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Bedeutung der Sprachtypologie für die Sprachbeschreibung

Wie oben schon gesagt, hängt die Typologie davon ab, daß gute Beschreibungen möglichst

verschiedenartiger Sprachen vorliegen. Man kann annehmen, daß die Typologie der Hauptabnehmer

für die umfassenden Beschreibungen der Sprachen des Kaukasus, des Himalaya, von

Amazonien und Australien ist, die in den letzten Jahrzehnten publiziert wurden. Den betreffenden

Sprachgemeinschaften jedenfalls werden sie in den wenigsten Fällen etwas nützen,

schon deshalb, weil sie meist auf Englisch verfaßt sind. Die Schreiber solcher Grammatiken

zielen oft bewußt auf Typologen als Leser, und das setzt natürlich voraus, daß die Grammatiken

typologisch informiert sind. Grammatiken sind in den letzten Jahrzehnten trotz der Unterschiedlichkeit

der dargestellten Sprachen tatsächlich einheitlicher im Aufbau und in der Präsentationsweise

geworden. Hat es noch in den siebziger Jahren vereinzelte Versuche gegeben,

eine generative Grammatik einer außereuropäischen Sprache zu schreiben, so hat sich der

funktional-typologische Ansatzin der Grammatikographie, vor allem exotischer Sprachen,

mittlerweile vollständig durchgesetzt. Dies ist der Informationshaltigkeit und Lesbarkeit der

Grammatiken sehr zugute gekommen.

Ebenfalls bis in die siebziger Jahre hatte es Sprachbeschreibungen gegeben, die entweder

in regionalen philologischen Traditionen wie etwa der Malaiologie oder der Bantuistik standen

oder sogar einem ausschließlich ihrem Autor bekannten Modell folgten. Das ist heute

vorbei. Alle Grammatiken unbekannter Sprachen stellen sich heute die Aufgabe, nicht nur die

Eigenart dieser Sprache herauszuarbeiten, sondern ihren Bau allgemeinverständlich darzustellen

und nicht nur die reinen Strukturen, sondern auch die von diesen erfüllten Funktionen

zu beschreiben. Für Sprachen, die über eine eigene nicht-alphabetische Schrift verfügen, wurde

diese früher in deren Grammatiken verwendet auch dann, wenn diese für europäische Leser

bestimmt waren. Heute wird lateinische Umschrift verwendet, es gibt zahlreiche Satzbeispiele,

und diese werden nicht nur übersetzt, sondern auch mit einer interlinearen morphologischen

Glosse versehen. Die Form der Glossen ist ihrerseits einigermaßen standardisiert, so

daß in der Tat jeder Linguist die Beispiele nachvo llziehen kann. Auch die Terminologie der

grammatischen Kategorienvereinheitlicht sich langsam, aber stetig. Solange die Deskribenten

exotischer Sprachen nicht typologisch informiert waren, erfanden sie für all die Kategorien

ihrer Objektsprache, welche ihnen in der Schulgrammatik nicht vorgekommen waren,

neue Termini. Heute haben solche Deskribenten eine typologische Ausbildung hinter sich und

sind einigermaßen auf fremdartige Strukturen gefaßt, erkennen sie, wenn sie auf sie stoßen

und bezeichnen sie mit etablierten Namen. Mittlerweile kommt es auch immer seltener vor,



daß in einer Sprache eine Kategorie entdeckt wird, von der die Typologie noch nichts weiß.

Aber die Typologie wird auch auf wohlbekannte Sprachen mit einer langen deskriptiven

Tradition ange wandt. Die zentralen europäischen Sprachen wie Latein, Französisch, Englisch,

Deutsch usw. verfügen über eine ehrwürdige eigene Philologie, die meist erheblich länger

braucht, die Errungenschaften der Sprachtypologie zur Kenntnis zu nehmen und fruchtbar zu

machen, als dies in der Beschreibung kleiner Sprachen geschieht. Die Idee des typologischen

Vergleichs und die damit verbundene Relativierung der Eigenschaften der vertrauten Objektsprache

ist vielen in solchen Traditionen arbeitenden Kollegen nach wie vor völlig fremd.

Viele von ihnen stehen den Anregungen der Typologie dennoch aufgeschlossen gegenüber,

Christian Lehmann, Bedeutung der Typologie für die Sprachwissenschaft 5

wie man etwa an typologischen Beschreibungen des Deutschen wie in Lang & Zifonun (eds.)

1996 oder meinen eigenen typologischen Beiträgen zum alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen

Kolloquium für Lateinische Linguistik ablesen kann. Derzeit erstellt eine Autorengruppe

eine neue Historische Syntax des Lateinischen auf typologischer Grundlage. Es gibt

dort z.B. ein Kapitel über Possession, welches man in keiner bisherigen Grammatik des Lateinischen

findet. Dort wird z.B. festgestellt, daß das Lateinische keine morphologische Unterscheidung

zwischen alienabler und inalienabler Possession macht, daß dieser Unterschied

in der Syntax jedoch durchaus eine Ro lle spielt und daß die Sprache mit ihrer Abneigung gegen

das Possessivpronomen bei Verwandtschafts- und Körperteiltermini – also gerade solchen,

welche in vielen Sprachen inalienabel sind – sich typologisch betrachtet durchaus in

einer Minderheit befindet.

Auf den Agenda der heutigen Linguistik steht an vorderster und dringendster Stelle die

Dokumentation bedrohter Sprachen. Dies ist eine Aufgabe sui generis, welche im Prinzip

von Feldforschern und deskriptiven Linguisten übernommen werden muß. Es ist jedoch festzustellen,

daß die Forscher, welche sich auf diesem Gebiet engagieren, ganz überwiegend aus

dem typologischen Bereich kommen. Die Typologie ist offensichtlich auch in der Ausbildung

des wissenschaftlichen Nachwuchses dazu geeignet, das Interesse für fremdartige Sprachen

und ihre Lebenssituationen zu wecken, und bereitet die jungen Leute noch am relativ besten

auf die durchaus neuartige Herausforderung vor, solche Sprachen durch Dokumentation vor

dem Vergessen zu bewahren.

5. Schluß

Es kann nach dem Gesagten kein Zweifel mehr bestehen, daß die Typologie in der Sprachwissenschaft

fest etabliert ist, vor allem deswegen, weil nicht nur ihr eigenes Erkenntnisinteresse

anerkannt ist, sondern weil sie in fruchtbarer Wechselwirkung mit anderen linguistischen Disziplinen

steht. Die Entwicklung unserer Wissenschaft ist in dieser Hinsicht durchaus optimistisch

zu beurteilen. Sprachtypologie ist nicht lediglich ein „Paradigma“ wie gewisse Modelle

der Sprachbeschreibung, sondern sie ist das auf Dauer notwendige Bindeglied zwischen dem

theoretischen Anliegen der Sprachwissenschaft und der Vielgestaltigkeit ihres Gegenstandsbereichs.

Bibliographie

Gabelentz, Georg von der 1894, "Typologie der Sprachen. Eine neue Aufgabe der Linguistik."

Indogermanische Forschungen 4:1-7.

Haspelmath, Martin 2001, "The European linguistic area: Standard Average European."

Haspelmath, Martin & König, Ekkehard & Oesterreicher, Wulf & Raible, Wolfgang

(eds.), Language typology and language universals. Berlin: W. de Gruyter (Handbücher

zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 20); 1492-1510.

Lang, Ewald & Zifonun, Gisela (eds.) 1996, Deutsch - typologisch. Berlin & New York: W.

de Gruyter (Institut für Deutsche Sprache, Jahrbuch 1995).


Date: 2015-12-11; view: 819


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