Der Beitrag der Sprachtypologie zur Sprachwissenschaft kann nur dann angemessen veranschlagt werden, wenn man sich darüber klar ist, was Sprachtypologie ist. Sie ist in erster Linie durch ihr Erkenntnisziel bestimmt, nämlich die Feststellung von sprachlichen Typen, das sind
Gestaltungsprinzipien des Sprachbaus. So wie der Begriff des Sprachtyps sich auf einer mittleren
Abstraktionsebene zwischen dem Begriff der Sprache qua ‚langage’ und der Sprache
qua ‚langue’ befindet, ebenso steht die Sprachtypologie auf einem mittleren Allgemeinheitsniveau
zwischen Sprachtheorie und Sprachbeschreibung.
Sprachtypologieist zunächst auf die Universalienforschungzugeordnet, und zwar so
eng und notwendig, daß die beiden kaum unterscheidbar sind. Zusammen konstituieren sie die
allgemein-vergleichende Sprachwissenschaft. Sie unterscheiden sich im Prinzip durch ihr
Erkenntnisinteresse: Sprachtypologie sucht nach sprachlichen Typen, Universalienforschung
sucht nach sprachlichen Universalien. Diese beiden Ziele und die zu ihnen führenden Aktivitäten
sind aber nicht zu trennen, weil es in beiden Fällen um allgemeine, für alle Sprachen
geltende Prinzipien geht. Man kann sagen, daß die beiden Disziplinen sich durch ihre Perspektive
unterscheiden: Die Universalienforschung blickt von den allgemeinen Prinzipien des
Sprachbaus auf das noch Allgemeinere, nämlich die Theorie der Sprache qua ‚langage’, und
versucht diese empirisch zu fundieren; die Sprachtypologie blickt von den allgemeinen Prinzipien
des Sprachbaus auf den Bau einzelner Sprachen qua ‚langues’ und versucht diesen zu
erklären.
Gelegentlich, vor allem von Vertretern der sog. „theoretischen Linguistik“, wird die
Sprachtypologie für eine Methode zum Zwecke der Gewinnung von Erkenntnis für die universale
Grammatik gehalten. Dies ist eine Verwechslung von Sprachtypologie mit der typologisch-
vergleichenden Methode. Die letztere ist in der Tat die wichtigste, wenn auch nicht
die einzige sprachtypologische Methode. Es ist aber gleichzeitig die konstitutive Methode der
Universalienforschung. Man kann sich für Sprachtypologie nicht interessieren, insbesondere
vielleicht auch deshalb, weil man nicht an die Ebene des Typs als eine mittlere Abstraktionsebene
zwischen dem Universalen und dem Sprachspezifischen glaubt. Man kann aber nicht
die Sprachtypologie zu einer Methode umdefinieren.
Christian Lehmann, Bedeutung der Typologie für die Sprachwissenschaft 2
Errungenschaften der Sprachtypologie
Bekanntlich lag die Sprachtypologie nach den großen Entwürfen des 19. Jh. und Georg von
der Gabelentz’ (1894) Forderung nach einer empirisch begründeten Sprachtypologie über
längere Zeit praktisch brach. Sie wurde in den sechziger Jahren des 20. Jh. i.w. durch Joseph
Greenberg auf eine neue Basis gestellt. Seine zwei wesentlichen Ideen waren sehr einfach:
Erstens ist es die Aufgabe der Sprachtypologie, Zusammenhänge sprachlicher Eigenschaften
ausfindig zu machen, und zwar vor allem implikative Zusammenhänge. Zweitens hat dies auf
der empirischen Grundlage einer großen Sprachenstichprobe zu geschehen. Dieses Programm
ist sehr fruchtbar geworden. Es ist i.w. identisch mit dem Programm, welches G. von der Gabelentz
in seinem Artikel über die Typologie der Sprachen von 1894 postuliert hatte, welches
er aber nicht mehr hatte umsetzen können.
Bereits im 19. Jh. haben Forscher wie W. von Humboldt und H.C. von der Gabelentz
große Mengen von Sprachen typologisch miteinander verglichen, um zu abgesicherten Generalisierungen
zu kommen. Im Laufe des 20. Jh. sind die Voraussetzungen dafür wesentlich
besser geworden. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind eine Fülle von ziemlich umfassenden
Beschreibungen von bis dahin kaum bekannten und sehr verschiedenartigen Sprachen erschienen,
die die Typologen fast nur noch in Teamarbeit auswerten können. Neuere Arbeiten
von Typologen wie M. Dryer, A. Siewierska, F. Plank fußen auf Stichproben, die Hunderte
von Sprachen umfassen. Um deren Eigenschaften präzise miteinander vergleichbar zu machen,
werden die Beschreibungen sorgfältig ausgewertet, und die sprachlichen Eigenschaften
werden in Datenbanken kodiert. Da auf der Welt noch zwischen 6.000 und 7.000 Sprachen
gesprochen werden, ist es mittlerweile kaum noch ein Problem, einer typologischen Studie
eine sowohl zahlenmäßig als auch in der geographischen und genetischen Streuung repräsentative
Stichprobezugrundezulegen. Heutige typologische Generalisierungen sind empirisch
so gut abgesichert wie nie.
Eines der augenfälligsten Ergebnisse solcher den Globus abdeckender Untersuchungen
ist, daß viele sprachlichen Eigenschaften, auf welche man Sprachtypen gegründet hatte, areal
ungleichmäßig verteilt sind. Man kann heute sicher sagen, daß Klicklaute auf Südafrika beschränkt
sind, daß sich Possessivklassifikatoren nur im zirkumpazifischen Raum finden, daß
es in Afrika keinen ergativen Satzbau gibt, daß es Modalkasus nur in Australien gibt und daß
Sprachen mit konzentrischem Satzbau, auch ‚head-marking’ genannt, sich in Amerika konzentrieren.
Solche arealtypologischenZusammenhänge werden neuerdings auch im Max-
Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig untersucht, weil man hofft, daß einige
dieser Sprachareale sehr, sehr alt sein könnten.
In einer solchen Perspektive sind mittlerweile auch die Sprache Europas neu in den Blick
genommen worden (vor allem in der von der Forschergruppe EUROTYP publizierten Typology
of Languages in Europe). Dabei ist natürlich auch die Erkenntnis abgefallen, daß einige typologische
Eigenschaften auf Europa beschränkt sind oder dort jedenfalls überproportional prominent
sind (vgl. Haspelmath 2001). Ein bekanntes Beispiel ist das Maß, in welchem das Subjekt
semantisch und kommunikativ funktionslos und also grammatikalisiert ist. Weniger bekannt
ist, daß sehr viele Ausdrücke, welche in europäischen Sprachen persönlich konstruiert
zu werden pflegen, in den meisten Sprachen der Welt unpersönlich sind. Eine weitere typisch
europäische und indogermanische Kategorie ist das Relativpronomen, welches sich in den
Relativsätzen der übrigen Sprachen der Welt nicht findet. Hier gestattet die Typologie einen
relativierenden Rückblick auf die vertrauten Sprachen unserer Umgebung und lehrt uns sehen,
in welchem Maße sie tatsächlich exotisch sind. Dies ist u.a. auch wichtig, um nüchtern einChristian
Lehmann, Bedeutung der Typologie für die Sprachwissenschaft 3
schätzen zu können, nicht nur zu welchen Verzerrungen in der Beschreibung außereuropäischer
Sprachen das Modell der lateinischen Schulgrammatik führen mußte, das ihr in früheren
Jahrhunderten normalerweise zugrundegelegt wurde, sondern wie stark auch neuere allgeme ine