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Ein Meerschweinchen, eine ekelhafte Schwester und Ohrfeigen.

 

Vielleicht war es der Wolfgang, der ihr das Meerschweinchen geschenkt hat? Das war vor ungefähr zwei Jahren. Im Winter. Die Ilse kam vom Nachmittagsturnen heim. Sie hatte einen Karton in den Händen. Die Mama war in der Diele und telefonierte. Neugierig schaute sie dabei auf die Ilse und den Karton. Die Ilse stand bei der Garderobe, presste den Karton an den Bauch und zog den Mantel nicht aus. Die Mama hörte zu telefonieren auf und fragte: „Was hast du denn da?"

Die Ilse gab keine Antwort. Die Mama ging zur Ilse und schaute in den Karton. „Bist du verrückt?", rief sie, „woher hast du denn das Vieh?" Die Ilse starrte die Mama an und gab keine Antwort. Dann kam der Kurt aus dem Wohnzimmer und der Oliver und die Tatjana kamen aus dem Kinderzimmer. Die Tatjana war damals noch sehr klein. Sie wollte in den Karton hineinschauen. Sie zog am Mantel der Ilse und brüllte: „Schauen, schauen, schauen!" Die Ilse ließ sie nicht schauen.

Ich wollte das Meerschweinchen aus dem Karton holen und streicheln. Die Ilse machte einen kleinen Schritt weg von mir. Ich merkte, dass sie auch mich an das Meerschweinchen nicht heranlassen wollte. „Trag das Vieh sofort zurück", kreischte die Mama. „Wir könnten es doch probeweise ein paar Tage behalten", sagte der Kurt leise zur Mama. Der Oliver und die Tatjana hatten es gehört.

„Ja, behalten“, schrien sie. „Schweindl behalten." Die Mama schaute den Kurt zuerst böse an, dann seufzte sie und sagte: „Na bitte, wenn du meinst" und ging in die Küche.

Der Kurt rannte hinter ihr her. Es sei doch nur ein Vorschlag gewesen, sagte er. Man könnte das Vieh doch noch immer zurücktragen! Die Mama schimpfte: „Probeweise! So ein Blödsinn! Wenn das Vieh im Haus ist, geben sie es doch nicht mehr her!" Und dann sagte sie: „Und wer wird den Dreck putzen? Und das Futter holen? Ich!"

Damit hatte die Mama nicht Recht. Die Ilse kümmerte sich um das Meerschweinchen. Jeden Tag mistete sie den Stall aus. Stundenlang hatte sie das Vieh auf dem Schoß und streichelte es.

Ich war die Einzige außer ihr, die das Meerschweinchen berühren durfte. Dem Oliver und der Tatjana hat es die Ilse nicht erlaubt. Wenn die Ilse weggegangen ist, hat sie den Meerschweinchenstall auf unseren Schrank hinaufgestellt. Und wenn sie daheim war und, der Oliver und die Tatjana zu uns ins Zimmer kamen und mit dem Meerschweinchen spielen wollten, hat die Ilse gefaucht: „Dalli, dalli, verschwindet!" Aber ich bin mir ganz sicher, dass die Mama am Vormittag, wenn wir in der Schule waren, das Meerschweinchen vom Schrank heruntergeholt hat. Im Zimmer von der Tatjana und vom Oliver fand ich ein paarmal Sägemehl auf dem Boden und einmal ein angenagtes Karottenstück.

Das Meerschweinchen war schon über ein Jahr im Haus, da geschah es: Die Ilse war im Bad. Ich trocknete in der Küche Geschirr. Die Tür zu unserem Zimmer war offen. Der Meerschweinchenstall stand auf dem Schreibtisch von der Ilse. Die Tatjana lief in unser Zimmer. Sie kletterte auf den Sessel und von dem Sessel auf den Tisch. Sie nahm das Meerschweinchen aus dem Stall. Wahrscheinlich hat sie zu fest zugepackt. Oder an der falschen Stelle. Jedenfalls hat sich das Meerschweinchen bedroht gefühlt. Zuerst hat es laut gequietscht. Und dann hat die Tatjana gebrüllt. Wie am Spieß! Das Meerschweinchen hatte sie in den Finger gebissen. Der Finger blutete.



Die Ilse hörte den Meerschweinchenquietscher und kam aus dem Badezimmer gelaufen. Mit viel Schaum auf dem Kopf. Die Mama hörte das Gebrüll der Tatjana und kam aus dem Wohnzimmer gelaufen. Und ich aus der Küche hinterher!

Die Tatjana stand auf dem Tisch und hielt den blutenden Finger hoch. Das Meerschweinchen lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Aus seiner Nase lief Blut. Viel mehr Blut als aus Tatjanas Finger. Ilse hob das Meerschweinchen auf. Es war tot. Es musste mit dem Kopf gegen die Türklinke geflogen sein, als Tatjana es vor Schreck weggeschleudert hatte. Ilse ging mit dem toten Meerschweinchen zu ihrem Bett. Sie legte es auf die Bettdecke. Die Mama hob Tatjana vom Tisch, setzte sich mit ihr auf den Schreibtischsessel, blies auf den blutenden Finger und murmelte: „Es ist ja nicht schlimm, es tut ja nicht weh, es hört ja gleich auf!"

Die Ilse sprang plötzlich auf die Mama zu. Sie riss die Tatjana von ihrem Schoß und brüllte: „Ich bring dich um!" Es war fürchterlich! Die Tatjana hat entsetzlich geplärrt. An einem Arm von ihr hat die Ilse gezogen, am anderen Arm die Mama. „Lass das Kind los", hat die Mama gekeucht. „Nein, ich bring sie um!", hat die Ilse gefaucht. Dann hat die Mama auf die Ilse eingeschlagen. Die Ilse hat sich gewehrt. Sie hat getreten. Gegen die Schienbeine der Mama. Der Tatjana ist es gelungen, sich von der Ilse loszureißen. Sie ist aus dem Zimmer gelaufen. Die Mama hat weiter auf die Ilse eingeschlagen. Dabei hat sie gekreischt: „Du bist ja wahnsinnig geworden! Du hast ja komplett den Verstand verloren." Sie hat die Ilse auch an den Haaren gerissen. Zum Schluss hat sie die Ilse auf das Bett gestoßen. Auf das tote Meerschweinchen drauf. Dann ist sie aus dem Zimmer gegangen. Ihre Hände haben gezittert und sie hat geschnauft wie eine Herzkranke. Die Ilse ist eine Stunde auf ihrem Bett gelegen. Mit dem schaumigen Kopf auf dem toten, blutigen Meerschweinchen. Nach einer Stunde ist sie aufgestanden. Sie hat einen Bogen Packpapier aus einer Lade geholt. Sie hat das Meerschweinchen in das Packpapier gewickelt. Sie hat mir die Rolle in die Hand gedrückt und gesagt: „Trag sie runter in den Mülleimer!" „Wir könnten es beim Großvater im Garten eingraben", habe ich vorgeschlagen. Die Ilse hat den Kopf geschüttelt. So nahm ich die Packpa­pierrolle und trug sie in den Keller hinunter und warf das tote Meerschweinchen in den Abfall. Am Abend kam dann der Kurt zu uns ins Zimmer. Er fragte, ob er der Ilse ein neues Meerschweinchen kaufen dürfe. „Kauf deinen eigenen Kindern eines", fauchte ihn die Ilse an. Der Kurt sah recht hilflos aus. Zweimal machte er den Mund auf und klappte ihn dann wieder zu. Er wollte etwas sagen. Doch dann ließ er es bleiben und ging aus dem Zimmer. Ich fand das ungerecht von der Ilse. Ich sagte: „Der Kurt kann doch nichts dafür!“ „Aber seine Kinder“, sagte die Ilse.

Ich sagte, dass das nicht nur die Kinder vom Kurt, sondern auch die Kinder von der Mama sind, und dass sie unsere Geschwister sind. Die Ilse rief: „Nein! Die sind genauso wenig meine Geschwister, wie die Kinder vom Papa meine Geschwister sind! Oder sind diese zwei Halbaffen vielleicht auch deine Geschwister?"

Ich schüttelte den Kopf. Die Halbaffen, die neuen Kinder vom Papa, kann ich auch nicht leiden. „Na eben", sagte die Ilse. Ich sagte nichts mehr. Mir tat die Ilse Leid. Es ist wohl wirklich zu viel verlangt, wenn man den Mörder seines geliebten Meerschweinchens gern haben soll.

 

P e n s u m 3

 


Date: 2015-12-24; view: 1292


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