe ich getragen. Leider war kein Prinz für die Ilse da. Mir wurde kalt. Es zog durch das Gangfenster. Eine Scheibe war kaputt. Ich beschloss, die Oma zu suchen. Die geht nie weit weg. Ich ging zur Milchfrau. Dort war sie nicht. Aber die Milchfrau freute sich, mich zu sehen. „Schau zum Fleischer", riet sie mir. Ich ging die Straße zum Fleischer hinunter. An der Ecke kam mir die Oma entgegen. „Hat dir der Opa nicht aufgemacht?", fragte sie mich. Und dann erzählte sie mir, dass der Opa jetzt noch schlechter hört. Aber seit drei Tagen, sagte sie zufrieden, hat er nicht mehr komisch geredet, sondern sehr vernünftig. „Weißt du, dass die Ilse weg ist?", fragte ich die Oma. Sie nickte.

„Wer hat es dir denn gesagt?", fragte ich. „Der neue Mann von eurer Mutter war bei mir", sagte die Oma. „Dieser Kurt. Eigentlich ein netter Mensch. Und er hat mir versprochen, dass er gleich zu mir kommt und es mir sagt, wenn sie wieder da ist!"

Ich war froh, bei der Oma zu sein. Bei der Oma war alles einfacher. Jetzt war ich auch fast sicher, dass die Ilse bald wiederkommen würde.

„Wie es ihr nur gehen mag?", murmelte die Oma. „Hoffentlich geht es ihr gut!" Sie schloss die Wohnungstür auf. Die Oma war die Einzige, die gefragt hatte, wie es der Ilse wohl ging. Die Einzige, die sich gewünscht hatte, dass es der Ilse gut ging.

Der Opa saß in der Küche und reparierte den Stecker der Nachttischlampe. Er erkannte mich und die Oma freute sich darüber. Er wusste auch, dass die Ilse "weg war. Aber es interessierte ihn nicht sehr. Er redete dauernd von den Klemmen im Stecker, die verbrannt waren. Die Oma ging mit mir ins Zimmer. Ich erzählte ihr alles, was ich wusste. Und als ich dann sagte: „Ich verstehe nicht, warum sie mich angelogen hat", sagte die Oma: „Aber Erika, sie lügt doch immer!"

Ich war ganz verwirrt. Nicht nur deswegen, weil die Ilse angeblich immer log und ich es nicht wusste, sondern weil die Oma das so freundlich sagte. So, als ob Lügen etwas ganz Selbstverständliches wäre.



„Schau nicht so!", sagte die Oma. „Das ist nicht so furchtbar. Einer stottert, einer sieht schlecht und der Dritte lügt eben!" Die Oma lächelte. „Mein Gott, was hat die Ilse nicht alles zusammengelogen!" „Was denn?", fragte ich. Die Oma dachte nach. Dann sagte sie: „In der Volksschule hat sie der Lehrerin erzählt, dass sie in einem Haus mit zehn Zimmern wohnt und dass ihr Vater einen Eissalon hat. Und mir hat sie erzählt, dass sie statt der alten, grantigen Lehrerin eine junge, ganz liebe bekommen hat. Und der Nachbarin hat sie erzählt, dass ihre Mama einen Zirkusdirektor heiraten wird." Die Oma kicherte.

„Und von einem Schulfreund hat sie mir erzählt. Von einem großen Blonden. Der hat ein elektrisches Kinderauto gehabt. Und war der Beste in der Klasse. Rainer hat der geheißen." Die Oma horte zu kichern auf und schaute ein bisschen traurig. „Aber den Rainer hat es gar nicht gegeben. In der Klasse war überhaupt kein großer Blonder. Und der Klassenbeste war ein kleiner Dicker, der die Ilse immer geärgert hat!"

Ich fragte die Oma: „Hast du ihr nie gesagt, dass sie lügt?" Die Oma schüttelte den Kopf. „Aber geh", sagte sie, „das mag doch niemand, wenn man ihm das sagt! Und warum sie gelogen hat, habe ich doch gewusst!" Die Oma fasste sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger an die dicke Nase und rieb sich den Nasenrücken. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. „Sie hat eben erzählt, wie sie es gern hätte!“

Ich fragte: „Und wieso hat die Mama nicht gemerkt, dass die Ilse lügt?" Meine Mama mag nämlich Lügen nicht. Meine Mama hätte die Lügen der Ilse nie so hingenommen wie die Oma.

Die Oma zögerte. „Also deine Mama", murmelte sie, „deine Mama!" Sie seufzte, rieb wieder an der Nase herum und sagte: Jedenfalls muss man sich um einen Menschen kümmern, damit man merkt, dass er lügt."

Die Oma meinte also, dass sich die Mama nie um die Ilse gekümmert hat. Ich hatte das Gefühl, die Mama verteidigen zu müssen, doch mir fiel nichts dazu ein. Absolut nichts! „Wenn die Ilse weiter bei mir gewohnt hätte", sagte die Oma, „wäre sie nicht weggelaufen. Und wenn sie weggelaufen wäre, dann hätte ich gewusst, wo ich sie suchen muss!"

 

P e n s u m 6

 


Date: 2015-12-24; view: 1281


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