»Der König in Thule« entstand 1774. Gewiß ist es kein Zufall, daß Goethe sich mit Thule ein legendäres nördliches Reich wählte, dessen Lage von Ptolemäus etwa dort angenommen wurde, wo die Shetlandinseln liegen. Dunkler schottischer Balladenzauber oder die Überredungsmacht der Ferne werden wohl seine Wahl mitbestimmt haben. Die vorliegende Fassung ist insofern für Goethe bezeichnend, als hier, wie so oft bei ihm, der festgehaltene, der gebannte Augenblick weit über sich hinausweist und ein ganzes Lebenspanorama erschließt. Der König stirbt, auch seine Zeit muß enden, doch wir erleben keinen lakonischen Abschied von der Welt, sondern, wie es dem patriarchalischen Stil des Sterbens entspricht, einen höchst bedeutungsvollen Augenblick bilanzierter Selbsterfahrung. »Und als er kam zu sterben, / Zählt' er seine Stadt' im Reich«: Wie es die Lage verlangt, geht der König noch einmal seinen weltlichen Besitz durch, hält sich jedoch überhaupt nicht mit Erbschaftsproblemen auf— ein zumindest ungewöhnlicher Vorgang in einem Herrscherhaus -, sondern überläßt beziehungsweise »gönnt« alles bereitwillig denen, die nach ihm kommen. Das irdische Gut ist offensichtlich wertlos für ihn geworden. Was, zurückblickend auf verflossenes Leben, allein Bedeutung für ihn hat, ist ein goldener Becher, den er von seiner sterbenden Geliebten erhielt: »Es ging ihm nichts darüber ...« Dieser Becher, das ist klar, ist ein Symbol der Liebe. Bilanzierend gesteht der König sich ein, daß sie die wesentlichste Erfahrung seines Lebens ist, der kostbarste Besitz, so geheim und überwältigend, daß er nicht weitergegeben werden kann. Aber auch für Liebestreue ist der Becher ein Symbol, denn jedesmal, wenn der König aus ihm trank, erinnerte er sich an die Geliebte, und ihm »gingen die Augen über«, - Luther fand diesen Ausdruck für »weinen«. Der königliche Zecher beweinte eine Geliebte, die, wie man wohl sagen kann, nicht seines Standes war, aber wie bei Goethe anzunehmen ist, weinte der König noch über etwas anderes, nämlich über der Liebe Endlichkeit. Wie alles, ist auch sie der Zeitlichkeit unterworfen, kann nicht dauern, »letzte Lebensglut« wird von Asche gedeckt.
Bei dem standesgemäßen Sterben vor versammelter Ritterschaft demonstriert der König, worin er den Mittelpunkt der Welt erkannt hat. Diese Erkenntnis, an den Becher gebunden, ist unveräußerlich — vielleicht mißgönnt er sie sogar den ändern. Vor aller Augen nimmt er einen letzten Schluck: »Und warf den heil'gen Becher / Hinunter in die Flut.« Nicht weltlichem Besitz, dem er ja leicht entsagt, sondern der Liebe erkennt er den Rang der Heiligkeit zu: ein, zumindest für damalige Zeit, heidnisch anmutendes Bekenntnis. Mit dem sinkenden Becher versinkt auch das persönliche Glück. Zeit geht zwar gleichmütig über alles hin und hebt es am Ende auf, doch vollkommen entwerten kann sie eines nicht: die in einem Augenblick gewonnene Erkenntnis, worin befristete Existenz ihre Erfüllung findet. Versöhnt durch Einsicht kann »der alte Zecher«, König Saufaus, sterben, der toten Geliebten nunmehr endgültig verbunden. Beim Lautlesen dieser schlichten verhaltenen Hauptsätze merkt man bereits, daß Goethe die Sangbarkeit der Ballade bedachte. Ich weiß nicht, wie es kommt, doch wenn Gretchen sie singt, stellt sich jedesmal eine sonderbare Ergriffenheit ein.
Arbeitsanregungen:
Schreiben Sie eine ausführliche Analyse und Interpretation der Ballade. Nehmen Sie einige Anhaltspunkte aus der Rezension als Orientierungen für die Interpretation. Beachten Sie die Formulierungshilfen.