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Die „klassischen“ Ansätze

Die Wahrnehmung der sowjetischen Dissidenten während der Ostpolitik 1969-1975

 

Schriftliche Hausarbeit

zur Erlangung des Grades eines

Bachelor of Arts

der Fakultät der Geschichtswissenschaft

an der Ruhr-Universität Bochum

 

vorgelegt

von

Mikita Merzlou

aus Minsk

 

Bochum, im September 2015

 

1. Gutachter: Prof. Dr. Stefan Plaggenborg

2. Gutachter: Prof. Dr. Constantin Goschler

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Ende der 1960er Jahre hatte sich der Prozess der Entspannung des internationalen Klimas zu entwickeln begonnen, der Mitte der 1970er Jahre seinen Höhepunkt erreichte und zum Durchbruch in Beziehungen zwischen dem Westen und dem Ostblock beitrug. Dieser Durchbruch fand seinen Niederschlag in den vielzähligen bilateralen und multilateralen Verträgen und Abkommen, die den Systemgegensatz durch die Schlichtung der am meisten konfliktfördernden außenpolitischen Fragen, die Etablierung des Systems der internationalen Sicherheit und die Förderung der Handelsbeziehungen bis zu einem gewissen Grad mildern konnten. Neben den Fragen und Problemen der Sicherheit, des Friedens und des Handels existierte auch die sogenannte dritte Sphäre der humanitären Zusammenarbeit, durch deren Förderung die Menschenkontakte und der Informationsaustausch zwischen den Gesellschaften beiderseits des Eisernen Vorhangs gefestigt werden sollten, was aber nicht verwirklicht werden konnte.

Obwohl die Beibehaltung der Unantastbarkeit der offiziellen herrschenden kommunistischen Ideologie und die daraus resultierenden Vorbehalten in der Kultur, dem freien Informationszugang und den Menschen- und Bürgerrechten in Ostblockstaaten und in erster Linie in der Sowjetunion als der Hauptgrund des Versagens einer der wichtigsten Seite der Entspannungspolitik bzw. der Förderung der gemeinsamen menschlichen Kontakte betrachtet werden dürfen, waren sie außerstande, weder das wachsende Interesse der westlichen Öffentlichkeit in Bezug auf die Probleme der Menschen-und Bürgerrechte, der nationalen Selbstbestimmung und insbesondere den Kampf der Einheimischen für diese für den Westen grundliegenden Werten einzudämmen, noch das Bestreben dieser einheimischen Kämpfer, im Westen Anklang zu finden, zu beseitigen. Dank diesem Umstand hat sich bis Mitte der 1970er Jahre die bestimmte Wahrnehmung der sowjetischen Dissidenten im Westen herausbilden können und das Wesen dieser Wahrnehmung ist im Zuge der Forschung festzulegen.

Dürfte es sich um die westliche Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses handeln, muss deren Forschung durch Differenzierung seiner westlichen Rezipienten vollzogen werden, da die jeweilige Gruppe der westlichen Rezipienten das Wesen des sowjetischen Dissenses von ihrem Standpunkt aus wahrnahm oder wahrnehmen konnte, was von Zusammensetzung der jeweiligen Gruppe bedingt wurde.



Es können drei Gruppen der westlichen Rezipienten festgelegt werden, und zwar die offiziellen Regierungskreisen, die Wissenschaftler, die sich professionell mit der Sowjetunion bzw. Russland befassten und die Publizistik, die die Meinung der Öffentlichkeit repräsentierte.

Die Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses von den Regierungskreisen der wichtigsten Verhandlungspartner der UdSSR bzw. von der BRD und den USA ist nicht nachvollziehbar, da die Führung dieser Staaten in dieser Zeit keine Stellungen in Bezug auf dieses Problem nahm. Deswegen kann diese Gruppe in die Forschung nicht mit einbezogen werden. Das Wesen der Wahrnehmungen des sowjetischen Dissenses von den sich damit befassenden Wissenschaftlern und der Publizistik ist als Forschungsgegenstand zu verstehen.

Die wissenschaftliche Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses dürfte sich auf zwei Ansätze stützen, und zwar den klassischen Ansatz und den funktionalistischen. Die Vertreter des klassischen Ansatzes Peter Reddaway[1], Abraham Brumberg [2] und Borys Lewytzkyj[3] analysieren den sowjetischen Dissens meistens aus historischer Perspektive bzw. als eine im Zuge laufenden Forschungsprozesses quasi von anderen „unhistorischen“ Faktoren wenig abhängige Erscheinung, deren chronologische Entwicklung und die Inhaltsbeschreibung im Mittelpunkt stehen.

Der Schwerpunkt des funktionalistischen Ansatzes wird von ihren Vertretern bzw. von Günter Bartsch[4], Zbigniew Brzezinski[5], Walter D. Connor[6], Theodore Friedgut[7], Wolfgang Leonhard[8] und Alexander Shtromas[9] durch die Durchführung soziologischer Analyse bestimmter Aspekte oder die Anwendung soziologischen Verfahrens in die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Kreisabschnitten des Dissenses miteinander und der Struktur der sowjetischen Gesellschaft versetzt.

Die Analyse des ersten klassischen Ansatzes vollzieht sich durch die aufeinanderfolgende Erklärung der zu ihm gehörenden Aspekte und des zweiten funktionalistischen durch die Erläuterung des ihm eigenen logischen Mechanismus. Die Aspekte des klassischen Ansatzes sind als das Begriffsverhältnis in Bezug auf das sowjetische Dissidentum, dessen Strukturierung und die Entwicklungstendenzen zu verstehen. Der logische Mechanismus des funktionalistischen Ansatzes lässt sich als der Zusammenhang zwischen der funktionssicher Grundannahme jeweiligen Autors, ihrer Anwendung als Instrument zur Forschung des sowjetischen Dissenses und den daraus herausgehenden Schlussfolgerungen, definieren.

Für die Erklärung dieser Ansätze wurde auch Sekundärliteratur zusätzlich eingesetzt, die die bestimmten Aspekte ausführlicher zum Ausdruck bringen lässt, und zwar die Aufsätze von Astrid von Borcke[10], Borys Lewytzkyj[11], Boris Meissner[12], Paul Roth[13] und Marshall D. Shulman[14].

Die publizistische und öffentliche Wahrnehmung des sowjetischen Dissenses spiegelt sich in den vielzähligen Aufsätzen und Zeitungs- und Zeitschriftartikel wider, in denen die prominenten Denker und Journalisten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ihre Stellung zum sowjetischen Dissens nehmen und dadurch als ein Sprachrohr der westlichen Öffentlichkeit gelten. Im Unterschied zu den wissenschaftlichen Kreisen beanspruchte die westliche Öffentlichkeit kein generalisiertes Wissen über den sowjetischen Dissens zu erwerben und reagierte auf diesen meistens in Form von persönlichen Stellungnahmen oder Berichterstattungen. Darüber hinaus lassen sich die Forschung und die Erklärung dieser Wahrnehmungsart nach den Reaktionen der jeweiligen Rezipienten auf den bestimmten Kreisabschnitt des sowjetischen Dissenses vornehmen. Es können 7 Kreisabschnitte des sowjetischen Dissenses festgelegt werden, und zwar die Person A. Sacharows und seine Dissensaktivitäten, die Person A. Solschenizyns und seine Dissensaktivitäten, die Personen anderer sowjetischen Dissidenten und ihre Aktivitäten, der Zustand der sowjetischen Führung und der sowjetischen Gesellschaft als der unmittelbare Umfeld oder der Angriffsobjekt der sowjetischer Dissidenten, die Frage der Judenauswanderung, der Nationaldissens und das unpolitische sowjetische künstlerische oder konterkulturelle Milieu. Im Rahmen dieser Arbeit kann die publizistische Wahrnehmung nur der ersten drei Kreisabschnitte dargestellt werden. Um diese Wahrnehmungsart erklären zu können, waren die Stellungnahmen zum politisch-philosophischen Denken A. Sacharows von Heinrich Böll[15], Louis Fischer[16], William Hayter[17], Jean Laloy[18], Pietro Quaroni[19] und zur Position A. Solschenizyns von Michael Morozov[20] und der Aufsatz von André Martin[21] in die Forschung einzubeziehen. Den im Zeitraum von 1969 bis 1975 47 herausgegeben Artikel von „Spiegel“, deren Liste im Quellenverzeichnis zur Verfügung gestellt wird, ist die Übersicht der westlichen Öffentlichkeit über jeden Kreisabschnitt des sowjetischen Dissenses auch zu entnehmen.

Die „klassischen“ Ansätze

2.1. Der erste Aspekt.

Der erste Aspekt dieses Ansatzes ist als Begriffsproblem zu verstehen bzw. wie die Bewegung der sowjetischen Dissidenten oder des Dissidentums von den jeweiligen Autoren definiert wird.

Lassen sich die Aufsätze der Vertreter beider Ansätze betrachten, ist die Verschwommenheit des Verhältnisses zwischen den Begriffen „Dissens und Opposition“ auffällig. Berücksichtigt man den ersten „klassischen“ Ansatz, ist die Festlegung eines klaren Verhältnisses zwischen den beiden Begriffen nur bei P. Reddaway festzuhalten, der der Opposition das Bestreben, an Ort und Stelle der schon existierenden Führung zu regieren, zuschreibt, während der Dissens die Missbilligung der Maßnahmen der Regierenden und die Feststellung der artikulierenden Anforderungen sowohl durch genehmigte als auch ungenehmigte Mittel anstrebt. Diese klare Trennung ist von der totalitären Natur des sowjetischen Regimes bedingt ist, die kein Bestehen einer oppositionellen Organisation dulden kann.[22] Um seine Haltung zusätzlich zu untermauern, greift P. Reddaway zu der Selbstwahrnehmung der sowjetischen Dissidenten, die sich selbst gerade als die Vertreter des Andersdenkens wahrzunehmen und zu bezeichnen neigen:

„ […] the 2000-odd documents and books of samizdat which have reached the West in the last decade from extra-systemic sources contain very few references to any ‘opposition’ in the USSR today. Their authors use most frequently about themselves and their colleagues the word dissenters [inakomyslyashchie]. And such people are usually regarded as expressing dissent [inakomyslie], either in their writings or by their ‘actions in defence of human (or national) rights’ “[23]

Andererseits geht P. Reddaway davon aus, dass der sowjetische Dissens über die protooppositionelle Züge verfügt, da z.B. die sowjetischen Dissidenten wie A. Sacharow oder R. Medwedew die Vorschläge der Verbesserung des existierenden Systems ausarbeiteten, die aus den Entwürfen eines Systemwandels bestehen, deren Autoren sich aber jeder oppositionellen Tätigkeit wegen der Gefahr der Repressalien enthalten und darüber hinaus dürfen sie auch als intellektuelle Opposition bezeichnet werden[24].

Obwohl A. Brumberg keine klare Trennungslinie zwischen den beiden obengenannten Begriffen zieht und nur auf die Vielfalt der Kampfmittel der Dissidenten oder der Oppositionellen und deren Evolution hinweist, scheint er sie als „Demokratische Bewegung“ zusammenfassen und im Unterschied zur begrifflichen Differenzierung von P. Reddaway eine begriffliche Generalisierung durchzusetzen[25]. Ausgehend von Zusammensetzung der „demokratischen Bewegung“, deren Vertreter der Intelligenz zugezählt werden können, bezeichnet A. Brumberg den sowjetischen Dissens durch den Begriff „Opposition von Intellektuellen“[26], der sich auch im Titel seines Aufsatzes wiederspiegelt, aber mit dem Begriff die „intellektuelle Opposition“ von P. Reddaway nicht gleichgesetzt werden darf, da dieser nicht aus der Zusammensetzung, sondern dem System der obengenannten Taktiken und Verfahren hervorgeht.

B. Lewytzkyj geht vom Wachstum der kritisch Denkenden in der sowjetischen Gesellschaft in den 1960er Jahren aus, die auch zu politischen Engagement bereit waren und als die mit den herrschenden Verhältnissen auseinandersetzende „politische Opposition“ wahrgenommen werden dürfen[27]. Sie sollte sich aber von der „literarischen“ Opposition unterschieden und setzt sich aus den linken Kreisen zusammen, die als wichtigste Initiatoren einer kritischen Oppositionsströmung wirkten[28]. B. Meissner weist darauf hin, dass es sich in den meisten Zwischenfällen nicht einmal um Opposition, sondern bloß um Streben nach Information oder um mutige und vorurteillose Diskussion wichtiger gesellschaftlicher Fragen[29] geht.

Fasst man die Analyse des ersten Aspekts zusammen, zieht P. Reddaway vor, auf der Grundlage klarer Begriffsdifferenzierung eher den Begriff „Dissens“ in Bezug auf die Erscheinung des sowjetischen Dissidentums zu verwenden, während A. Brumberg das sowjetische Dissidentum sowohl mit der Opposition als auch mit dem Dissens gleichsetzt und sie als „demokratische Bewegung“ generalisiert. Dieser Bedeutung dürfte auch die von B. Meissner eingesetzte Sacharowsche Definition „demokratische Opposition“ zugezählt werden, die sich aus den sich immer mehr politisierenden Kreisen sowjetischer systemkritischer Intelligenz zusammensetzt[30]. Mit einigen Vorbehalten nennt B. Lewytzkyj das sowjetische Dissendentum direkt „politische Opposition“.

Der zweite Aspekt des klassischen Ansatzes lässt sich als Feststellung verschiedener Ideenströmungen des sowjetischen Dissenses und der jeweiligen sich zu einer oder anderer Ideenströmung bekennenden Anhängerschaftgruppen begreifen.

Im Rahmen dieses Ansatzes wurde die detaillierteste Strukturierung des sowjetischen Dissens oder des Dissidentums von P. Reddaway ausgearbeitet. P. Reddaway ging von der Existenz der Hauptdimensionen des Dissenses aus, zu denen die Opposition innerhalb des Parteiapparates, der Mainstreamdissens, der Russische nationalistische Dissens, der Nationaldissens oder der Dissens der nationalen Minderheiten, der Religionsdissens und der Dissens der Arbeiterklasse zugeschrieben werden[31]. Der Forschungsprozess beschränkt sich auf drei erste wichtigste Hauptdimensionen, die den sowjetischen Dissens im engeren Sinne darstellen, und zwar auf den Parteidissens, den neoleninistischen oder neomarxistischen Dissens, den liberalen oder legitimistischen Dissens und den russischen nationalistischen Dissens.

P. Reddaway, B. Lewytzkyj und B. Meissner widerlegen die angebliche monolithische Struktur der KPdSU. P. Reddaway erkennt das Vorhandensein der formell verbotenen Interessengruppen an und behauptet, die Opposition innerhalb des Apparates dürfe als die einzige signifikante Opposition in der heutigen Sowjetunion betrachtet werden[32]. B. Lewytzkyj betrachtet die Struktur der KPdSU als ein Kraftverhältnis zwischen den dominierenden „gemäßigten Zentristen“, dem „rechten Flügel“ der Hardliner und der schmalen und einflusslosen Schicht der Reformkommunisten, was seiner Meinung nach die Perspektivlosigkeit der Betrachtung der Partei als einer oppositionellen Kraft voraussetzt[33]. Und B. Meisner begreift den Dissens in der Partei als eine Dissonanz zwischen den beharrlichen Forderungen jüngerer Generation der pragmatischen Technokraten nach der stärkeren Effizienz des ganzen Systems und dem unverweilten Widerstand der Führung, jegliche Reformen durchzuführen[34].

P. Reddaway analysiert die zweite Hauptdimension des sowjetischen Dissenses, die er als „Mainstreamdissens“ bezeichnet. P. Reddaway[35] und A. Brumberg[36] stimmen im Wesentlichen überein, wenn sie die genaue Zeit der Entfaltung dieser bekanntesten Hauptströmung des sowjetischen Dissenses als die zweite Hälfte der 1960er Jahre festlegen. P. Reddaway geht es um die Abschaffung des Massenterrors nach dem Tod J. Stalins und die ideologische Erstarrung der Partei als die Hauptvoraussetzungen für diese Entfaltung, die sich auch als die Repolitisierung der sowjetischen Gesellschaft definieren lassen[37], und als der unmittelbare Anlass dürfen die Repressalien gegen die Intelligenz in der Zeit nach dem Stürz N. Chruščows gelten, die von den breiten Schichten der Intelligenz als erste Zeichen der Rückkehr des Stalinismus wahrgenommen wurden, gegen die man sich frühzeitig widerstehen soll[38]. B. Lewytzkyj hält auch den Tod J. Stalins und insbesondere den XX. Parteitag für die entscheidende Zäsur, nach dem Resignation und Apathie, die jegliches politische Interesse oder Engagement in der Bevölkerung jahrzehntelang erstickt hatten, allmählich aufgebrochen wurden[39] und den Furcht vor der Restalinisierung der Gesellschaft in den Anfangsjahren der Brežnew-Ära für einen Anreiz, der die weitere Entwicklung der „demokratischen Bewegung“ angespornt hat[40]. P. Roth geht davon aus, dass seit J. Stalins Tod die Veränderungen eingetreten sind, die das Regime verunsichert und gezeigt haben, dass Reglementierung und Indoktrinierung zur Lenkung der sowjetischen Gesellschaft offensichtlich nicht ausreichen und Regime stärker als zuvor — vor allem wegen des Wettlaufs mit den sogenannten kapitalistischen Staaten—auf die „Intelligenzija“ angewiesen, die ihrerseits mehr Demokratie und Freiheiten zu verlangen begann[41].

Der Mainstreamdissens setzt sich aus drei Gruppen bzw. aus einer von Neoleninisten und Neomarxisten, zweiter von Liberalen und Geistwissenschaflern und dritter von liberalen russischen Nationalisten[42]. A. Brumberg teilt die Hauptströmung des sowjetischen Dissenses in die Gruppe von Legalisten und die Gruppe der Neomarxisten[43]. Die fast ähnliche Haltung vertritt B. Lewytzkyj, der zwar einen Unterschied zwischen den „Linken“ und den „Liberalen“ und ihren Programmschriften macht, aber die Liberalisierung der Dissidenten eher als Ergebnis der erzwungenen Radikalisierung der ehemaligen aufrichtigen Kommunisten oder Sozialisten durch die brutale Unterdrückung von Regime betrachtet. B. Lewytzkyj stimmt teilweise mit anderen obengenannten Autoren überein, denen es um die zunehmende Radikalisierung und Liberalisierung der Weltanschauung A. Sacharows geht[44][45], verweist aber auf die marxistische Sprache und Ausrichtung der zum dem Feder des sich Mitte 1970er vom Kommunismus losgesagten A. Sacharow gehörenden Schriften[46]. A. Brumberg hält fest, die sich selbst als treue betrachtende Marxisten-Leninisten Vertreter des Dissenses haben den Akzent auf allmähliche wirtschaftliche, soziale und politische Reformen gelegt[47]. Die Haltung des Regimes bezüglich dieses Trends blieb widersprüchlich, indem es einerseits das KGB seit der Unterdrückung des Prager Frühlings einige neomarxistische Gruppen und Vertreter wie P. Grigorenko und A. Kosterin unterdrücken, nachdem es hatte verstehen müssen, wozu der Reformkommunismus würde führen können, aber andererseits den anderen Vertreter R. Medwedew weiter agieren ließ[48]. Dieser Widerspruch wird von P. Reddaway als ein Zeugnis des Vorhandenseins der Reformkräfte in dem Parteiapparat[49] verstanden und B. Meissner geht davon aus, dass es auch im KGB und den Militärkreisen die Reformkräfte geben kann, die die Vernichtung der Reformanstöße in Tschechoslowakei nicht positiv wahrgenommen haben können und über das Mitgefühl in Bezug auf die neomarxistischen oder neoleninistischen Personen oder Gruppen verfügen können[50]. B. Lewytzkyj weist darauf hin, diese Parteireformschicht sei zahlenmäßig klein und in den führenden Gremien nicht vertreten[51]. B. Lewytzkyj nennt die Punkten, auf die die Kritik der Vertreter der linken Ideenströmung gerichtet war, und zwar auf die ideologische und Kadererstarrung der Partei, den in der Allmacht der Partei und der Staatssicherheitsorgane und die Entmündigung der Räte niedergeschlagenen Herrschaftsmechanismus, die brutale nationale Politik und den Mangel an Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit[52]. Die Frage war auch, ob das ganze sowjetische System abgelehnt werden sollte oder einige Werte und Errungenschaften übernehmbar sind[53]. Die zu fordernde Demokratisierung wurde von den „ Linken“auch als die Grundvoraussetzung für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt des Landes und seine internationale Konkurrenzfähigkeit betrachtet[54].

Trotzdem ist das Regime gegenüber den Neomarxisten und Neoleninisten ungeduldig geblieben, dessen brutalen Maßnahmen gegen den bestimmten linksgesinnten Dissensgruppen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von B. Lewytzkyj ausführlich beschrieben werden[55]. A. Brumberg zufolge führte dieser Prozess zum Übergewicht der demokratischen Oppositionellen, die offenbar jede Illusion über den Marxismus verloren hatten und abgesehen davon, ob ihre Zahl zunimmt oder kontant bleibt, sich dadurch radikalisierten und zu den liberalgesinnten Dissidenten wurden[56]. Die Bedeutung dieses zweiten Trends des Mainstreams sei viel wichtiger, so P. Reddaway[57].

P. Reddaway, A. Brumberg und B. Lewytzkyj bringen den Hauptunterschied zwischen den „Liberalen“ oder „Legalisten“ und den „Linken“ zum Ausdruck, indem sie festhalten, dass im Vergleich mit den „Linken“, die als sein Kampfmittel für den Systemwechsel die direkten Reformforderungen und die heftige Systemkritik verstehen, tendieren die „Liberalen“, sich auf eine schlagkräftige, aber durchdachte Kritik an der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ zu beschränken, um in erster Linie „legalistisch“ im „Übereinstimmung mit den Gesetzen des Landes“ für die Einhaltung vom Regime eigener sowjetischen Gesetze zu kämpfen[58], also durch die prinzipielle Ablehnung auch der halblegalen Methoden und auf der Grundlage strikter Beachtung der geltenden Gesetze ihre Ziele zu erreichen[59]. Als erster Grundsatz der „Liberalen“ dürfen die Verfechtung der menschlichen Anständigkeit und das Bekennen zur gegenseitigen Hilfe, die dem jeden für seine Ideen verfolgten Individuum geleistet werden soll, gelten[60]. P. Roth stützt sich auf das „Memorandum“ A. Sacharows und bringt zum Ausdruck zweite wichtige Forderung der „Liberalen“ nach Meinungs-und Informationsfreiheit im Lande[61]. Neben den Kampf für die Meinungs- und Redefreiheit bezeichnen die Forscher auch das Streben nach dem freien Informationsaustauch mit dem Westen als noch eine wichtige Forderung der Liberalen, sowie die Aufhebung der schmählichen Praktik der Sperrung der Andersdenkenden in den Gefängnissen oder Irrenanstalten, die z.B. in einem Brief der sowjetischen demokratisch gesinnten Wissenschaftler A. Sacharow, W. Turčin und R. Medwedew an die Parteiführung von 1970 zum Ausdruck gebracht wurden[62]. P. Reddaway“, der die Werte der sowjetischen „Liberalen“ mit den westlichen demokratischen Idealen gleichsetzt, hebt die besondere Bedeutung des Westens für die „Liberalen“ hervor, an den sie appellieren und auf dessen Unterstützung sie hoffen und warten, und ihre Befürchtungen, dass im Rahmen der internationalen Entspannung das Regime die Naivität des Westens für die Stärkung der Unterdrückung der Dissidenten zuhause ausnutzen kann[63]. Deshalb beharren nicht nur die „Liberalen“, sondern auch andere Dissensströmungen darauf, dass der Westen die außenpolitischen Zugeständnisse der Sowjetunion mit den Forderungen nach Lockerung des innenpolitischen Drucks der Dissidenten koppeln sollte[64]. In Bezug auf diesen Aspekt hebt B. Lewytzkyj den prinzipiellen Unterschied zwischen den „Linken“ und den „Liberalen“ hervor, dass die „Linken“ die „Liberalen“ vorwerfen, im Westen oft die falschen Adressaten zu finden, wenn ihre Aufrufe von den westlichen Konservativen und Rechten ausgenutzt wurden, um das gesamte sowjetische System zu diskreditieren und dadurch dem Regime noch einen Anlass zu geben, die Repressalien zu verschärfen[65].

Alle Forscher betonen die hervorragende Rolle A. Sacharows, die er in diesem „liberalen“ Trend spielt, den A. Brumberg einen der bekanntesten Vertreter der „Legalisten“ nennt, und dessen entscheidende Bedeutung für den anderen Bürgerrechtler von P. Reddaway hervorgehoben wird. Diese geht aus der halbgesicherten Stellung dieses berühmten Wissenschaftlers hervor und auf die das KGB den Rückhalt nehmen und dadurch auch auf die Tätigkeit anderer Dissidenten, die bloß wie prominenter A. Sacharow handeln, vorsichtiger und rücksichtsvoller reagieren muss[66]. Trotzdem erkennen die Forscher und insbesondere P. Reddaway, der mit dieser Ideenströmung am meisten sympathisiert und die im gewissen Grade überschatzt[67], die Möglichkeitsgrenzen dieses Trends an. Die Anhänger dieses Trends hatten das großzügige und komplizierte System des Informationsaustausches im Inland und mit dem Ausland entwickelt und die Bindungen an andere nationalen oder religiösen Dissensgruppen geschaffen[68], worauf das Regime seit Ende 1971 mit brutaler Härte reagierte und diesem „legalistischen“ oder „liberalen“ Trend den großen Schaden zufügte, wodurch die Hälfte erster Generation der Dissidenten bis zum Ende 1974 auf eine oder andere Weise vom Regime neutralisiert wurde[69]. Dem Versagen des „legalistischen Flügels“ stimmt auch B. Lewytzkyj zu, indem er die Wörter A Sacharows von 1974 zum Ausdruck bringt, der Anspruch auf Gesetztreue sei hoffnungslos[70].

Wenn die relative Einigung zwischen den Forschern auf die Festlegung der Rahmen und Inhaltsstruktur der „linken“ und „liberalen“ Trends des Mainstreams zu beobachten ist, ist das nicht der Fall bei der Wahrnehmung der „rechten“ oder russisch nationalistischen Ideenströmung. A. Brumberg macht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppierungen dieser Ideenströmung und generalisiert sie als den „rechten Flügel“, der sich auf die Ideen des antiwestlich ausgeprägten Slawophilentums des 19. Jahrhundert stützt und in einigen Fällen den Rückhalt und die Unterstützung des Regimes, in Form von Billigung sich offiziell zu veröffentlichen oder die Verbände zu gründen, findet[71]. Im Gegensatz zu dieser Position teilt P. Reddaway den „rechten Flügel des Dissenses“ von A. Brumberg auf den liberalen russischen Nationalisten, die als der dritte Trend zum Mainstream zugeschrieben sind, und den viel chauvinistisch ausgeprägten russischen nationalistischen Dissens[72]. P. Reddaway bezeichnet den Dissens der liberalen russischen Nationalisten als nicht besonders stark und einflussreich und beurteilt sein Wesen nach den zwei wichtigsten Vertretern dieser Ideenströmung bzw. A. Solženizyn und W. Osipow, die sich durch das Bekennen zu den „russischen Patriotismus und Traditionen“ und die persönliche Freundschaft mit „Liberalen“ und dem gemeinsamen Kampf mit ihnen für die Basisrechte charakterisieren lassen[73]. Die Komplexität der Struktur des russischen nationalistischen Dissenses lässt sich auch durch den Kampf zwischen den verschiedenen Flügeln dieser Ideenströmung und die Haltung des Regimes in Bezug auf die feststellen, indem das Regime die Instrumentalisierung dieser Strömungen durch die Taktik des Zuckerbrots und der Peitsche anstrebt, was P. Reddaway zufolge durch den Wunsch des KGBs diesen „inoffiziellen“ Patriotismus unter Kontrolle zu halten und das Vorhandensein einiger nationalistisch gesinnten Sympathisanten in den Zentralgremien der KPdSU und des KGBs erklärt werden könnte[74].

Als dritter Aspekt sind die Tendenzen und Aussichte der Entwicklung des sowjetischen Dissenses darzustellen, die von den Forschern in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zum Ausdruck gebracht wurden. In erster Linie einigen sich die Forscher darauf, dass der Einfluss des sowjetischen Dissenses auf die gesamte Gesellschaft und die Stabilität des Regimes gegenwärtig nicht überschätzt werden darf. A. Brumberg weist auf die Organisationsschwäche, kleine Mitgliedschaftszahl, den Parteiengezänk und der inhaltlichen Naivität, Utopie und Verworrenheit ihrer programmatischer Schiften hin[75] und P. Reddaway setzt als Beweis die eigene Selbstbewertung der sowjetischen Dissidenten ein, die weder eine mächtige Druckgruppe haben schaffen, noch einen kontinuierlichen Einfluss auf das Regime ausüben können[76]. B. Lewytzkyj verweist auch darauf, dass das Vorhandensein der Opposition im Land nicht den kurz bevorstehenden Sturz des Regimes bedeutet, weil es ihr an die millionenstarke Anhängerschaft fehlt und die progressive Bewegung in der Sowjetunion im Großen und Ganzen schwach ist[77].

P. Reddaway fast zusammen, dass obwohl die sowjetischen Dissidenten eher den Dissens, als politische Opposition zu repräsentieren vermag und das Regime zu keinen Zugeständnissen haben zwingen können, förderten sie den Prozess der Repolitisierung der Gesellschaft und des Autoritätsverlustes der KPdSU, indem die Zahl der von Dissidenten herzustellenden und zu verbreitenden alternativen Informationen und Ideen im Laufe der 10 Jahre seit Mitte der 1960er vom Nichts bis zum einen signifikanten Niveau gestiegen ist[78], was von P. Roth als Etablierung der Gegenmedien in der Sowjetunion bezeichnet wurde, deren Bedeutung er sich aber nicht zu überschätzen beeilt, da sich das Monopol der Staatsmedien noch nicht durchbrechen lässt[79]. P. Reddaway resümiert, dass der Zusammenspiel der zwei Faktoren bzw. einerseits des Auftauchens und der Stärkung der Reformkräften in der Partei selbst und andrerseits der stärkerer Politisierung und größerer Entschlossenheit der zweiten Generation der Dissidenten, die zu einem gemeinsamen Dialog würden kommen können, einen realen politischen Wandel in der UdSSR hervorzurufen imstande sein würde[80].

A. Brumberg fasst zusammen, dass trotz des ideologischen Parteiengezänks und der organisatorischen Zersplitterung das sowjetische Dissidentum einig und solidarisch bei Bekämpfung der totalitären Natur des sowjetischen Regimes zu agieren vermag und ihre Ansichten und Absichten sich bis zu voller Ablehnung des gesamten Sowjetsystems zu radikalisieren scheinen und deren Aufrufe immer mehr auf die breite Bevölkerung gerichtet werden, deren Unzufriedenheit permanent zunimmt und als fruchtbarer Boden von Dissidenten ausgenutzt werden könnte; es gibt außer dem kaum wahrscheinlichen Zusammenbruch der Ost-Westbeziehungen tatsächlich nichts, was das Rad der Geschichte zurückdrehen und dem Regime ein Mittel geben könnte, den Dissens völlig auszurotten[81].

Und was die Meinung der Forscher in Bezug auf die Aussichte des Parteiendissenses angeht, behauptet P. Reddaway, die Parteiführung würde in den sich rasch wechselnden Bedingungen der unabsehbaren Zukunft fähig und offen für die Wahrnehmung neuer Ideen außerhalb des Establishments und das Schmieden einen Bündnisses mit einigen Dissidenten werden können[82]. Diese Perspektive betrachtet B. Meissner viel skeptischer, wenn er auf die ideologische Erstarrung der Partei, die Weigerung der Parteiführung, jegliche Reformmaßnahme vorzunehmen, und deren aggressive Haltung gegenüber „jeglichen bourgeoisen Ideologen und Revisionisten“, die auf dem XXIV. Parteitag in Erscheinung trat[83], hinweist, wo sich auch L. Brežnew persönlich gegen diejenigen Literaten wandte, die bei der Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit zu weit gehen[84]. Und die mögliche Übernahme der Regierung durch die Reformkräfte in der Partei versteht B. Lewytzkyj als einen natürlichen Generationswechsel, wenn die nächste Führungsgeneration die jetzige stalinistische Generation im nächsten Jahrzehnt ablöst und sich von den stalinistischen Verhaltensweisen lossagen, um die Disfunktionalität des Systems zu beseitigen und ihre Führungspositionen behalten zu können[85].

Die Tatsache des Vorhandenseins der politischen Opposition in der Sowjetunion hält B. Lewytzkyj als für ein Symptom für den nicht umkehrbaren Emanzipationsprozess der sowjetischen Gesellschaft und tendiert die Fähigkeit der sowjetischen Führung einen Dialog mit den sowjetischen Dissidenten zu skeptisch zu bewerten, was sich in weiter Frustration der noch gemäßigten Oppositionellen und in einem verborgenen Hass der breiten Bevölkerungsmassen gegenüber dem Sozialismus niederschlägt[86].

Fasst man die Betrachtung der zweiten und dritten Aspekte des „klassischen“ Ansatzes zusammen, ist das Einvernehmen zwischen den Forschern im hohen Grade zu beobachten, deren Strukturierungen des sowjetischen Dissenses und die Tendenzen seiner Entwicklung im wesentlichen über die ähnlichen Bestandteile und Risse verfügen. Die Strukturierungsunterschiede lassen sich nach dem Legen des Schwergewichts verstehen. P. Reddaway akzentuiert den liberalen Trend des sowjetischen Dissenses und scheint seine Bedeutung mit allem Nachdruck betonnen zu wollen, B. Lewytzkyj hebt die Bedeutung des linken neomarxistischen oder neoleninistischen Flügels als wichtigste Triebkraft des sowjetischen Dissenses hervor und A. Brumberg scheint zur Betonnung der Hauptrolle aller beiden Trends des „Dissensmainstreams“ zu neigen. Die Forscher erkennen die großen Leistungen des Mainstreamdissenses an, überschätzen aber die Mitte der 1970er vorhanden Ergebnisse seiner Tätigkeit nicht und stimmen überein, dass die Hauptleistung der sowjetischen Dissidenten die Schaffung einer Grundlage für die noch größeren Verbreitung und Vertiefung des Dissenses in allen Schichten der sowjetischen Bevölkerung in den kommenden Zeiten ist.

Was den Parteiendissens angeht, stimmen die Forscher überein, dass die künftige Entwicklung der KPdSU und das anscheinend stabile Kraftverhältnis zwischen den verschiedenen Flügeln nicht überschaubar und offen bleiben. Trotzdem versuchen sie verschiedene Möglichkeiten dieser Entwicklung zu konzipieren und die Hypothese von B. Lewytzkyj scheint am präzisesten zu sein, indem er die Tendenz der Entwicklung der KPdSU in den groben Umrissen in den 1980er Jahren hat voraussagen können.


Date: 2015-12-11; view: 666


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