Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






SALON LOISITSCHEK«. 8 page

Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschütteln konnte, – fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem Kanalgitter ein unheimliches Geräusch gehört zu haben geglaubt, hatten wir den Burschen beim »Loisitschek« gesehen. Allerdings lag kein Anlaß vor, den Schrei unter der Erde, der überdies geradesogut eine Sinnestäuschung gewesen sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. – – –

Das Schneegestöber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an, alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht entworfen hatte, mußte sich vortrefflich auf den bläulich leuchtenden Mondstein da übertragen lassen. – Ich freute mich: es war ein angenehmer Zufall, daß sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das richtige Licht und die Konturen paßten so genau, als habe ihn die Natur eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu werden.

Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die den ägyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender Deutlichkeit ins Gedächtnis zurückrufen konnte, regte mich künstlerisch stark an, aber allmählich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine solche Ähnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daß ich meinen Plan umstieß. – – –

– Das Buch Ibbur! –

Erschüttert legte ich den Stahlgriffel weg. Unfaßbar, was in der kurzen Spanne Zeit in mein Leben getreten war!

Wie jemand, der sich plötzlich in eine unabsehbare Sandwüste versetzt sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroßen Einsamkeit bewußt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.

Konnte ich je mit einem Freund – Hillel ausgenommen – davon reden, was ich erlebt?

Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen Nächte die Erinnerung wiedergekehrt, daß mich all meine Jugendjahre – von früher Kindheit angefangen – ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte, aber die Erfüllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und erdrückte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.

Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart empfinden mußte.

Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den Genuß auskosten: Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!

Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinüber zu gehen in mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das Geschenk der Unsichtbaren, lag!



Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berührt, als ich Angelinas Briefe dazuschloß!

Dumpfes Dröhnen draußen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehäuften Schneemassen von den Dächern hinab vor die Häuser warf, gefolgt von Pausen tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.

Ich wollte weiterarbeiten, – da plötzlich stahlscharfe Hufschläge unten die Gasse entlang, daß man's förmlich Funken sprühen sah.

Das Fenster zu öffnen und hinauszuschauen, war unmöglich: Muskeln aus Eis verbanden seine Ränder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur Hälfte weiß verweht. Ich sah nur, daß Charousek scheinbar ganz friedlich neben dem Trödler Wassertrum stand – sie mußten soeben ein Gespräch mitsammen geführt haben – sah, wie die Verblüffung, die sich in ihrer beider Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken entzogen war, anstarrten.

Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. – Sie selbst konnte es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren – in der Hahnpaßgasse! – vor aller Leute Augen! Es wäre hellichter Wahnsinn gewesen. – Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wäre und mich auf den Kopf zu fragte?

Leugnen, natürlich leugnen.

Hastig legte ich mir die Möglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, – von Wassertrum – daß sie hier gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht: wahrscheinlich, daß sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. – – – Da! wütendes Klopfen an meiner Tür und – Angelina stand vor mir.

Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war aus.

Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich brachte es nicht fertig, zu glauben, daß das Gefühl, ihr helfen zu können, mich belogen haben sollte.

Ich führte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und sie verbarg, todmüde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.

Wir hörten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie der rote Schein über die Dielen huschte, aufflammte und erlosch – aufflammte und erlosch – aufflammte und erlosch – – –

»Wo ist das Herz aus rotem Stein – – –« klang es in meinem Innern. Ich fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?

Und ich forschte sie aus, – vorsichtig, leise, ganz leise, daß sie nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berühre.

Bruchstückweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es mir zusammen wie ein Mosaik:

»Ihr Gatte weiß – –?«

»Nein, noch nicht; er ist verreist.«

Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; – Charousek hatte es richtig erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.

Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.

Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?

Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daß – – daß – er wollte, daß sich Dr. Savioli – – ein Leid antue.

Sie kenne jetzt auch die Gründe von Wassertrums wildem besinnungslosem Haß: »Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod getrieben.«

Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen, dem Trödler alles verraten: daß Charousek den Schlag geführt hatte – aus dem Hinterhalt – und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war – – –. »Verrat! Verrat!« heulte es mir ins Hirn, »du willst also den armen schwindsüchtigen Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken preisgeben?« – Und es zerriß mich in blutende Hälften. – Dann sprach ein Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: »Narr! Du hast es doch in der Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu laufen und sie dem Trödler durch die Gurgel zu jagen, daß die Spitze hinten zum Genick herausschaut.«

Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.

Ich forschte weiter:

»Und Dr. Savioli?«

Kein Zweifel, daß er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht rettete. Die Krankenschwestern ließen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn mit Morphium betäubt, aber vielleicht erwacht er plötzlich – vielleicht gerade jetzt – und – und – nein, nein, sie müsse fort, dürfe keine Sekunde Zeit mehr versäumen, – sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles eingestehen, – solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn sie hätte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er besäße und mit der er drohe.

Sie wolle das Geheimnis selbst enthüllen, ehe er es verraten könne.

»Das werden Sie nicht tun, Angelina!« schrie ich und dachte an die Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude über meine Macht.

Angelina wollte sich losreißen: ich hielt sie fest.

»Nur noch eins: Überlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trödler so ohne weiteres glauben?«

»Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht auch ein Bild von mir, – alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier versteckt war.«

Briefe? Bild? Schreibtisch? – ich wußte nicht mehr, was ich tat: ich riß Angelina an meine Brust und küßte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf die Augen.

Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.

Dann hielt ich sie an ihren schmalen Händen und erzählte ihr mit fliegenden Worten, daß der Todfeind Wassertrums – ein armer böhmischer Student – die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hätte und sie in meinem Besitz seien und fest verwahrt.

Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. Küßte mich. Rannte zur Tür. Kehrte wieder um und küßte mich wieder.

Dann war sie verschwunden.

Ich stand wie betäubt und fühlte noch immer den Atem ihres Mundes an meinem Gesicht.

Ich hörte wie die Wagenräder über das Pflaster donnerten und den rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute später war alles still. Wie ein Grab.

Auch in mir.

Plötzlich knarrte die Tür leise hinter mir, und Charousek stand im Zimmer:

»Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie schienen es nicht zu hören.«

Ich nickte nur stumm.

»Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daß ich mich mit Wassertrum versöhnt habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?« – Charouseks hohnisches Lächeln sagte mir, daß er nur einen grimmigen Spaß machte. – »Sie müssen nämlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fängt an, mich in ihr Herz zu schließen, Meister Pernath. – – Es ist eine seltsame Sache, das mit der Stimme des Blutes«, setzte er leise – halb für sich – hinzu.

Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hätte etwas überhört. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.

»Er wollte mir einen Mantel schenken«, fuhr Charousek laut fort. »Ich habe natürlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug. – Und dann hat er mir Geld aufgedrängt.«

»Sie haben es angenommen?!«, wollte es mir herausfahren, aber ich hielt noch rasch meine Zunge im Zaum.

Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:

»Das Geld habe ich selbstverständlich angenommen.«

Mir wurde ganz wirr im Kopf!

»– an – genommen?«, stammelte ich.

»Ich hätte nie gedacht, daß man auf Erden eine so reine Freude empfinden kann!« – Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine Fratze. – »Ist es nicht ein erhebendes Gefühl, im Haushalt der Natur ›Mütterchens Vorsehung‹ ökonomischen Finger allenthalben in Weisheit und Umsicht walten zu sehen!?« – Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei mit dem Geld in seiner Tasche, – »wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzuführen.«

War er betrunken? Oder wahnsinnig?

Charousek änderte plötzlich den Ton:

»Es liegt eine satanische Komik darin, daß Wassertrum sich die – Arznei selber bezahlt. Finden Sie nicht?«

Eine Ahnung dämmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg, und mir graute vor seinen fiebernden Augen.

»Übrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die laufenden Geschäfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch? Was ist ihr denn eingefallen, hier öffentlich vorzufahren?«

Ich erzählte Charousek, was geschehen war.

»Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den Händen«, unterbrach er mich freudig, »sonst hätte er nicht heute morgen abermals das Atelier durchsucht. – Merkwürdig, daß Sie ihn nicht gehört haben!? Eine volle Stunde lang war er drüben.«

Ich staunte, woher er alles so genau wissen könne, und sagte es ihm.

»Darf ich?« – als Erklärung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch, zündete sie an und erläuterte: »Sehen Sie, wenn Sie jetzt die Tür öffnen, bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum genau kennt, und für alle Fälle hat er in der Straßenmauer des Ateliers – das Haus gehört ihm, wie Sie wissen – eine kleine, versteckte, offene Nische anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes Fähnchen. Wenn nun jemand das Zimmer betritt oder verläßt, das heißt: die Zugtür öffnet, so merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des Fähnchens. Allerdings weiß ich es ebenfalls,« setzte Charousek trocken hinzu, »wenn's mir drum zu tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-à-vis, in dem zu hausen ein gnädiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. – Der niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des würdigen Patriarchen, aber auch mir seit Jahren geläufig.«

»Was für einen übermenschlichen Haß Sie gegen ihn haben müssen, daß Sie so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie sagen!« warf ich ein.

»Haß?« Charousek lächelte krampfhaft. »Haß? – Haß ist kein Ausdruck. Das Wort, das meine Gefühle gegen ihn bezeichnen könnte, muß erst geschaffen werden. – Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut. Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen fließt, – und« – er biß die Zähne zusammen – »das kommt ›zuweilen‹ vor hier im Getto.« Unfähig weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. – Ich hörte wie er sein Keuchen unterdrückte. Wir schwiegen beide eine Weile.

»Hallo, was ist denn das?« fuhr er plötzlich auf und winkte mir hastig: »Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?«

Wir spähten vorsichtig hinter den Vorhängen hinunter:

Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trödlerladens und bot, soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an. Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine Höhle zurück.

Gleich darauf stürzte er wieder hervor – totenblaß – und packte Jaromir an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. – Mit einem Mal ließ Wassertrum los und schien zu überlegen. Nagte wütend an seiner gespaltenen Oberlippe. Warf einen grübelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am Arm friedlich in seinen Laden.

Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig werden zu können mit ihrem Handel.

Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und ging seines Weges.

»Was halten Sie davon?«, fragte ich. »Es scheint nichts Wichtiges zu sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand versilbert.«

Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den Tisch.

Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:

»Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. – Unterbrechen Sie mich, Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst nachher wie Ernüchterung. Ein Mensch mit Schamgefühl soll in kühlen Worten reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder – oder ein Dichter. – Seit die Welt steht, wär's niemand eingefallen, vor Leid die ›Hände zu ringen‹, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders ›plastisch‹ ausgetüftelt hätten.«

Ich begriff, daß er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich Ruhe zu bekommen.

Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervös lief er im Zimmer auf und ab, faßte alle möglichen Gegenstände an und stellte sie zerstreut zurück an ihren Platz.

Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:

»Aus den kleinsten unwillkürlichen Bewegungen eines Menschen verrät sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die ›ihm‹ ähnlich sehen und als seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme – man kann mich nicht täuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daß Dr. Wassory sein Sohn ist, aber ich habe es – ich möchte sagen – gerochen.

Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen Beziehungen Wassertrum zu mir steht,« – sein Blick ruhte eine Sekunde forschend auf mir, – »besaß ich diese Gabe. Man hat mich mit Füßen getreten, mich geschlagen, daß es wohl keine Stelle an meinem Körper gibt, die nicht wüßte, was rasender Schmerz ist, – hat mich hungern und dursten lassen, bis ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht. Es war kein Platz mehr in mir für Haß. – Verstehen Sie? Und doch war mein ganzes Wesen getränkt damit.

Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan – ich will damit sagen, daß er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb: ich weiß das genau, – und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!

Merkwürdig ist, daß ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurück. Aber stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haustür versteckt, durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor unerklärlichem Haßgefühl schwarz vor den Augen wurde.

Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt, das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in Berührung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muß wohl jede seiner Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfaßt, hustet und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewußt auswendig gelernt haben, bis sich's mir in die Seele fraß, daß ich überall die Spuren davon auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstücke erkennen kann.

Später wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstände von mir, bloß weil mich der Gedanke quälte, seine Hand könne sie berührt haben, – andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie Freunde, die ihm Böses wünschten.«

Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.

»Als dann ein paar mitleidige Lehrer für mich gesammelt hatten und ich Philosophie und Medizin studierte – auch nebenbei selbst denken lernte –, da kam mir langsam die Erkenntnis, was Haß ist:

Wir können nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von uns selbst ist.

Und wie ich später dahinter kam, – nach und nach alles erfuhr: was meine Mutter war – und – und noch sein muß, wenn – wenn sie noch lebt, – und daß mein eigener Leib« – er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht sehen sollte, – »voll ist von seinem eklen Blut – nun ja, Pernath, – warum sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! – da wurde mir klar, wo die Wurzel lag. – – – Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller Zusammenhang vor, daß ich schwindsüchtig bin und Blut spucken muß: mein Körper wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹ ist, und stößt es mit Abscheu von sich.

Oft hat mich mein Haß bis in den Traum begleitet und zu trösten gesucht mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich ›ihm‹ zufügen durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden Beigeschmack des – Unbefriedigtseins in mir hinterließen.

Wenn ich über mich selbst nachdenke und mich wundern muß, daß es so gar niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, – ja nicht einmal als antipathisch zu empfinden imstande wäre, außer ›ihn‹ und seinen Stamm, – beschleicht mich oft das widerliche Gefühl: ich könnte das sein, was man einen ›guten Menschen‹ nennt. Aber zum Glück ist es nicht so. – Ich sagte Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.

Und glauben Sie nur ja nicht, daß ein trauriges Schicksal mich verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich überdies erst in späteren Jahren) – ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergönnt ist. Ich weiß nicht, ob Sie kennen, was innere, echte, heiße Frömmigkeit ist, – ich hatte es bis dahin auch nicht gekannt – als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht bekam, – sie ›stumpfsinnig‹, wie ein Laie, der die echte Bühne des Lebens nicht kennt, hätte glauben müssen, – hinnahm, wohl eine Stunde lang teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein bißchen höher über die Zähne gezogen als sonst und den Blick so gewiß – – so – so – so eigenartig nach innen gekehrt, – – – – da fühlte ich den Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. – – Kennen Sie das Gnadenbild der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und die Finsternis des Paradieses hüllte meine Seele ein.« –

– – – Wie ich Charousek so dastehen sah, die großen, träumerischen Augen voll Tränen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit des dunklen Pfades, den die Brüder des Todes gehen.

Charousek fuhr fort:

»Die äußeren Umstande, die meinen Haß ›rechtfertigen‹ oder in den Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen könnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: – Tatsachen sehen sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das nur der Schwachsinnige für das Wesentliche eines Gelages hält. – Wassertrum hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, – wenn es nicht noch viel schlimmer war. Und dann – – nun ja – und dann hat er sie an – ein Freudenhaus verkauft, – – – so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeiräte zu Geschäftsfreunden hat, – aber nicht etwa, weil er ihrer überdrüssig gewesen wäre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewußt wurde, wie heiß er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trödlerbude gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmüssens‹. Er möchte den Begriff ›haben‹ am liebsten in sich hineinfressen und könnte er sich überhaupt ein Ideal ausdenken, so wär's das, sich dereinst in den abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulösen. – –

Und da ist es damals riesengroß in ihm gewachsen bis zu einem Berg von Angst: »seiner selbst nicht mehr sicher« zu sein, – nicht: etwas an Liebe geben zu wollen, sondern geben zu müssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er möchte, daß es sein Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. – So war der Anfang. Was dann folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeißen muß, – ob er will oder nicht – wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit vorüberschwimmt.

Das Verschachern meiner Mutter ergab sich für Wassertrum als natürliche Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. – – – Verzeihen Sie, Meister Pernath,« – Charouseks Stimme klang plötzlich so hart und nüchtern, daß ich erschrak, – »verzeihen Sie, daß ich so furchtbar gescheit daherrede, aber wenn man an der Universität ist, kommt einem eine Menge vertrottelter Bücher unter die Hände; unwillkürlich verfällt man dann in eine teppenhafte Ausdrucksweise.« –

Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Lächeln; innerlich verstand ich gar wohl, daß er mit dem Weinen kämpfte.

Irgendwie muß ich ihm helfen, überlegte ich, wenigstens seine bitterste Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm unauffällig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.

»Wenn Sie später einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf als Arzt ausüben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek«; sagte ich, um dem Gespräch eine versöhnliche Richtung zu geben, – »machen Sie bald Ihr Doktorat?«

»Demnächst. Ich bin es meinen Wohltätern schuldig. Zweck hat's ja keinen, denn meine Tage sind gezählt.«

Ich wollte den üblichen Einwand machen, daß er doch wohl zu schwarz sehe, aber erwehrte lächelnd ab:

»Es ist das beste so. Es muß überdies kein Vergnügen sein, den Heilkomödianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. – – Andererseits«, setzte er mit seinem galligen Humor hinzu, »wird mir leider jedes weitere segensreiche Wirken hier im Diesseits-Getto ein für allemal abgeschnitten sein.« Er griff nach seinem Hut. »Jetzt will ich aber nicht langer stören. Oder wäre noch etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie hängen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daß ich Sie besuchen soll. Zu mir in den Keller dürfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum wurde sofort Verdacht schöpfen, daß wir zusammenhalten. – Ich bin übrigens sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daß die Dame zu Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hätte Ihnen ein Schmuckstück zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den Rabiaten.«

Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die Banknote aufzudrängen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom Fensterbrett und sagte: »Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stück die Treppen hinunter. – Hillel erwartet mich«, log ich.

Er stutzte:

»Sie sind mit ihm befreundet?«

»Ein wenig. Kennen Sie ihn? – – Oder mißtrauen Sie ihm«, – ich mußte unwillkürlich lächeln – »vielleicht auch?«

»Da sei Gott vor!«

»Warum sagen Sie das so ernst?«

Charousek zögerte und dachte nach:

»Ich weiß selbst nicht warum. Es muß etwas Unbewußtes sein: so oft ich ihm auf der Straße begegne, möchte ich am liebsten vom Pflaster heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie trägt. – Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert sind, als Geizhals und heimlicher Millionär und ist doch unsagbar arm.«

Ich fuhr entsetzt auf: »arm?«

»Ja, womöglich noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er, glaub' ich, überhaupt nur aus Büchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem ›Rathaus‹ kommt, dann laufen die jüdischen Bettler vor ihm davon, weil sie wissen, er würde dem nächsten besten von ihnen seinen ganzen kärglichen Gehalt in die Hand drücken und ein paar Tage später – samt seiner Tochter selber verhungern. – Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende behauptet: daß von den zwölf jüdischen Stämmen zehn verflucht sind und zwei hellig, so verkörpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern zusammen. – Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sämtliche Farben spielt, wenn Hillel an ihm vorüber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot zur Welt. Vorausgesetzt, daß die Mütter nicht schon früher vor Entsetzen stürben. – Hillel ist übrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht herantraut; – er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das Unbegreifliche, das vollkommen Unenträtselbare, für ihn bedeutet. Vielleicht wittert er in ihm auch den Kabballsten.«


Date: 2015-12-18; view: 531


<== previous page | next page ==>
SALON LOISITSCHEK«. 7 page | SALON LOISITSCHEK«. 9 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.013 sec.)