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Die Bezugnahme auf Ersteinheiten von Komposita

Komposita sind im Deutschen so strukturiert, dass die zweite Einheit die syntakti­sche Verwendung und die Semantik des Kompositums steuert. Auch die kontextuelle Einbettung eines Kompositums unterliegt dieser Regel: rotes Halstuch bezeich­net ein rotes Tuch, nicht einen roten Hals. Gegen diese Regel wird jedoch bei den Nomen-Nomen-Komposita mitunter verstoßen. Einige Sprecherschreiber nehmen regelwidrig auf die erste Einheit syntaktisch-semantisch Bezug, z.B. am heutigen Wahltag der Mitarbeiter. Hier bezieht sich die Genitivphrase der Mitarbeiter regelwidrig auf die erste Einheit Wahl, nicht auf Tag; es geht um die Wahl der Mitarbeiter, nicht um einen Tag der Mitarbeiter.

Legendäre Beispiele sind die reitende Artilleriekaserne, der vierstöckige Hausbesitzer, die durchlöcherte Stuhl­sitzfabrik, der geräucherte Fischladen, saure Gurkenfabriken, Prozeßbeginn gegen Immobilienunternehmer Schneider, schwache Verkehrszeiten, rundes Geburtstagskind.

 

Die Klammerform

Als Klammerformen werden in der Forschungsliteratur nominale Determinativkom­posita wie Bierdeckel angesehen, deren erste Einheit (Bier) ursprünglich zweiteilig gewesen sein soll (z.B. Bierglas)', der zweite Teil der ersten Einheit (Glas) soll „aus ökonomischen Gründen“ weggefallen sein: Bierglasdeckel → Bierdeckel. Als typische Klammerformen gelten z.B. Betriebs(wirtschafts)lehre, Kokos(nuss)butter, Füll(feder)halter, Tank(stellen)wart.

Komposita wie Bierdeckel werden Klammerformen genannt, weil bei ihnen ein mittleres Glied ausgespart ist, so dass die beiden äußeren Glieder eine Klammer bilden. Die Klammer­formhypothese sieht also folgende Struktur vor: Bier(l) + Glas(2) + Deckel(3)

Der Terminus Klammerform bzw. Trikomposita und die Begriffsbeschreibungen sind allerdings irreführend, weil der vermeintlich wegfallende Teil ja gar nicht in der Mitte des Kompositums steht, sondern morphologisch und semantisch zur ersten Einheit gehört. Insofern ist hier auch nichts dreiteilig. Wie bei Determinativkompo­sita die Regel, ist vielmehr auch ein Kompositum wie Bierglasdeckel binär: Bierglas(1) + Deckel(2)

Darüber hinaus ist die Klammerform als Erklärungsmodell hauptsächlich aus zwei Gründen zweifelhaft:

Erstens beruht die Klammerformhypothese auf der Annahme, dass die Einheiten in Komposita wie Bierdeckel in keiner sinnvollen Bedeutungsbeziehung zuein­ander stehen würden; zur Paraphrasierung des Kompositums müsse eine weitere Einheit hinzugefügt werden, z.B. 'Deckel für Bier(gläser)'. Schon diese Prämisse ist nur bedingt plausibel, denn Paraphrasen sind keine überzeugenden Argu­mente für morphologische Strukturen: Paraphrasen beschreiben in syntaktischer Form die Bedeutung eines komplexen Wortes, entsprechen aber nicht unbedingt dessen morphologischem Aufbau. Vor allem aber ist die Annahme einer fehlen­den Einheit keineswegs zwingend, denn gerade nominale Komposita sind semantisch weitgehend frei: In der Forschungsliteratur wird im Zusammenhang mit Klammerformen mitunter von „Schiefheiten in der Verknüpfung" gespro­chen. Formulierungen wie diese werten subjektiv und werfen Fehlerhaftigkeit vor, wo lediglich festgestellt werden kann, dass es im Deutschen regulär möglich ist, Bedeutungsbeziehungen zwischen Kompositaeinheiten vage zu lassen. Die Prägnanz von Komposita entsteht gerade daraus, dass nicht alles ex­plizit ausgedrückt werden muss. Bei den meisten Komposita bedarf es daher oh­nehin erläuternder Zusätze, z.B. Hutschachtel 'Schachtel, in der ein Hut aufge­hoben werden kann', Fischfrau 'Frau, die Fisch verkauft', Rotbuche 'Buche, die rotes Laub hat'. Niemand ist aber bislang auf den Gedanken gekommen, auch Komposita wie Hutschachtel, Fischfrau oder Rotbuche als Klammerformen zu postulieren, also als Hut(aufheb)schachtel, Fisch(verkauf)frau, Rot(laub)buche. Genauso klammerformlos wie Hutschachtel sind nun aber auch Komposita, die in der Forschungsliteratur als Klammerformen betrachtet werden, zu analysieren, z.B. Betriebslehre als 'Lehre darüber, wie ein Betrieb zu führen ist', Bierdeckel als 'Deckel, der irgendwas mit Bier zu tun hat'. Zudem sind einige der in der Forschungsliteratur als Klammerformen angegebenen Komposita wie Schlacht-(vieh)hof keineswegs nur mit den eingefügten No­mina zu verstehen, sondern ebenso gut als 'Hof, auf dem geschlachtet wird'. Hier stiftet die Klammerformhypothese also eher Verwirrung als dass sie etwas zu klären vermag.



Zweitens ist an der Klammerformhypothese unbefriedigend, dass offenbar nicht eindeutig geklärt werden kann, wie die vermeintlich fehlende Einheit denn nun genau lauten soll. So sind sich sogar Vertreter der Klammerformhypothese selbst nicht immer einig, was genau ausgelassen worden sein soll, vgl. Fern(melde)amt gegenüber Fern(sprech)amt. Zudem müssten eigentlich zur genauen semantischen Beschreibung mit­unter sogar noch viel mehr als die in der Forschungsliteratur angegebenen ein­teiligen Einschübe angenommen werden: So ist z.B. Akutbett keineswegs voll­ständig durch Akut(fall)bett bestimmt, strengenommen müsste angegeben wer­den, es handele sich bei Akutbett um eine Kürzung aus Akutfallklinikbett oder Akutfallkrankenhausbett oder Akutfallgemeinschaftsärztehausbett. Es hat also offenbar mitunter absurde Konsequenzen zu versuchen, die üblicherweise vagen Beziehungen zwischen den Einheiten gerade nominaler Komposita doch noch ir­gendwie morphologisch zu konkretisieren.

 


Date: 2015-12-17; view: 771


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