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SALON LOISITSCHEK«. 5 page

Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.

»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf den Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen«, flüstert der Maler Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.

Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Äh – Hm.« – – – er kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir Gästäh – da schaut man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daß die Gläser klirren; die Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vierschrötige Wirt meckert uns erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine Durchlaucht Exzellenz Fürst Ferri Athenstädt.«

Der Fürst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der Ärmste nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.

Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter geschehen wird.

Der Kavalier spricht wieder:

»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, – äh – sind meine lieben Gäste.« Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlässigen Armbewegung auf das Gesindel, »wünschen Sie, Herr Kommissär, – äh – vielleicht vorgestellt zu werden?«

Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert verlegen etwas von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu den Worten auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.«

Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im nächsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen – Rosina am Arm herunter in den Saal.

Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. Der große, kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strümpfe und – einen Herrenfrack auf dem bloßen Körper.

Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend – – – »Rititit – Rititit« – – – und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als er Rosina gesehen, an der Wand drüben ausgestoßen hat. – –

Wir wollen gehen.

Zwakh ruft nach der Kellnerin.

Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.

Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.

Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich langsam mit ihr im Takt.

Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.

Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisitschek«, die Hälse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, – hängt schmachtend an der Brust des Fürsten Athenstädt.

Ein süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.

Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.



Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der Kommissär steht dort abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.

Die beiden spähen hinüber auf den blatternarbigen Loisa, der einen Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt – das Gesicht kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen – stehen bleibt.

Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das Bild, wie »Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, – über das Kanalgitter gebeugt – und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor.«

Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzähne, daß es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.

Ich kann die Finger nicht sehen, weiß, daß sie unsichtbar sind, und doch empfinde ich sie wie etwas Körperliches.

Und klar steht es in meinem Bewußtsein: sie gehören zu der gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse das Buch »Ibbur« gegeben hat.

»Wasser, Wasser!« schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.

»In seine Wohnung schaffen, Arzt holen – der Archivar Hillel kennt sich aus in solchen Dingen – – zu ihm bringen!« beraten sie murmelnd.

Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und Vrieslander tragen mich hinaus.

Wach

Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hörte, wie Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn ängstlich ausfragte und er sie zu beruhigen trachtete.

Ich gab mir keine Mühe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daß Zwakh erzählte, mir sei ein Unfall zugestoßen und sie kämen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und mich wieder zu Bewußtsein zu bringen.

Noch immer konnte ich kein Glied rühren, und die unsichtbaren Finger hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefühl des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wußte genau, wo ich war und was mit mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daß man mich wie einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels niedersetzte und – allein ließ.

Eine ruhige, natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich.

Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab, der von der Gasse heraufschimmerte.

Alles kam mir selbstverständlich vor und ich wunderte mich weder darüber, daß Hillel mit einem jüdischen siebenflammigen Sabbatleuchter eintrat, noch, daß er mir gelassen »guten Abend« wünschte wie jemandem, dessen Kommen er erwartet hatte.

Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas Besonderes bemerkt hatte, – trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in der Woche auf den Stiegen begegnet waren, – fiel mir plötzlich stark an ihm auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenstände auf der Kommode zurechtrückte und schließlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls siebenflammigen anzündete.

Nämlich: sein Ebenmaß an Leib und Gliedern und der schmale, feine Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.

Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht älter sein als ich: höchstens 45 Jahre zählen.

»Du bist um einige Minuten früher gekommen«, – begann er nach einer Weile – »als anzunehmen war, sonst hätte ich die Lichter schon vorher angezündet.« – Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der mir zu Häupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte. Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.

Sofort ließen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich: Niemand außer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.

Sein »Du« und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten also mir gegolten!?

Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es auf mich, daß ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darüber zu empfinden.

Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich, wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel wies, und sagte:

»Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die gespenstischen Dinge – die Kischuph – auf den Menschen; das Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.«

Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: »Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung.«

»Wohl dem Menschen«, setzte er leise hinzu, »der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen.« – Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich hörte ihn einen hebräischen Satz murmeln: »Lischuosècho Kiwisi Adoschem.« Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:

»Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach gemacht. Im Psalm David heißt es:

»Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist es, welche diese Veränderung gemacht hat

Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen sie, sie hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und das ist das, dem Du dich jetzt näherst. Sprich den Menschen davon und sie werden sagen, Du seist krank, denn sie können dich nicht verstehen. Darum ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.

Sie fahren dahin wie ein Strom –

Und sind wie ein Schlaf,

Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird –

Das des Abends abgehauen wird und verdorret.«

»Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir das Buch »Ibbur« gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?«, wollte ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte fassen konnte:

»Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!

Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst.«

Ich fühlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen, sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein uferloses Meer.

Ruhevoll fuhr Hillel fort:

»Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod sind dasselbe.«

»– – kann nicht mehr sterben?« – Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.

»Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg des Todes. Du hast das Buch »Ibbur« genommen und darin gelesen. Deine Seele ist schwanger geworden vom Geist des Lebens«, hörte ich ihn reden.

»Hillel, Hillel, laß mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den des Sterbens!«, schrie alles wild in mir auf.

Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.

»Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: »Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese strich Gott aus dem Buche der Lebenden.« Du aber gehst einen Weg und hast ihn aus freiem Willen beschritten, – wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr weißt: Du bist berufen von dir selbst. Gräm' dich nicht: allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe.«

Der freundliche, fast liebenswürdige Ton, in den Hillels Rede ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fühlte mich geborgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß.

Ich blickte auf und sah, daß mit einemmal viele Gestalten im Zimmer waren und uns im Kreis umstanden: einige in weißen Sterbegewändern, wie sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an den Schuhen – aber Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen, und die Stube war wieder leer.

Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten könne in mein Zimmer.

Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder Träumen war, noch Wachen, noch Schlafen.

Das Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles in der Stube so deutlich, daß ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei fühlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ähnlicher Verfassung befindet.

Nie vorher in meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so scharf und präzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchströmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee, die nur auf meine Befehle wartete.

Ich brauchte bloß zu rufen, und sie traten vor mich und erfüllten, was ich wünschte.

Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu schneiden versucht hatte, – ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszügen decken wollten, die ich mir vorgestellt, – fiel mir ein, und im Nu sah ich die Lösung vor mir und wußte genau, wie ich den Stichel zu führen hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu werden.

Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traumgesichter, von denen ich oft nicht gewußt: waren es Ideen oder Gefühle, sah ich mich jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen Reich.

Rechenexempel, die ich früher nur mit Ächzen und auf dem Papier hätte bewältigen können, fügten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fähigkeit, das zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen, Gegenstände oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch derlei Werkzeuge nicht zu lösen waren: – philosophische Probleme und ähnliches –, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehör, wobei die Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers übernahm.

Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.

Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem Ohr hatte vorübergehen lassen, stand wertgetränkt bis in die tiefste Faser vor mir; was ich »auswendig« gelernt, »erfaßte« ich mit einem Schlag als mein »Eigen«tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor mir.

Die »hohen« Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrätlich biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab behandelt hatten, – demütig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krücken für – einen noch frecheren Schwindel.

Träumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel gesprochen?

Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.

Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich überzeugt hat, daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wühlte ich mich wieder in die Kissen.

Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen Rätsel, die mich rings umgaben.

Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurückzugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus – glaubte ich – könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines Daseins zu überblicken, der für mich, durch eine seltsame Fügung des Schicksals in Finsternis gehüllt lag.

Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als daß ich mich wie einst in dem düsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum unterschied – als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hätte, immer gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!

Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schürfen in den Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit leuchtender Klarheit, daß in meiner Erinnerung wohl die breite Heerstraße der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den Hauptpfad ständig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet worden waren. »Woher«, schrie es mir fast in die Ohren, »hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt – und Gravieren und all das andere? Lesen, schreiben, sprechen – und essen – und gehen, atmen, denken und fühlen?«

Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein Leben zurück.

Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu überlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag vor diesem und so weiter?

Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt – – jetzt! Jetzt! Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen trennte, mußte überflogen sein – da trat ein Bild vor mich, das ich auf der Rückwanderung meiner Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen – genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.

Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.

Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die verlorene Heimat zurückführen: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterlaßt, – birgt die Lösung der letzten Geheimnisse.

So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z bis A, um dort anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, – so, begriff ich, mußte ich auch wandern können in die andere ferne Heimat, die jenseits allen Denkens liegt.

Eine Weltkugel an Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules trug eine Zeitlang das Gewölbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: »Laß mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt«, so gäbe es vielleicht einen dunklen Weg – dämmerte mir – von dieser Klippe weg.

Ein tiefer Argwohn, der Führerschaft meiner Gedanken weiter blind zu vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und verschloß mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne. Um jeden Gedanken zu töten.

Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete in den brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem Fuß; ich verbarg mich im Hämmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten mich entdeckt.

Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte: »Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlüssel zur Kunst des Vergessens gehört unseren Brüdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber bist geschwängert vom Geiste des – Lebens.«

Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mächtig, gleich einem Erdbeben, – der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.

Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über meine Augen, und ich schlummerte ein.

Schnee

»Mein lieber und verehrter Meister Pernath!

Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und höchster Angst. Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, – oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. – Ich hätte keine Ruhe sonst.

Sagen Sie keiner Menschenseele, daß ich Ihnen geschrieben habe. Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden!

Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir – »neulich« – (Sie werden durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fürchte mich, meinen Namen darunter zu setzen) – so viel Vertrauen eingeflößt, und weiter, daß Ihr lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, – alles das gibt mir den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen kann, zu wenden.

Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche auf dem Hradschin.«

Eine Ihnen bekannte Dame.

Wohl eine Viertelstunde lang saß ich da und hielt den Brief in der Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, – weggeweht von dem frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam lächelnd und verheißungsvoll – ein Frühlingskind – auf mich zu. Ein Menschenherz suchte Hilfe bei mir. – Bei mir! Wie sah meine Stube plötzlich so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.

Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum und Glanz.

So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen?

Ich fühlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher schlafen gelegen in mir – verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele, verschüttet von dem Geröll, das der Alltag häuft, wie eine Quelle losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.

Und ich wußte so gewiß, wie ich den Brief in der Hand hielt, daß ich würde helfen können, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab mir die Sicherheit.

Wieder und wieder las ich die Stelle: »und weiter, daß Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat – – –«; – mir stand der Atem still. Klang das nicht wie Verheißung: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein?« Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt mir das Geschenk entgegen: die Rückerinnerung, nach der ich dürstete, – würde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!

»Ihr lieber seliger Vater« – –, wie fremdartig die Worte klangen, als ich sie mir vorsagte! – Vater! – Einen Augenblick sah ich das müde Gesicht eines alten Mannes mit weißem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe auftauchen – fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; – – dann kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.

Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte auf die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf.

Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und schritt die Treppen hinab. Was kümmerte mich heute das Geraune der dunklen Winkel, die bösartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von ihnen aufstiegen: »Wir lassen dich nicht, – du bist unser, – wir wollen nicht, daß du dich freust – das wäre noch schöner, Freude hier im Haus!«

Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen und Ecken her um mich gelegt mit würgenden Händen: heute wich er vor dem lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels Tür.

Sollte ich eintreten?

Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders heute, – so, als dürfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die Hand des Lebens vorwärts, die Stiegen hinab. – –

Die Gasse lag weiß im Schnee.

Ich glaube, daß viele Leute mich gegrüßt haben; ich erinnere mich nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fühlte ich an die Brust, ob ich den Brief auch bei mir trüge:

Es ging eine Wärme von der Stelle aus. – –

Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengänge auf dem Altstädter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll Eiszapfen hing, hinüber über die steinerne Brücke mit ihren Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.

Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente.

Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein der heiligen Luitgard mit »den Qualen der Verdammten« darin: dicht lag der Schnee auf den Lidern der Büßenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Händen.

Torbogen nahmen mich auf und entließen mich, Paläste zogen langsam an mir vorüber, mit geschnitzten, hochmütigen Portalen, darinnen Löwenköpfe in bronzene Ringe bissen.

Auch hier überall Schnee, Schnee. Weich, weiß wie das Fell eines riesigen Eisbären.

Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten teilnahmslos zu den Wolken empor.

Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war.

Als ich die unzähligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor meinem Sinn. – – –

Schon schlich die Dämmerung die Häuserreihen entlang, da trat ich auf den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.

Fußstapfen – die Ränder mit Krusten aus Eis – führten hin zum Nebentor.

Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Töne eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Tränentropfen der Schwermut fielen sie in die Verlassenheit.

Ich hörte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die Kirchentüre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar blinkte in starrer Ruhe herüber zu mir durch den grünen und blauen Schimmer sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstühle niedersank. Funken sprühten aus roten, gläsernen Ampeln.

Welker Duft von Wachs und Weihrauch.

Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem Reich der Regungslosigkeit.

Ein Leben ohne Herzschlag erfüllte den Raum – ein heimliches, geduldiges Warten.

Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.

Da! – Aus weiter, weiter Ferne drang das Geräusch von Pferdehufen gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näher kommen und verstummte.

Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt. – – –

Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berührt.

»Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt mir, hier in den Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen muß.«

Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nüchterner Klarheit. Der Tag hatte mich plötzlich angefaßt.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daß Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht haben.«

Ich stotterte ein paar banale Worte.

»– – Aber ich wußte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiß niemand nachgegangen.«

Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.

Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahnpaßgasse flüchtete. Ich war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.

Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dämmerung der Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte. Ihre Schönheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am liebsten wäre ich vor ihr niedergefallen und hätte ihre Füße geküßt, daß sie es war, der ich helfen sollte, daß sie mich dazu erwählt hatte.


Date: 2015-12-18; view: 504


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