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Elemente der Systemhaftigkeit in den Wechselbeziehungen zwischen Stammwörtern und Entlehnungen

Das System der entlehnenden Sprache bestimmt eine auf verschiedenen Entwicklungsstufen des (deutschen) Wortbestandes belegte Regelmäßigkeit: Entlehnt wird nicht die ganze semantische Struktur eines Lexems, falls es mehrdeutig ist, sondern nur ein Semen, seltener zwei oder mehrere Sememe. Diese Erscheinung, die in verschiedenen Arbeiten mit Hilfe unterschiedlicher terminologischer Bezeichnungen beschrieben wurde, brachte besonders interessante Ergebnisse aufgrund der Erforschung formal ähnlicher, aber semantisch abweichender Wörter, die in verschiedenen Sprachen als Entlehnungen aus einer Quelle fungieren und in der sowjetischen Linguistik unter dem Namen «falsche Freunde des Übersetzers», auch «zwischensprachliche Homonyme» oder «zwischensprachliche Analogismen» bekannt sind. Da wären z.B. solche Lexeme zu erwähnen wie Quartier, Séance, Anekdote im Deutschen, êâàðòèðà, ñåàíñ, àíåêäîò im Russischen und Ukrainischen, die in diesen Sprachen aus dem Französischen übernommen wurden und ihrer Form nach zwar sehr ähnlich sind, sich aber semantisch voneinander unterscheiden.

Von besonderem Interesse sind sie deshalb, weil sie als Entlehnungen aus ein und derselben Sprache eine potentiell identische Ausgangsform besitzen. In verschiedene lexikalisch-semantische Systeme versetzt, weisen sie eine unterschiedliche Entwicklung auf. Daher kann man bei solchen Wörtern sowohl das Gemeinsame als auch das Unterschiedliche der Entlehnungsvorgänge feststellen.

Die Analyse der parallelen französischen Entlehnungen im Deutschen und Russischen hat ergeben, dass beim ersten Entlehungsvorgang bei 50 Prozent dieser Lexeme die semantische Struktur auf ein Semem reduziert wurde obgleich im Französischen die meisten von ihnen mehrdeutig waren.

Die Untersuchung der Gründe, warum nicht die ganze Bedeutungsstruktur der Fremdwörter entlehnt wird, lässt folgende Systemhaftigkeit dieses Prozesses feststellen:

1) Entlehnt werden Sememe, die im betreffenden System fehlen. Der jeweilige Stand des Systems ist bestimmend für die Einführung oder Adaption des Lexems oder nur einer bzw. einiger seiner lexisch-semantischen Varianten. So hat sich z.B. bei der Analyse der romanischen Entlehnungen im Deutschen erwiesen, dass oft übertragene Bedeutungen fremder Lexeme übernommen wurden, da die eigentlichen Bedeutungen durch deutsche Wörter bereits ausgedrückt wurden.

2) Der zweite Prozess, der für die Assimilation des Wortes und seine Anpassung an ein neues lexikalisch-semantisches System entscheidend wirkt, ist die Entwicklung der semantischen Selbständigkeit.

Unter semantischer Selbständigkeit einer Entlehnung wird die Aufhebung der Dubletten-Beziehung in den synonymischen Paaren Fremdwort – Stammwort verstanden. So sind z.B. die Wörter Job – Arbeit nicht austauschbar, denn der Anglo-Amerikanismus, der nach 1945 übernommen wurde, bedeutet heute nicht nur «Arbeit». Er hat sich vom deutschen Wort semantisch und stilistisch differenziert und bezeichnet in der BRD umgangssprachlich vielmehr eine gelegentliche, vorübergehende Beschäftigung, «Stellung», «Gelegenheit zum Geldverdienen», «Arbeit auf Zeit», Job hat Arbeit oder Beschäftigung nicht verdrängt, sondern hat dem Wortfeld eine besondere Nuance hinzugefügt, die erst in der Gegenwart Aktualität erhalten hat.



Die Entwicklung der semantischen Selbständigkeit ist die wichtigste Voraussetzung für die Einbürgerung eines Fremdwortes im Wortbestand der entlehnenden Sprache, denn die semantische Selbständigkeit manifestiert die Tatsache, dass das betreffende Fremdwort im lexikalisch-semantischen System seinen Platz einnimmt. Es wird zu einem notwendigen Lexem.

Die semantische Selbständigkeit bedeutet also eine Einfügung des Fremdwortes in ein neues lexikalisch-semantisches System und das setzt Wechselbeziehungen desselben mit Elementen dieses Systems voraus. Dementsprechend ist der Prozess der Auseinanderentwicklung des Fremdwortes von seiner deutschen Entsprechung eine vielseitige Differenzierung. Sie kann semantischer und funktional-stilistischer Art sein.

3) Viele Fremdwörter passen sich dem lexikalisch-semantischen System an, indem sie die entsprechenden synonymischen oder thematischen Reihen mit funktional-stilistisch differenzierter Lexik auffüllen. vgl.: Gesicht–- Visage (derb, abwertend); Zeitung – Gazette (umg. abwertend); Strauß – Bukett (geh.).

Wie die Differenzierungsprozesse verlaufen und welche Differenzierungsart eintritt, eine semantische, funktional-stilistische oder beides, bestimmt das lexikalisch-semantische System. Dabei können Prozesse, die die Entstehung der semantischen Selbstständigkeit bewirken, mehrstufig sein und die Folge eines Zusammenspiels von sozialen und linguistischen Faktoren darstellen.

Die Differenzierungstendenzen des Lehrgutes weisen je nach dem lexikalisch-semantischen System auch unterschiedliche Ergebnisse auf.

Bei Entlehnung und Entwicklung der semantischen Struktur des französischen Chef im Deutschen und Russischen ist folgendes festzustellen: Von den sechs

lexisch-semantischen Varianten der lexikalischen Bedeutung des französischen Wortes werden ins Deutsche zwei entlehnt: 1. Leiter, Vorgesetzter; 2. Geschäftsinhaber. Ins Russische wurde nur eine lexikalisch-semantische Variante entlehnt: øåô, íà÷àëüíèê, ðóêîâîäèòåëü, çàâåäóþùèé. Dagegen ist im lexikalisch-semantischen System des Russischen eine absolut neue Bedeutung aufgekommen. Chef: «ó÷ðåæäåíèå, ïðèíÿâøåå øåôñòâî (= ïîêðîâèòåëüñòâî) íàä êåì-ë, ÷åì-ë.» In jüngster Entwicklung der semantischen Struktur des Fremdwortes ist die Verwendung der Entlehnung als salopp vertrauliche Anrede für unbekannte feststellbar: Hallo, Chef, wo ist die nächste Tankstelle?».

Die Beispiele zeigen neben den bereits besprochenen Merkmalen der Systemhaftigkeit bei der Integration der Entlehnungen noch eine gesetzmäßige Erscheinung. Die semantische Struktur der Entlehnungen ist im lexikalisch-semantischen System der entlehnenden Sprache in der Entwicklung begriffen. Wie andere Vollwörter einer Sprache weisen auch Entlehnungen eine Tendenz auf, ihre semantische Struktur zu erweitern. So wurde aufgrund der parallelen französischen Entlehnungen im Deutschen und Russischen festgestellt, dass 71,9% der französischen Fremdwörter im Deutschen und 72,7% derselben im Russischen neue lexisch-semantische Varianten entwickelt haben.

Beim Gebrauch des entlehnten Wortgutes im System der entlehnenden Sprache wird noch ein Merkmal der systemhaften Wechselbeziehungen zwischen Fremdwort und Stammwort festgestellt. Es besteht in der Tendenz, die Mehrdeutigkeit der Lexeme (in der Paradigmatik) mit Hilfe von Fremdwörtern zu neutralisieren. Als Beispiel kann das Lexem Schlager dienen. Um 1880 als österreichische (Wiener) Neubildung aufgekommen, wohl nach dem zündenden Blitzschlag hatte das Wort ursprünglich nur die Bedeutung «erfolgreiches Lied». Dann begann sich die semantische Struktur des Wortes stürmisch zu entwickeln, und heute bedeutet das Wort: 1. «ein in Mode befindliches, international bekanntes, zündendes, oft sentimentales Tanzlied, auch Operette, Film oder Musical». 2. «ein erfolgreiches Theaterstück». 3. «ein erfolgreiches Buch», 4. «ein erfolgreiches Film», 5.»eine gängige Ware, die reißend abgesetzt wird.

Die Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes Schlager wird durch entlehnte Synonyme neutralisiert. In der ersten Bedeutung konkurriert der Anglo-Amerikanismus Hit. Zwar ist dieses Fremdwort selbst vieldeutig «erfolgreiches, allgemeinbeliebtes Musikstück», «Spitzenschlager», aber es wird im Deutschen vorwiegend als «Schlagerlied», «Tanzlied» gebraucht. Besonders populär sind die Komposita Hitmusik, Hitparade.

Das zweite entlehnte Synonym, das neben Schlager im Sinne «ein modernes Schlagerlied» gebraucht wird, ist der Anglo-Amerikanismus Song. Somit entsteht eine synonymische Reihe: Schlager = «Lied»- Hit – Song, in der die Entlehnungen mit dem Stammwort erfolgreich konkurrieren.

Auch für die vierte Bedeutung des deutschen Wortes werden je nach dem Charakter des Films entlehnte Synonyme gebraucht. Das sind die Anglo-Amerikanismen Thriller und Hit. So wurden z. B. in der BRD-Presse unsere Filme

«Anna Karenina», «Krieg und Frieden» u.a. als Hits bezeichnet. Handelt es sich aber um einen Kriminalfilm oder ganz auf Spannungseffekte eingestellten Film, «Nervenreißer», so wird der Anglo-Amerikanismus Thriller gebraucht. Das gibt den Grund zur Aufstellung der zweiten synonymischen Reihe: Schlager = «Film»– Hit Thriller.

Aufgrund der geläufigen Anwendung von Thriller als «ein aufregendes Buch» und dann einer älteren Entlehnung – Bestseller – in der Bedeutung «Verkaufsschlager» (meist von Büchern) kann man auch die dritte synonymische Reihe aufstellen: Schlager = «Buch» – ThrillerBestseller.

Als Folge der semantischen Selbständigkeit der Entlehnungen tritt die formelle Assimilation ein, d.h. eine Anpassung in Lautung, Schreibweise, Formenbildung. Je nach der gegebenen Entlehnungsperiode verläuft diese formelle Integration verschieden, vgl. eine völlige Anpassung der ältesten mündlichen Übernahmen (Fenster, Ziegel, Mauer u.a.) und eine teilweise Anpassung in der Gegenwartssprache. Die vollständige formelle Assimilation kann auch ausbleiben. Die Abhängigkeit der anderen Arten der Assimilation von der lexikalisch-semantischen zeigt sich auch darin, dass der strukturelle Faktor nicht selten durch den semantischen überspielt wird. Das bedeutet: Das Geschlecht eines Fremdwortes wird durch die Anlehnung an ein deutsches Synonym bestimmt. So kennen wir die Wörter das Service (nach dem Französischen) in Anlehnung an das Geschirr, aber der Service «Kundendienst» (nach dem Englischen) in Anlehnung an der Dienst.

Es lässt sich aber nicht in jedem Fall eine überzeugende Erklärung geben, warum die Genusbestimmung bei manchen Fremdwörtern scheinbar nicht folgerichtig ausfallen ist, vgl. die Farm gegenüber der Hof.

Auch der zweite genusbestimmende Faktor des Fremdwortes – die wortbildende Struktur – ist vom lexikalisch-semantischen System der entlehnenden Sprache bedingt. Es handelt sich dabei um einen Parallelvorgang zu der genusbestimmenden Wirkung deutscher Ableitungssuffixe, vgl. der Teenager – im Deutschen ein Maskulinum, da das Wort auf -er auslautet.

Diese kurze Betrachtung der Systemhaftigkeit in den Wechselbeziehungen zwischen Stammwörtern und Entlehnungen lässt sich zusammenfassend folgenderweise formulieren:

1. Bei Einführung der Entlehnungen in ein neues lexikalisch-semantisches System wird die semantische Struktur der Fremdwörter nur teilweise entlehnt. Die semantische Struktur oder das Bedeutungsgefüge der Fremdwörter wird reduziert.

2. In einem neuen lexikalisch-semantischen System zeigen Fremdwörter eine Tendenz zur Erweiterung ihrer semantischen Struktur.

3. Die Entwicklung der semantischen Selbständigkeit einer Entlehnung ist entscheidend für ihre Einbürgerung in ein neues System.

4. Alle anderen Abwandlungen und Prozesse, denen Entlehnungen beim Funktionieren in einem neuen lexikalisch-semantischen System unterliegen, sind sekundäre Folgen der semantischen Selbständigkeit: formelle Assimilation, wortbildende Produktivität, Geläufigkeit, regelmäßiger Gebrauch.

5. Die Wortschatzbereicherung durch die Entlehnung besteht nicht nur in der quantitativen Erweiterung des Wortbestandes, bei der Wörter entlehnt werden, die neue Gegenstände und Erscheinungen bezeichnen. Die Bereicherung des Wortbestandes offenbart sich auch darin, dass das Lehngut Ausdrucksmöglichkeiten der entlehnenden Sprache durch begriffliche und funktionalstilistische Differenzierungen erweitert, die Fremdwörter in den betreffenden thematischen oder synonymischen Reihen bewirken.

 


Date: 2015-12-17; view: 1588


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