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SALON LOISITSCHEK«. 6 page

»Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, – wenigstens solange wir hier sind – die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben«, sprach sie gepreßt weiter, »ich weiß auch gar nicht, wie Sie über solche Dinge denken – –«

»Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem Leben war ich so vermessen, daß ich mich Richter gedünkt hätte über meine Mitmenschen«, war das einzige, was ich hervorbrachte.

»Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, sagte sie warm und schlicht. »Und jetzt hören Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht helfen oder wenigstens einen Rat geben können.« – Ich fühlte, wie eine wilde Angst sie packte, und hörte ihre Stimme zittern. – »Damals – – im Atelier – – – damals brach die schreckliche Gewißheit über mich herein, daß jener grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespürt hat. – Schon durch Monate war mir aufgefallen, daß, wohin ich auch immer ging, – ob allein, oder mit meinem Gatten, oder mit – – – mit – mit Dr. Savioli, – stets das entsetzliche Verbrechergesicht dieses Trödlers irgendwo in der Nähe auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen. Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um den Hals!

Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein armseliger Trödler wie dieser Aaron Wassertrum überhaupt vermöchte – schlimmsten Falles könnte es sich nur um eine geringfügige Erpressung oder dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiß, wenn der Name Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hält mir etwas geheim, um mich zu beruhigen, – irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten kann.

Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daß ihn der Trödler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! – Ich weiß es, ich spüre es in jeder Faser meines Körpers: es geht etwas vor, das sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. – Was hat dieser Mörder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschütteln? Nein, nein, ich sehe das nicht länger mit an; ich muß etwas tun. Irgend etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt.«

Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie ließ mich nicht zu Ende sprechen.

»Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwürgen droht, immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plötzlich erkrankt, – ich kann mich nicht mehr mit ihm verständigen – darf ihn nicht besuchen, wenn ich nicht stündlich gewärtigen soll, daß meine Liebe zu ihm entdeckt wird –; er liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, daß er sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt wähnt, dessen Lippen von einer Hasenscharte gespalten sind: – Aaron Wassertrum!



Ich weiß, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher – können Sie sich das vorstellen? – wirkt es auf mich, ihn jetzt gelähmt vor einer Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nähe eines grauenhaften Würgengels empfinde, zusammengebrochen zu sehen.

Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu Dr. Savioli bekenne, alles von mir würfe, wenn ich ihn doch so liebe –: alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber –« sie schrie es förmlich heraus, daß es widerhallte von den Chorgalerien, – »ich kann nicht! – Ich hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines Mädel! Ich kann doch mein Kind nicht hergeben! – Glauben Sie denn, mein Mann ließe es mir?! Da, da, nehmen Sie das, Meister Pernath« – sie riß im Wahnwitz ein Täschchen auf, das vollgestopft war mit Perlenschnüren und Edelsteinen – »und bringen Sie es dem Verbrecher; – ich weiß, er ist habsüchtig – er soll sich alles holen, was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. – Nicht wahr, er wird schweigen? – So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein Wort, daß Sie mir helfen wollen!«

Es gelang mir mit größter Mühe, die Rasende wenigstens so weit zu beruhigen, daß sie sich auf eine Bank niederließ.

Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre, zusammenhanglose Sätze.

Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daß ich selbst kaum verstand, was mein Mund redete, – Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum daß sie geboren waren.

Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mönchsstatue in der Wandnische. Ich redete und redete. Allmählich verwandelten sich die Züge der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger Überzieher mit hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen und hektischen Flecken wuchs daraus empor.

Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mönch wieder da. Meine Pulse schlugen zu laut.

Die unglückliche Frau hatte sich über meine Hand gebeugt und weinte still.

Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde, als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals übermächtig erfüllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.

»Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe, Meister Pernath«, fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. »Es waren ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben – und die ich nie vergessen konnte die vielen Jahre hindurch – –«

Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.

»– – Sie nahmen Abschied von mir – ich weiß nicht mehr, weshalb und wieso, ich war ja noch ein Kind, – und Sie sagten so freundlich und doch so traurig:

›Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr, daß ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.‹ – Ich habe mich damals abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit Sie meine Tränen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber ich schämte mich, weil das gar so lächerlich gewesen wäre.« – – –

Erinnerung!

– Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich – unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mädchen in weißem Kleid und ringsum die dunkle Wiese eines Schloßparks, von alten Ulmen umsäumt. Deutlich sah ich es wieder vor mir. – –

Ich mußte mich verfärbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie fortfuhr: »Ich weiß ja, daß Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und – und ich danke Ihnen dafür.«

Mit aller Kraft biß ich die Zähne zusammen und jagte den heulenden Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurück.

Ich verstand: Eine gnädige Hand war es gewesen, die die Riegel vor meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem Bewußtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herübergetragen: Eine Liebe, die für mein Herz zu stark gewesen, hatte für Jahre mein Denken zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam für meinen wunden Geist geworden.

Allmählich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins über mich und kühlte die Tränen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lächelnd der in die Augen sehen, die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.

Wieder hörte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der Hufe. – – –

Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.

Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus geschichteten Bergen von Tannenbäumen raunte es von Flitter und silbernen Nüssen und vom kommenden Christfest.

Auf dem Rathausplatz an der Mariensäule murmelten bei Kerzenglanz die alten Bettelweiber mit den grauen Kopftüchern der Muttergottes ihren Rosenkranz.

Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bühne eines Marionettentheaters.

Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und daran an der Schnur einen Totenschädel, ritt klappernd auf hölzernem Schimmel über die Bretter.

In Reihen fest aneinander gedrängt starrten die Kleinen – die Pelzmützen tief über die Ohren gezogen – mit offenem Munde hinauf und lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:

»Ganz vorne schritt ein Hampelmann,

Der Kerl war mager wie ein Dichter

Und hatte bunte Lappen an

Und torkelte und schnitt Gesichter.« – – –

Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz mündete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der Finsternis vor einem Anschlagzettel.

Ein Mann hatte ein Streichholz angezündet, und ich konnte einige Zeilen bruchstückweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Bewußtsein ein paar Worte auf:

Vermißt!

1000 fl Belohnung

Älterer Herr... schwarz gekleidet...

......... Signalement:

... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......

...... Haarfarbe: weiß.........

.. Polizeidirektion... Zimmer Nr....

Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein in die lichtlosen Häuserreihen.

Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen Himmelsweg über den Giebeln.

Friedvoll schweiften meine Gedanken zurück in den Dom, und die Ruhe meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herüber, schneidend klar – als stünde sie dicht an meinem Ohr – die Stimme des Marionettenspielers durch die Winterluft:

»Wo ist das Herz aus rotem Stein?

Es hing an einem Seidenbande

Und funkelte im Frührotschein.« – – –

Spuk

Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir das Gehirn zermartert, wie ich »ihr« Hilfe bringen könnte.

Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen, ihm zu erzählen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber jedesmal verwarf ich den Entschluß.

Er stand im Geist so riesengroß vor mir, daß es eine Entweihung schien, ihn mit Dingen, die das äußere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit alles das erlebt hätte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurücklag und doch so seltsam verblaßt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des verflossenen Tages.

Hatte ich nicht doch geträumt? Durfte ich – ein Mensch, dem das Unerhörte geschehen war, daß er seine Vergangenheit vergessen hatte, – auch nur eine Sekunde lang als Gewißheit annehmen, wofür als einziger Zeuge bloß meine Erinnerung die Hand aufhob?

Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in persönlicher Berührung gewesen!

Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daß ein unsägliches Weh an meinem Herzen fraß?

Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da ließ ich wieder los; ich sah voraus, was kommen würde: Hillel würde mir mild über die Augen fahren und – – – nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren. »Sie« vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie sich fühlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, – sie empfand sie sicherlich als riesengroß!

Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit – ich zwang mich, kalt und nüchtern zu denken; – ihn jetzt – mitten in der Nacht zu stören? – es ging nicht an. So würde nur ein Verrückter handeln.

Ich wollte die Lampe anzünden; dann ließ ich es wieder sein: der Abglanz des Mondlichts fiel von den Dächern gegenüber herein in mein Zimmer und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fürchtete, die Nacht könnte noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.

Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe anzuzünden, nur um den Tag zu erwarten, – eine leise Angst sagte mir, der Morgen rücke dadurch in unerlebbare Ferne.

Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender Friedhof lagen die Reihen verschnörkelter Giebel dort oben – Leichensteine mit verwitterten Jahreszahlen, getürmt über die dunklen Modergrüfte, diese »Wohnstätten«, darein sich das Gewimmel der Lebenden Höhlen und Gänge genagt.

Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschräke, wo doch ein Geräusch von verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.

Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze Ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zögernd schlich.

Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde förmlich kleiner, so preßte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hören. Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.

Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr eigener Verräter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.

Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrückt, das drohende Gefühl in der Kehle, daß drüben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.

Ich lauschte und lauschte:

Nichts.

Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.

Lautlos – auf den Zehenspitzen – stahl ich mich an den Sessel bei meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zündete sie an.

Dann überlegte ich: Die eiserne Speichertüre draußen auf dem Gang, die zum Atelier Saviolis führte, ging nur von drüben aufzuklinken.

Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenförmiges Stück Draht, das unter meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlösser springen leicht auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!

Und was würde dann geschehen?

Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, – vielleicht in Kästen wühlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu bekommen, legte ich mir zurecht.

Ob es viel nützen würde, wenn ich dazwischen trat?

Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare Warten auf den Morgen zerfetzen!

Und schon stand ich vor der eisernen Bodentüre, drückte dagegen, schob vorsichtig den Haken ins Schloß und horchte. Richtig: Ein schleifendes Geräuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.

Im nächsten Augenblick schnellte der Riegel zurück.

Ich konnte das Zimmer überblicken und sah, obwohl es fast finster war und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, – eine Sekunde lang unschlüssig, wohin sich wenden, – eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstürzen, sich dann den Hut vom Kopf riß und hastig damit sein Gesicht bedeckte.

»Was suchen Sie hier!« wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:

»Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!« Die Stimme kam mir bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trödlers Wassertrum.

Automatisch blies ich die Kerze aus.

Das Zimmer lag halbdunkel da – nur von dem schimmrigen Dunst, der aus der Fensternische hereindrang, matt erhellt – genau wie meines, und ich mußte meine Augen aufs äußerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten, hektischen Gesicht, das plötzlich über dem Mantel auftauchte, die Züge des Studenten Charousek erkennen konnte.

»Der Mönch!« drängte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der Mann, an den ich mich wenden sollte! – Und ich hörte seine Worte wieder, die er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: »Aaron Wassertrum wird es schon erfahren, daß man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will.«

Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? Wußte er ebenfalls, was sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewöhnlicher Stunde ließ fast darauf schließen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.

Er war ans Fenster geeilt und spähte hinter dem Vorhang hinunter auf die Gasse.

Ich erriet: er fürchtete, Wassertrum könne den Lichtschein meiner Kerze wahrgenommen haben.

»Sie denken gewiß, ich sei ein Dieb, daß ich nachts hier in einer fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath,« fing er nach langem Schweigen mit unsicherer Stimme an, »aber ich schwöre Ihnen – –«

Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.

Und um ihm zu zeigen, daß ich keinerlei Mißtrauen gegen ihn hegte, in ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzählte ich ihm mit kleinen Einschränkungen, die ich für nötig hielt, welche Bewandtnis es mit dem Atelier habe, und daß ich fürchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in Gefahr, den erpresserischen Gelüsten des Trödlers in irgendwelcher Art zum Opfer zu fallen.

Aus der höflichen Weise, mit der er mir zuhörte, ohne mich mit Fragen zu unterbrechen, entnahm ich, daß er das meiste bereits wußte, wenn auch vielleicht nicht in Einzelheiten.

»Es stimmt schon«, sagte er grübelnd, als ich zu Ende gekommen war. »Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material beisammen. Weshalb würde er sich sonst noch hier immerwährend herumdrücken! Ich ging nämlich gestern, sagen wir mal: ›zufällig‹ durch die Hahnpaßgasse,« erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, »da fiel mir auf, daß Wassertrum erst lange – scheinbar unbefangen – vor dem Tor unten auf und ab schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das heißt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei überraschte ich ihn, wie er draußen an der eisernen Bodentür mit einem Schlüssel herumhantierte. Natürlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen übrigens nicht zu Hause gewesen zu sein, denn es öffnete niemand.

Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich, daß jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier heimlich ein Absteigequartier besäße. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt, reimte ich mir das übrige zurecht.

Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um Wassertrum für alle Fälle zuvorzukommen«, schloß Charousek und deutete auf ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; »es ist alles, was ich an Schriftstücken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden. Wenigstens habe ich in sämtlichen Truhen und Schränken gestöbert, so gut das in der Finsternis ging.«

Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben unwillkürlich auf einer Falltüre am Boden haften. Ich entsann mich dabei dunkel, daß Zwakh mir irgendwann erzählt hatte, ein geheimer Zugang führe von unten herauf ins Atelier.

Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.

»Wo sollen wir die Briefe aufheben?«, fing Charousek wieder an. »Sie, Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum harmlos vorkommen, – warum gerade ich, das – hat – seine – besonderen – Gründe«, – (ich sah, daß sich seine Züge in wildem Haß verzerrten, wie er so den letzten Satz förmlich zerbiß –) »und Sie halt er für – –« Charousek erstickte das Wort »verrückt« mit einem raschen, erkünstelten Husten, aber ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das Gefühl, »ihr« helfen zu können, machte mich so glückselig, daß jede Empfindlichkeit ausgelöscht war.

Wir kamen schließlich überein, das Paket bei mir zu verstecken, und gingen hinüber in meine Kammer.

Charousek war längst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fühlte ich, aber was? was?

Einen Plan für den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hätte?

Das allein konnte es nicht sein. Charousek ließ den Trödler sowieso nicht aus den Augen, darüber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich an den Haß dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.

Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?

Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand nicht.

Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reißen am Zügel spürt und nicht weiß, welches Kunststück er machen soll, den Willen seines Herrn nicht erfaßt.

Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?

Jede Faser in mir verneinte.

Die Vision des Mönchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefühle nicht ohne weiteres zu verachten. Geheime Kräfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war gewiß: ich empfand es zu übermächtig, als daß ich auch nur den Versuch gemacht hätte, es wegzuleugnen.

Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in Büchern zu lesen, – einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir übersetzt, was die Instinkte ohne Worte raunen, darin muß der Schlüssel liegen, sich mit dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen, begriff ich.

»Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht«, fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erklärung dazu ein.

»Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel«, wiederholten mechanisch meine Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte ich plötzlich.

»Schlüssel, Schlüssel – –?« Mein Blick fiel auf den krummen Draht in meiner Hand, der mir vorhin zum Öffnen der Speichertüre gedient hatte, und eine heiße Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem Atelier führen könnte, peitschte mich auf.

Und ohne zu überlegen, ging ich nochmals hinüber in Saviolis Atelier und zog an dem Griffring der Falltüre, bis es mir schließlich gelang, die Platte zu heben.

Zuerst nichts als Dunkelheit.

Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste Finsternis.

Ich stieg hinunter.

Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Händen die Mauern entlang, aber es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, – Windungen, Ecken und Winkel, – Gänge geradeaus, nach links und nach rechts, Reste einer alten Holztüre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen, Stufen hinauf und hinab.

Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall.

Und noch immer kein Lichtstrahl. –

Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte!

Endlich flacher, ebener Weg.

Aus dem Knirschen unter meinen Füßen schloß ich, daß ich auf trockenem Sand dahinschritt.

Es konnte nur einer jener zahllosen Gänge sein, die scheinbar ohne Zweck und Ziel unter dem Getto hinführen bis zum Fluß.

Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Läuften, und die Bewohner Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.

Das Fehlen jeglichen Geräuschs zu meinen Häupten sagte mir, daß ich mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben ist, befinden mußte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere Straßen oder Plätze über mir hätten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.

Eine Sekunde lang würgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise herumging!? In ein Loch stürzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht mehr weiter gehen konnte?!

Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie mußten unfehlbar Wassertrum in die Hände fallen.

Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines Helfers und Führers verknüpfte, beruhigte mich unwillkürlich.

Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes und hielt den Arm in die Höhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen, falls der Gang niedriger würde.

Von Zeit zu Zeit, dann immer öfter stieß ich oben mit der Hand an, und endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daß ich mich bücken mußte, um durchzukommen.

Pötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.

Ich blieb stehen und starrte hinauf.

Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum merklicher Schimmer von Licht.

Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?

Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Händen in Kopfeshöhe um mich herum: die Öffnung war genau viereckig und ausgemauert.

Allmählich konnte ich darin als Abschluß die schattenhaften Umrisse eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen.

Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.

Offenbar endeten hier die Überbleibsel einer eisernen Wendeltreppe, wenn mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte?

Lang, unsagbar lang mußte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden konnte, dann klomm ich empor.

Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshöhe über der andern.

Sonderbar: die Treppe stieß oben gegen eine Art horizontalen Getäfels, das aus regelmäßigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein herabschimmern ließ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!

Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung besser unterscheiden zu können, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem Erstaunen, daß sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den Synagogen findet, bildeten.

Was mochte das nur sein?

Plötzlich kam ich dahinter: es war eine Falltür, die an den Kanten Licht durchließ! Eine Falltür aus Holz in Gestalt eines Sternes.

Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drückte sie aufwärts und stand im nächsten Moment in einem Gemach, das von grellem Mondschein erfüllt war.

Es war ziemlich klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerumpel in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.

Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern immer wieder von neuem absuchte.

Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daß ich den Kopf hätte durchstecken können, so viel aber sah ich:

Das Zimmer befand sich ungefähr in der Höhe eines dritten Stockwerks, denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich tiefer.

Das eine Ufer der Straße unten war für mich noch knapp sichtbar, aber infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe Schlagschatten getaucht, die es mir unmöglich machten, Einzelheiten zu unterscheiden.

Zum Judenviertel mußte die Gasse unbedingt gehören, denn die Fenster drüben waren sämtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur im Getto kehren die Häuser einander so seltsam den Rücken.


Date: 2015-12-18; view: 564


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