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Nazis für fünf Tage


Sie konnten den Faschismus nicht verstehen - plötzlich waren sie selbst Teil der Bewegung. An einer amerikanischen High School wagte der Lehrer Ron Jones 1967 ein radikales Experiment: Er drillte seine Klasse in Disziplin und Gemeinschaftsgeist. "Die Sache geriet rasch außer Kontrolle", erinnert sich ein Schüler. Von Christian Hambrecht

Ron Jones stand ratlos da. Es war April 1967 und der Lehrer gab Geschichtsunterricht an der "Cubberley High School" im kalifornischen Palo Alto; Thema "Drittes Reich". Ein Schüler hatte ihm eine Frage gestellt und er wusste einfach keine Antwort: "Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts von der Judenvernichtung gewusst zu haben? Wie konnten Dorfbewohner, Bahnangestellte, Lehrer, Ärzte behaupten, sie hätten nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst?"
Auch als die Stunde schon lange vorbei war, ließ den Lehrer diese Frage nicht los. Er beschloss ein außergewöhnliches Experiment zu wagen. Er wollte Nazi-Deutschland nachbauen, im Kleinen, im Klassenzimmer. Er wollte seine Schüler Faschismus erleben lassen, hautnah: den Horror, aber auch die Faszination. Am Montag stand er in der Klasse, anstatt normalen Unterricht zu machen, kommandierte er seine Klasse.
"Mr. Jones war für seine radikalen Lehrmethoden berüchtigt", sagt Phillip Neel, einer der damaligen Schüler. "Er hatte uns einmal in Zweiergruppen aufgeteilt. Einer von beiden musste tagelang mit verbundenen Augen rumlaufen. So wollte er uns lehren, was Vertrauen bedeutet." Ein anderes Mal verbot der extreme Lehrer einer Gruppe von Schülern für einige Tage bestimmte Toiletten im Schulgebäude zu benutzen. "Da wollte er uns etwas über Rassentrennung beibringen", erinnert sich Phillip Neel. Der damalige Schüler ist heute Fernsehproduzent und arbeitet zur Zeit an einer Dokumentation über Ron Jones' Experiment.

Schüler durch Drill so gut wie noch nie
Doch Jones war nicht nur für seine radikalen Lehrmethoden, sondern auch als echter Kumpeltyp bekannt - er lebte in einem Baumhaus und spielte Punk-Musik. An einem Montag aber befahl er den Schülern, sich zur besseren Konzentration richtig zu setzen; aufrecht, stramm - die Füße flach auf dem Boden, die Hände flach im Hohlkreuz. Dann kam der Geschwindigkeitsdrill: Aufstehen, Setzen, zack-zack. Immer und immer wieder. Am Ende standen die Schüler vor dem Klassenzimmer, Jones gab Startzeichen, sie liefen zu ihren Stühlen und setzten sich. Jones stoppte die Zeit: Fünf geräuschlose Sekunden. Und das nach wenigen Minuten Training.
Jones ging noch weiter. Er gab Anweisung, einen Text zu lesen. Anschließend Diskussion, aber nach strikten Regeln: Wer sich meldete, musste aufstehen, sich neben den Tisch stellen und "Mr. Jones" sagen. Erst dann durfte er zum Eigentlichen kommen. Hier war wichtig: Sich präzise und knapp fassen, deutlich sprechen! Wer gelangweilt oder schlampig antwortete, wiederholte seinen Beitrag, noch mal, immer wieder.



Jones blieb stur und staunte. Rebellen wurden zu Vorbildern, ihre Sätze waren klar, markant und mit Schneid vorgetragen. Es meldeten sich nicht mehr nur die üblichen zu Wort, sondern alle - das Niveau der Fragen und Antworten wuchs erstaunlich, man passte auf und hörte einander zu. Jones hatte gedacht, die Schüler fänden autoritäres Lernen lächerlich, würden sich verweigern, bocken - aber das Gegenteil war der Fall. Es war einfach gewesen, ihnen Disziplin und Drill abzuverlangen, unheimlich einfach. Sie waren produktiver als je zuvor.

"Ein Lehrer, dem wir vertrauten"
Am Dienstag betrat er das Klassenzimmer und ihn empfing eine regungslose Stille. Alle saßen aufrecht an ihren Pulten. Dabei hatte niemand von ihnen verlangt, das zu tun. Ihre Gesichter waren gespannt, konzentriert, keiner grinste. Sie warteten auf ihn, Ron Jones, ihren Lehrer. Er schrieb an die Tafel: "Stärke durch Disziplin" - "Stärke durch Gemeinschaft", dann sprach er zu ihnen. Die Schüler hingen an seinen Lippen, sie sahen zu ihm auf. Zum Ende der Stunde machte er eine kurze, zackige Bewegung mit der Hand: sie schoss vor, beschrieb eine steile Kurve nach oben und fiel wieder ab. Eine Welle. Jones stellte sie als neuen Gruß der Klasse vor, in der Schule und auf der Straße sollte sie zeigen, dass man Teil einer Bewegung war.
Jones nannte den Gruß "The Third Wave" - Die dritte Welle. Wellen kommen in Dreiergruppen, die letzte, die dritte aber ist die kräftigste, wenn sie auf den Strand trifft. Niemandem fiel die begriffliche Nähe zum "Dritten Reich" auf.
"Mr Jones war ein Lehrer, dem wir sehr vertrauten. Ich selbst machte auch mit. Es war ein großer Spaß, fühlte sich wie ein Spiel an. Zumindest am Anfang", erinnert sich Neel. Der Junge fand es damals einfach interessant, seinem Lehrer zuzuhören.

Jeder verpetzt jeden - zum Wohle der Gemeinschaft
In den nächsten Tagen ging Jones besonders aufmerksam durch die Schule. In der Cafeteria, in der Bücherei, in der Turnhalle nutzten Schüler den "Welle"-Gruß, wenn sie sich trafen. Das Experiment dehnte sich über das Klassenzimmer aus.
Am Mittwoch verteilte Jones Mitgliederkarten, auf dreien war ein rotes X. Es war ein Sonderauftrag: alle die zu melden, die sich nicht an die Regeln der Welle hielten. Dann predigte Jones wieder: Diesmal Taten, Einsatz für die Gemeinschaft bis hin zur Selbstaufgabe. Seine eigenen Worte ergriffen ihn, er schwankte in seiner Doppelrolle zwischen Führer und Lehrer, er war stolz auf die Leistungen seiner hoch motivierten Schüler, auf ihren Zusammenhalt. Er war stolz auf sich selbst.
Und dann waren da die Denunziationen. Drei Schüler hatte er beauftragt, Kritiker und Abweichler zu melden. Über zwanzig kamen. Sie berichteten alles, verrieten ihre besten Freunde, die über die Welle spöttelten, und ihre Eltern, die sich skeptisch zur Welle äußerten. Alles zum Wohle der Gemeinschaft. Die Bewegung war binnen dreier Tage zu ihrem Leben geworden.

"Da wurde mir klar, dass es außer Kontrolle geriet"

"Ich machte damals zwar mit, war aber eher ein Beobachter der Ereignisse", sagt Neel heute. Es hätte Schüler gegeben, die ganz und gar in der Bewegung aufgegangen seien, aber auch solche, die sich radikal dagegen entschieden. "Ich selbst habe erst Angst bekommen, als ich in der Pause gegenüber meinem besten Freund einen Witz über die 'Third Wave' machte und am nächsten Tag von Mr. Jones vor allen Schülern darauf angesprochen wurde." Neel wusste: Nur sein bester Freund konnte ihn verraten haben. "Doch der schaute nur stur geradeaus. Da wurde mir klar, dass es außer Kontrolle geriet."
Auch Jones bekam Angst, als so viele Schüler bereit waren, ihre Freunde für "die Sache" zu denunzieren. Er musste einen Weg finden, das Experiment zu beenden. Aber wie?
Am Donnerstag. Die Klasse war von 30 auf 80 angewachsen - die Neuen schwänzten ihren regulären Unterricht. Jones verkündete, dass "The Third Wave" Teil einer nationalen Jugendbewegung sei, die sich für politische Veränderungen im Land einsetze. Am Freitag werde ein Präsidentschaftskandidat um zwölf Uhr ihre offizielle Gründung bekannt geben. In der Schule solle eine Kundgebung stattfinden.
Ein bizarrer Zufall verlieh der Ankündigung des Lehrers damals Glaubwürdigkeit: Eine ganzseitige Anzeige im Time Magazine warb für ein Holzprodukt namens Dritte Welle. Die Schüler waren begeistert. "Da war keiner, der Mr. Jones nicht glaubte", erinnert sich Neel.

"Wir hätten gute Nazideutsche abgegeben"

Freitag-Mittag in der Schulaula. Über zweihundert Schüler saßen da, stramm, aufrecht, die Decke verhüllt von breiten "The Third Wave"-Banner. Jones grüßte zackig, 200 Arme hoben sich ihm entgegen, machten den "Welle"-Gruß. Das Experiment hatte fünf Tage gedauert. Doch schon das war zu lange.
"Natürlich", so Neel, "war ich auch bei der Veranstaltung. Es ist schwer, von außen zu begreifen, was für ein Gruppenzwang sich in den wenigen Tagen aufgebaut hatte."

In der Aula schaltete Ron Jones einen Fernseher ein. Eine flimmernde helle Fläche erschien. Die Schüler warteten. Der Bildschirm blieb hell, konturlos. Die Schüler aber warteten, sie waren geübt in Disziplin und Gehorsam. Doch nach einigen Minuten kam sie doch, die unvermeidliche Frage: "Es gibt gar keinen Führer, oder?" Entsetzen im Saal. Jones begann zu reden, nicht mehr scharf, laut, sondern weich, schuldbewusst: "Ihr habt recht. Aber wir hätten sicher alle gute Nazideutsche abgegeben."


Date: 2015-12-11; view: 892


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