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Der Mann mit den zwei Gesichtern

 

Es war Quirrell.

»Sie!«, stieß Harry hervor.

Quirrell lächelte. Kein Zucken war mehr in seinem Gesicht.

»Ja, ich«, sagte er gelassen. »Hab mir schon halb gedacht, dass ich Sie hier treffen würde, Potter.«

»Aber ich dachte - Snape -«

»Severus?« Quirrell lachte und es war nicht sein übliches zittrig schrilles ]Lachen, es war kalt und scharf. »ja, Severus scheint der richtige Mann dafür zu sein, nicht wahr? Recht nützlich, dass er umherschwirrt wie eine zu groß geratene Fledermaus. Wer würde neben ihm den a-a-armen st-stotternden P-Professor Quirrell verdächtigen?«

Harry konnte es nicht fassen. Das durfte einfach nicht wahr sein.

»Aber Snape hat versucht mich umzubringen!«

»Nein, nein, nein. Ich habe es getan. Ihre Freundin Miss Granger hat mich versehentlich umgerempelt, als sie beim Quidditch-Spiel zu Snape hinüberrannte, um ihn anzuzünden. Sie hat meinen Blickkontakt zu Ihnen unterbrochen. Ein paar Sekunden mehr und ich hätte sie von diesem Besen heruntergehabt. Ich hätte es schon vorher geschafft, wenn Snape nicht einen Gegenzauber gemurmelt hätte, um Sie zu retten.«

»Snape hat versucht mich zu retten?«

»Natürlich«, sagte Quirrell kühl. »Warum, glauben Sie,


 

 

wollte er beim nächsten Spiel der Schiedsrichter sein? Er wollte dafür sorgen, dass ich es nicht noch einmal versuche. Wirklich eigenartig ... wenn Dumbledore dabei ist, kann ich ohnehin nichts ausrichten. Alle anderen Lehrer dachten, Snape wolle verhindern, dass Gryffindor gewinnt, und damit hat er sich richtig unbeliebt gemacht ... was für eine Zeitverschwendung, wenn ich Sie heute Nacht schließlich doch umbringe.«

Quirrell schnippte mit den Fingern. Aus der Luft peitschten Seile hervor, die sich fest um Harrys Körper wickelten.

»Ihre Neugier bringt Sie um Kopf und Kragen, Potter. Sie sind an Halloween in der Schule umhergeschlichen und sind auf mich gestoßen. Ich wollte mir ansehen, wie der Stein bewacht ist.«

»Sie haben den Troll hereingelassen?«

»Gewiss. Ich habe ein glückliches Händchen, wenn es um Trolle geht. Sie haben ja gesehen, was ich mit dem in der Kammer dort hinten angestellt habe. Nun, während alle andern umherliefen und ihn suchten, ging Snape, der mich schon im Verdacht hatte, leider geradewegs in den dritten Stock, um mir den Weg abzuschneiden - und mein Troll hat es nicht nur versäumt, Sie totzuschlagen, dieser dreiköpfige Hund hat es nicht einmal fertig gebracht, Snapes Bein ganz abzubeißen.

Und jetzt, Potter, warten Sie hier ganz ruhig. Ich muss mir diesen interessanten Spiegel näher ansehen.«

Erst jetzt erkannte Harry, was hinter Quirrell stand. Es war der Spiegel Nerhegeb.

»Dieser Spiegel ist der Schlüssel zum Stein«, murmelte Quirrell und klopfte suchend am Rahmen entlang. »Typisch Dumbledore, sich so etwas einfallen zu lassen ... aber er ist in London..



bis er zurückkommt, bin ich längst über alle Berge ...«


 

 

Harrys Gedanken drehten sich einzig darum, wie er Quirrell am Sprechen halten und ihn vom Spiegel ablenken konnte.

»Ich habe Sie und Snape im Wald gesehen -«, plapperte er hastig drauflos.

»Ja«, sagte Quirrell gleichmütig, während er um den Spiegel herumging, um sich die Rückseite anzusehen. »Da war er mir schon auf die Pelle gerückt und wollte wissen, wie weit ich gekommen war. Er hat mich die ganze Zeit über verdächtigt. Hat versucht mich einzuschüchtern - als ob er das könnte, wenn ich Lord Voldemort auf meiner Seite habe«

Quirrell kam hinter dem Spiegel hervor und sah begierig hinein.

»Ich sehe den Stein ... Ich überreiche ihn meinem Meister ... aber wo ist er?«

Harry drückte mit aller Kraft gegen seine Fesseln, doch die Seile gaben nicht nach. Er musste Quirrell davon abhalten, seine ganze Aufmerksamkeit dem Spiegel zu widmen.

»Aber Snape kam mir immer so vor, als würde er mich richtig hassen.«

»Oh, das tut er auch«, sagte Quirrell nebenher, »Himmel, ja. Er und Ihr Vater waren zusammen in Hogwarts, haben Sie das nicht gewusst? Sie haben sich gegenseitig verabscheut. Aber er wollte nie, dass Sie sterben.«

»Aber vor ein paar Tagen hab ich Sie schluchzen gehört. Ich dachte, Snape würde Sie bedrohen ...«

Zum ersten Mal huschte ein ängstliches Zucken über Quirrells Gesicht.

»Manchmal«, sagte er, »fällt es mir schwer, den Anwei- sungen meines Meisters zu folgen - er ist ein großer Zauberer und ich bin schwach -«

»Sie meinen, er war in diesem Klassenzimmer bei Ihnen?« Harry blieb der Mund offen.


 

 

»Er ist bei mir, wo immer ich bin«, sagte Quirrell leise. »Ich traf ihn bei meiner Reise um die Welt. Damals war ich noch ein einfältiger junger Mann, mit dem Kopf voll lächerlicher Vorstellungen über Gut und Böse. Lord Voldemort hat mir gezeigt, wie falsch ich dachte. Es gibt kein Gut und Böse, es gibt nur Macht, und jene, die zu schwach sind, um nach ihr zu streben

... Seit damals bin ich sein treuer Diener, auch wenn ich ihn viele Male enttäuscht habe. Er musste sehr streng mit mir sein.« Quirrell zitterte plötzlich. »Fehler vergibt er nicht so einfach. Als es mir nicht gelungen ist, den Stein aus Gringotts zu stehlen, war er äußerst missvergnügt. Er hat mich bestraft ... und beschlossen, mich näher im Auge zu behalten ...«

Quirrells Stimme verlor sich. Harry fiel der Besuch in der Winkelgasse ein - wie konnte er nur so dusslig gewesen sein? An jenem Tag hatte er Quirrell dort gesehen und ihm im Tropfenden Kessel die Hand geschüttelt.

Quirrell fluchte leise vor sich hin.

»Ich verstehe nicht ... ist der Stein im Innern des Spiegels?

Sollte ich ihn zerschlagen?« Harry raste der Kopf.

Was ich im Augenblick mehr als alles auf der Welt möchte, dachte er, ist, den Stein vor Quirrell zu finden. Wenn ich in den Spiegel schauen würde, müsste ich mich eigentlich dabei sehen, wie ich den Stein finde. Und das heißt, ich wüsste, wo er versteckt ist! Doch wie kann ich hineinsehen, ohne dass Quirrell bemerkt, was ich vorhabe?

Er versuchte sich ein wenig nach links zu bewegen, um vor das Glas zu kommen, ohne Quirrells Aufmerksamkeit zu erregen, doch die Seile waren zu fest um seine Knöchel gespannt: er stolperte und fiel zu Boden. Quirrell achtete nicht auf ihn. Er sprach immer noch mit sich selbst.

»Was tut dieser Spiegel? Wie wirkt er? Hilf mir, Meister!«


 

 

Und zu Harrys Entsetzen antwortete eine Stimme und diese Stimme schien von Quirrell selbst zu kommen.

»Nutze den jungen ... Nutze den jungen ...« Quirrell drehte sich zu Harry um.

»Ja, Potter, komm her«

Er klatschte einmal in die Hände und Harrys Fesseln fielen von ihm ab. Langsam kam Harry auf die Beine.

»Komm her«, wiederholte Quirrell. »Schau in den Spiegel und sag mir, was du siehst.«

Harry trat zu ihm.

»Ich muss lügen«, dachte er verzweifelt. »Ich muss hineinsehen und ihn darüber belügen, was ich sehe, das ist alles.« Quirrell stellte sich dicht hinter ihn. Harry atmete den merkwürdigen Geruch ein, der von Quirrells Turban auszugehen schien. Er schloss die Augen, trat vor den Spiegel und öffnete sie

wieder.

Er sah zuerst sein Spiegelbild, bleich und verängstigt. Doch einen Augenblick später lächelte ihn das Spiegelbild an. Es schob die Hand in die Tasche und zog einen blutroten Stein hervor. Es zwinkerte ihm zu und ließ den Stein in die Tasche zurückgleiten - und in diesem Moment spürte Harry etwas Schweres in seine wirkliche Tasche fallen. Irgendwie - unfasslicherweise - besaß er den Stein.

»Nun?«, sagte Quirrell ungeduldig. »Was siehst du?« Harry nahm all seinen Mut zusammen.

»Ich sehe mich, wie ich Dumbledore die Hand schüttle«, reimte er sich zusammen. »Ich ... ich hab den Hauspokal für Gryffindor gewonnen.«

Quirrell fluchte erneut.

»Aus dem Weg«, sagte er. Harry trat zur Seite und spürte den Stein der Weisen an seinem Bein. Konnte er es wagen zu fliehen?


 

 

Doch er war keine fünf Schritte gegangen, als eine hohe Stimme ertönte, obwohl sich Quirrells Lippen nicht bewegten.

»Er lügt ... Er lügt ...«

»Potter, komm hierher zurück!«, rief Quirrell. »Sag mir die Wahrheit! Was hast du gesehen?«

»Lass mich zu ihm sprechen ... von Angesicht zu Angesicht


...«


 

»Meister, Ihr seid nicht stark genug!«

»Ich habe genügend Kraft ... dafür ...«

Harry hatte das Gefühl, als würde ihn eine Teufelsschlinge


auf dem Boden anwurzeln. Er konnte keinen Muskel bewegen. Versteinert sah er zu, wie Quirrell die Hände hob und seinen Turban abwickelte. Was ging da vor? Der Turban fiel zu Boden. Quirrells Kopf sah seltsam klein aus ohne ihn. Dann drehte er sich langsam auf dem Absatz um.

Harry hätte geschrien, aber er brachte keinen Ton hervor. Wo eigentlich Quirrells Hinterkopf hätte sein sollen, war ein Gesicht, das schrecklichste Gesicht, das Harry jemals gesehen hatte. Es war kreideweiß mit stierenden roten Augen und, einer Schlange gleich, Schlitzen als Nasenlöchern.

»Harry Potter ...«, flüsterte es.

Harry versuchte einen Schritt zurückzutreten, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.

»Siehst du, was aus mir geworden ist?«, sagte das Gesicht.

»Nur noch Schatten und Dunst ... Ich habe nur Gestalt, wenn ich jemandes Körper teile ... aber es gibt immer jene, die willens sind, mich in ihre Herzen und Köpfe einzulassen ... Einhornblut hat mich gestärkt in den letzten Wochen ... du hast den treuen Quirrell gesehen, wie er es im Wald für mich getrunken hat ... und sobald ich das Elixier des Lebens besitze, werde ich mir meinen eigenen

 


 

 

Körper erschaffen können ... Nun ... warum gibst du mir nicht diesen Stein in deiner Tasche?«

Er wusste es also. Plötzlich strömte das Gefühl in Harrys Beine zurück. Er stolperte rückwärts.

»Sei kein Dummkopf«, schnarrte das Gesicht. »Rette besser dein eigenes Leben und schließ dich mir an ... oder du wirst dasselbe Schicksal wie deine Eltern erleiden ... Sie haben mich um Gnade angefleht, bevor sie gestorben sind ...«

»LÜGNER!«, rief Harry plötzlich.

Quirrell ging rückwärts auf ihn zu, so dass Voldemort ihn im Auge behalten konnte. Das böse Gesicht lächelte jetzt.

»Wie rührend ...«, zischte es. »Ich weiß Tapferkeit immer zu schätzen ... Ja, Junge, deine Eltern waren tapfer ... Ich habe deinen Vater zuerst getötet und er hat mir einen mutigen Kampf geliefert ... aber deine Mutter hätte nicht sterben müssen ... sie hat versucht dich zu schützen ... Gib mir jetzt den Stein, wenn du nicht willst, dass sie umsonst gestorben ist.«

»NIEMALS!«

Harry sprang hinüber zur Flammentür, doch Voldemort schrie: »PACK IHN!«, und im nächsten Augenblick spürte Harry, wie Quirrells Hand sich um sein Handgelenk schloss. Sogleich schoss ein messerscharfer Schmerz durch Harrys Narbe; sein Kopf fühlte sich an, als wolle er entzweibersten; er schrie und kämpfte mit aller Kraft und zu seiner Überraschung ließ Quirrell ihn los. Der Schmerz in seinem Kopf ließ nach - fiebrig blickte er sich nach Quirrell um und sah ihn vor Schmerz zusammengekauert auf dem Boden sitzen und auf seine Finger starren - vor seinen Augen trieben sie blutige Blasen.

»PACK IHN! PACK IHN!«, kreischte Voldemort erneut.

 


 

 

Mit einem Hechtsprung riss Quirrell Harry von den Füßen; Harry fiel auf den Rücken, Quirrell war auf ihm, mit beiden Händen fest um seinen Hals - Harrys Narbe machte ihn fast blind vor Schmerz, doch er hörte, wie Quirrell laut aufschrie.

»Meister, ich kann ihn nicht festhalten - meine Hände -meine Hände«

Und obwohl Quirrell Harry mit den Knien zu Boden presste, ließ er seinen Hals los und starrte entgeistert auf seine Handflächen - die, wie Harry sehen konnte, verbrannt waren und fleischig rot glänzten.

»Dann töte ihn, Dummkopf, und scher dich fort«, schrie Voldemort.

Quirrell hob die Hand, um einen tödlichen Fluch aus- zustoßen, doch Harry streckte unwillkürlich die Hand aus und presste sie auf Quirrells Gesicht.

»AAAARRH!«

Quirrell rollte von ihm herunter, nun auch im Gesicht übersät mit Brandblasen, und jetzt wusste Harry: Quirrell konnte seine nackte Haut nicht berühren, ohne schreckliche Schmerzen zu leiden - seine einzige Chance war, Quirrell festzuhalten und ihm anhaltende Qualen zu bereiten, so dass er keinen Fluch aussprechen konnte.

Harry sprang auf die Füße, griff Quirrell am Arm und packte so fest zu, wie er konnte. Quirrell schrie und versuchte Harry abzuschütteln - der Schmerz in Harrys Kopf wurde immer heftiger - er konnte nichts mehr sehen - er konnte nur Quirrells schreckliche Schreie und Voldemorts Rufe hören:»TÖTE IHN! TÖTE IHN« - und auch andere Stimmen, vielleicht in seinem Kopf, die riefen: »Harry! Harry«

Er spürte, wie Quirrells Arm seinem Griff entwunden wurde, wusste, dass nun alles verloren war, und fiel ins Dunkel, tief ... tief ... tief ...

 


 

 

Vor seinen Augen glitzerte etwas Goldenes. Der Schnatz! Er versuchte nach ihm zu greifen, doch seine Arme waren zu schwer. Er blinzelte. Es war gar nicht der Schnatz. Es war eine Brille. Wie merkwürdig. Er blinzelte wieder. Das lächelnde Gesicht von Albus Dumbledore tauchte verschwommen über ihm auf

»Guten Tag, Harry«, sagte Dumbledore.

Harry starrte ihn an. Dann kam die Erinnerung: »Sir! Der Stein! Es war Quirrell! Er hat den Stein! Sir, schnell -«

»Beruhige dich, mein junge, du bist nicht ganz auf der Höhe der Ereignisse«, sagte Dumbledore. »Quirrell hat den Stein nicht.«

»Wer hat ihn dann? Sir, ich -«

»Harry, bitte beruhige dich, oder Madam Pomfrey wirft mich am Ende noch hinaus.«

Harry schluckte und sah sich um. Er musste im Kran- kenflügel sein. Er lag in einem Bett mit weißen Leintüchern und neben ihm stand ein Tisch, der aussah wie ein Marktstand voller Süßigkeiten.

»Gaben von deinen Freunden und Bewunderern«, sagte Dumbledore strahlend. »Was unten in den Kerkern zwischen dir und Professor Quirrell geschehen ist, ist zwar vollkommen geheim, doch natürlich weiß die ganze Schule davon. Ich glaube, deine Freunde, die Herren Fred und George Weasley, zeichnen verantwortlich für den Versuch, dir einen Toilettensitz zu schicken. Zweifellos dachten sie, es würde dich amüsieren. Madam Pomfrey jedoch meinte, er sei vielleicht nicht besonders hygienisch, und hat ihn beschlagnahmt.«

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Drei Tage. Mr. Ronald Weasley und Miss Granger werden sehr erleichtert sein, dass du wieder zu dir gekommen bist, sie waren höchst besorgt.«

 


 

 

»Aber, Sir, der Stein -«

»Wie ich sehe, lässt du dich nicht ablenken. Nun gut, der Stein. Professor Quirrell ist es nicht gelungen, dir den Stein abzunehmen. Ich bin rechtzeitig dazugekommen, um dies zu verhindern, obwohl du dich auch allein sehr gut geschlagen hast, muss ich sagen.«

»Sie waren da? Hat Hedwig Sie erreicht?«

»Wir müssen uns in der Luft gekreuzt haben. Kaum hatte ich London erreicht, war mir klar, dass ich eigentlich dort sein sollte, wo ich gerade hergekommen war. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um Quirrell von dir herunterzureißen.«

»Das waren Sie.«

»Ich fürchtete schon, zu spät zu kommen.«

»Sie waren fast zu spät, lange hätte ich ihn nicht mehr vom Stein fernhalten können.«

»Es ging nicht um den Stein, mein junge, sondern um dich. Die Anstrengung hat dich fast umgebracht. Einen schrecklichen Moment lang hielt ich dich für tot. Und was den Stein angeht, er wurde zerstört.«

»Zerstört?«, sagte Harry bestürzt. »Aber Ihr Freund, Nicolas Flamel -«

»Ach, du weißt von Nicolas?«, sagte Dumbledore und klang dabei recht vergnügt. »Du hast gründliche Arbeit geleistet. Nun, Nicolas und ich hatten ein kleines Gespräch und sind zu dem Schluss gekommen, dass dies das Beste ist.«

»Aber das heißt, er und seine Frau werden sterben.«

»Sie haben genug Elixier vorrätig, um ihre Angelegenheiten regeln zu können, und dann, ja, dann werden sie sterben.«

Dumbledore lächelte beim Anblick von Harrys verblüfftem Gesicht.

 


 

 

»Für jemanden, der so jung ist wie du, klingt es gewiss unglaublich, doch für Nicolas und Perenelle ist es im Grunde nur, wie wenn sie nach einem sehr, sehr langen Tag zu Bett gingen. Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer. Weißt du, eigentlich war der Stein gar nichts so Wundervolles. Geld und Leben, so viel du dir wünschst! Die beiden Dinge, welche die meisten Menschen allem andern vorziehen würden - das Problem ist, die Menschen haben den Hang, genau das zu wählen, was am schlechtesten für sie ist.«

Harry lag da und wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

Dumbledore summte ein wenig und lächelte die Decke an.

»Sir?«, sagte Harry. »Ich habe nachgedacht ... Selbst wenn der Stein weg ist, wird Vol-, ich meine, Du-weißt-schon-wer -«

»Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.«

»Ja, Sir. Nun, Voldemort wird versuchen auf anderem Wege zurückzukommen. Ich meine, er ist nicht für immer auf und davon, oder?«

»Nein, Harry, das ist er nicht. Er ist immer noch irgendwo da draußen, vielleicht auf der Suche nach einem anderen Körper, der ihn aufnimmt ... weil er nicht wirklich lebendig ist, kann er nicht getötet werden. Quirrell hat er dem Tod überlassen; seinen Gefolgsleuten erweist er genauso wenig Gnade wie seinen Feinden. Wie auch immer, Harry, vielleicht hast du nur seine Rückkehr an die Macht hinausgezögert; er braucht nur jemand anderen, der bereit ist, eine neue Schlacht zu schlagen, bei der er wohl verlieren wird - und wenn er immer wieder abgewehrt wird, wieder und wieder, vielleicht kehrt er dann nie an die Macht zu- rück.«

 


 

 

Harry nickte, hielt aber sogleich inne, denn sein Kopf schmerzte davon. Dann sagte er: »Sir, es gibt einige andere Dinge, die ich gern wissen möchte, falls Sie es mir erklären können ... Dinge, über die ich die Wahrheit wissen will ...«

»Die Wahrheit.« Dumbledore seufzte. »Das ist etwas Schönes und Schreckliches und sollte daher mit großer Umsicht behandelt werden. Allerdings werde ich deine Fragen beantworten, außer wenn ich einen sehr guten Grund habe, der dagegen spricht, und in diesem Falle bitte ich dich um Nachsicht. Ich werde natürlich nicht lügen.«

»Gut ... Voldemort sagte, er hätte meine Mutter nur getötet, weil sie ihn daran hindern wollte, mich zu töten. Aber warum wollte er mich überhaupt töten?«

Dumbledore seufzte diesmal sehr tief.

»Herrje, gleich das Erste, was du mich fragst, kann ich dir nicht sagen. Nicht heute. Nicht jetzt. Eines Tages wirst du es erfahren ... schlag es dir erst einmal aus dem Kopf, Harry. Wenn du älter bist ... Ich weiß, das hörst du gar nicht gern ... wenn du bereit bist, wirst du es erfahren.«

Und Harry wusste, dass es keinen Zweck hatte zu streiten.

»Aber warum konnte Quirrell mich nicht berühren?«

»Deine Mutter ist gestorben, um dich zu retten. Wenn es etwas gibt, was Voldemort nicht versteht, dann ist es Liebe. Er wusste nicht, dass eine Liebe, die so mächtig ist wie die deiner Mutter zu dir, ihren Stempel hinterlässt. Keine Narbe, kein sichtbares Zeichen ... so tief geliebt worden zu sein, selbst wenn der Mensch, der uns geliebt hat, nicht mehr da ist, wird uns immer ein wenig schützen. Es ist deine bloße Haut, die dich schützt. Quirrell, voll Hass, Gier und Ehrgeiz, der seine Seele mit der Voldemorts teilt, konnte dich aus diesem Grunde nicht anrühren. Für ihn war es eine tödliche Qual, jemanden zu berühren, dem etwas so Wunderbares widerfahren ist.«

 


 

 

Dumbledore fand nun großen Gefallen an einem Vogel, der draußen auf dem Fenstersims hockte, und Harry hatte Zeit, seine Augen an der Bettdecke zu trocknen. Als er seine Stimme wieder gefunden hatte, sagte er: »Und der Tarnumhang - wissen Sie, wer mir den geschickt hat?«

»Aah, es traf sich, dass ihn dein Vater mir anvertraut hat, und ich dachte, dir gefiele er vielleicht.« Dumbledore zwinkerte mit den Augen. »Nützliche Dinge ... dein Vater hat ihn damals meistens genommen, um in die Küche zu huschen und etwas zum Naschen zu stibitzen.«

»Und da ist noch etwas anderes ...«

»Dann schieß los.«

»Quirrell sagte, dass Snape -«

»,Professor Snape, Harry.«

»ja, er - Quirrell sagte, er hasst mich, weil er auch meinen Vater hasste. Ist das wahr?«

»Nun, sie haben sich gegenseitig heftig verabscheut. Ganz ähnlich wie du und Mr. Malfoy. Und dann hat dein Vater etwas getan, was ihm Snape nie verzeihen konnte.«

»Was?«

»Er hat sein Leben gerettet.«

»Was?«

»ja ...« , sagte Dumbledore in Gedanken vertieft,

»merkwürdig, wie es in den Köpfen der Menschen zugeht. Pro- fessor Snape konnte es nicht ertragen, in der Schuld deines Vaters zu stehen ... Ich bin mir sicher, dass er sich dieses Jahr deshalb so bemüht hat, dich zu schützen, weil er das Gefühl hatte, dass er und dein Vater dann quitt wären. Dann konnte er endlich wieder an deinen Vater denken und ihn in aller Ruhe hassen ...«

Harry versuchte das zu verstehen, doch sein Kopf fing davon an zu pochen und er gab es auf

»Und, Sir, da ist noch etwas ...«

 


 

 

»Nur noch das eine?«

»Wie habe ich den Stein aus dem Spiegel bekommen?«

»Ah, nun, ich freue mich, dass du mich danach fragst. Es war eine meiner vortrefflicheren Ideen, und unter uns gesagt, das will schon was heißen. Sieh mal, nur jemand, der den Stein finden wollte - finden, nicht benutzen -, sollte ihn bekommen können, die andern würden nur sehen, wie sie Gold herstellen oder das Lebenselixier trinken. Mein Hirn überrascht mich gelegentlich. .. Nun, genug der Fragen. Ich schlage vor, du fängst mal an mit diesen Süßigkeiten. Ah! Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung! In meiner Jugend hatte ich leider das Pech, auf eine zu stoßen, die nach Erbrochenem schmeckte, und ich fürchte, seither habe ich meine Schwäche für sie verloren - aber ich denke, mit einer kleinen Toffee-Bohne bin ich auf der si- cheren Seite, meinst du nicht?«

Lächelnd schob er sich die goldbraune Bohne in den Mund. Kurz darauf würgte er sie wieder hervor: »Meine Güte! Ohrenschmalz!«

 

Madam Pomfrey war eine nette Dame, aber sehr streng.

»Nur fünf Minuten«, bettelte Harry.

»Kommt nicht in Frage.«

»Sie haben Professor Dumbledore ja auch hereingelassen ...«

»ja, natürlich, er ist der Schulleiter, das ist etwas ganz anderes. Du brauchst Ruhe.«

»Ich ruhe doch, sehen Sie, ich liege im Bett und alles. Ach, bitte, Madam Pomfrey ...«

»Na, meinetwegen«, sagte sie. »Aber nur fünf Minuten.« Und sie ließ Ron und Hermine herein.

»Harry!«

Hermine schien drauf und dran, ihm schon wieder um


 

 

den Hals zu fallen, und Harry war froh, dass sie es bleiben ließ, denn der Kopf tat ihm immer noch sehr weh.

»O Harry, wir dachten schon, du würdest - Dumbledore war so besorgt -«

»Die ganze Schule spricht darüber«, sagte Ron. »Was ist denn wirklich passiert?«

Es war eine jener seltenen Gelegenheiten, bei denen die wahre Geschichte noch unerhörter und aufregender ist als die wildesten Gerüchte. Harry erzählte ihnen alles: von Quirrell, vom Spiegel, vom Stein und von Voldemort. Ron und Hermine waren sehr gute Zuhörer; sie rissen an den richtigen Stellen Mund und Augen auf, und als Harry ihnen erzählte, was unter Quirrells Turban zum Vorschein gekommen war, schrie Hermine laut auf

»Der Stein ist also vernichtet?«, sagte Ron schließlich.

»Flamel wird einfach sterben?«

»Das habe ich gesagt, aber Dumbledore glaubt, dass -wie war es noch mal? - >für den gut vorbereiteten Geist der Tod nur das nächste große Abenteuer ist<.«

»Ich hab ja immer gesagt, dass er völlig von der Rolle ist«, sagte Ron und schien recht beeindruckt davon, wie verrückt sein großes Vorbild war.

»Und was ist mit euch geschehen?«, sagte Harry.

»Nun, ich bin rausgekommen«, sagte Hermine. »Ich habe Ron aufgepäppelt - das hat eine Weile gedauert

wir sind zur Eulerei hochgerast, um Dumbledore zu benachrichtigen, und da laufen wir ihm in der Eingangshalle über den Weg - er wusste schon Bescheid und sagte nur: Harry ist hinter ihm her, nicht wahr?, und ist losgesaust in den dritten Stock.«

»Glaubst du, er wollte, dass du es tust?«, sagte Ron. »Wo er dir doch den Umhang deines Vaters geschickt hat und alles?«


 

 

»Also«, platzte Hermine los, »wenn das stimmt - möchte ich doch sagen - das ist schrecklich, du hättest umgebracht werden können.«

»Nein, ist es nicht«, sagte Harry nachdenklich. »Er ist ein merkwürdiger Mensch, dieser Dumbledore. Ich glaube, er wollte mir eine Chance geben. Er weiß wohl mehr oder weniger alles, was hier vor sich geht. Ich wette, er hat recht gut geahnt, was wir vorhatten, und anstatt uns aufzuhalten, hat er uns gerade genug beigebracht, um uns zu helfen. Dass er mich herausfinden ließ, wie der Spiegel wirkt, war wohl kein Zufall. Mir kommt es fast so vor, als meinte er, ich hätte das Recht, mich Voldemort zu stellen, wenn ich konnte ...«

»Ja, Dumbledore ist auf Draht, allerdings«, sagte Ron stolz.

»Hör mal, du musst für die Jahresabschlussfeier morgen wieder auf den Beinen sein. Die Punkte sind alle gezählt und Slytherin hat natürlich gewonnen - du warst beim letzten Quidditch-Spiel nicht dabei, Ravenclaw hat uns weggeputzt ohne dich - aber das Essen ist sicher gut.«

In diesem Moment kam Madam Pomfrey herübergewirbelt.

»Ihr habt jetzt fast fünfzehn Minuten gehabt, nun aber RAUS«, sagte sie bestimmt.

 

Nachdem er die Nacht gut geschlafen hatte, fühlte sich Harry fast wieder bei Kräften.

»Ich möchte zum Fest«, erklärte er Madam Pomfrey, die gerade seine vielen Schachteln mit Süßigkeiten aufstapelte. »Ich kann doch, oder?«

»Professor Dumbledore sagt, es sei dir erlaubt zu gehen«, sagte sie spitz, als ob ihrer Meinung nach Professor Dumbledore nicht erkannte, wie gesundheitsgefährdend Feste sein konnten.

»Und du hast noch einen Besucher.«

 


 

 

»Oh, gut«, sagte Harry. »Wer ist es?«

Kaum hatte er gefragt, schlüpfte Hagrid durch die Tür. Wie immer, wenn er sich in Räumen aufhielt, sah er verboten groß aus. Er setzte sich neben Harry, warf ihm einen Blick zu und brach in Tränen aus.

»Es war - alles - mein - verfluchter - Fehler«, schluchzte er, das Gesicht in den Händen vergraben. »Ich hab dem bösen Wicht gesagt, wie er an Fluffy vorbeikommen kann! Ausgerechnet ich! Es war das Einzige, was er nicht wusste, und ich hab's ihm gesagt. Du hättest sterben können! Und alles für ein Drachenei! Ich rühr kein Glas mehr an! Man sollte mich rausschmeißen und mich zwingen, als Muggel zu leben«

»Hagrid!«, sagte Harry, entsetzt darüber, dass es Hagrid vor Gram und Reue schüttelte und große Tränen an seinem Bart herunterkullerten. »Hagrid, er hätte es schon irgendwie herausgefunden, wir sprechen immerhin von Voldemort, er hätte es rausgefunden, auch wenn du es ihm nicht gesagt hättest.«

»Du hättest sterben können!«, wiederholte Hagrid. »Und nenn ja nicht den Namen!«

»VOLDEMORT«, brüllte Harry und Hagrid bekam einen solchen Schreck, dass ihm das Weinen verging. »Ich hab ihn gesehen und ich nenne ihn bei seinem Namen. -Bitte krieg dich wieder ein, wir hatten den Stein, er ist zerstört, er kann ihn nicht benutzen. Nimm einen Schokofrosch, ich hab ganze Wagenladungen davon ...«

Hagrid wischte sich mit dem Handrücken die Nase und sagte: »Da fällt mir ein - ich hab ein Geschenk für dich.«

»Kein Wiesel-Sandwich, oder?«, sagte Harry mit besorgter Miene, und endlich ließ Hagrid ein leises Glucksen hören.

»Nee. Dumbledore hat mir gestern dafür freigegeben.

 


 

 

Hätt mich natürlich stattdessen rausschmeißen sollen -jedenfalls, das ist für dich ...«

Es sah aus wie ein schönes, in Leder gebundenes Buch. Harry öffnete es neugierig. Es war voller Zaubererfotos. Von jeder Seite des Buches lächelten und winkten ihm seine Mutter und sein Vater entgegen.

»Hab Eulen an alle alten Schulfreunde deiner Eltern ge- schickt und sie um Fotos gebeten ... Wusste, dass du keine hast

... Magst du es?«

Harry brachte kein Wort hervor, doch Hagrid verstand ihn.

 

An diesem Abend ging Harry allein den Weg hinunter zum Jahresabschlussfest. Madam Pomfrey, die noch einigen Wirbel veranstaltet hatte, weil sie ihn noch ein letztes Mal untersuchen wollte, hatte ihn aufgehalten, und so war die Große Halle schon voller Schüler. Sie war in den Farben der Slytherins, Grün und Silber, ausgeschmückt, denn sie hatten den Hauspokal nun im siebten Jahr in Folge gewonnen. Ein riesiges Transparent mit der Slytherin-Schlange bedeckte die Wand hinter dem Hohen Tisch.

Als Harry hereinkam, trat ein kurzes Schweigen ein und dann begannen alle auf einmal laut durcheinander zu reden. Er rutschte auf einen Platz am Gryffindor-Tisch zwischen Ron und Hermine und versuchte die Schüler nicht zu beachten, die aufstanden, um ihn zu sehen.

Glücklicherweise kam nur wenige Augenblicke später Dumbledore herein. Das Geplapper erstarb.

»Wieder ein Jahr vorbei!«, rief Dumbledore ausgelassen.

»Und bevor wir die Zähne in unser köstliches Festessen versenken, muss ich euch mit dem schwefligen Geschwafel eines alten Mannes belästigen. Was für ein Jahr! Hoffentlich sind eure Köpfe ein wenig voller als zuvor ... ihr habt

 


 

 

jetzt den ganzen Sommer vor euch, um sie wieder hübsch leer zu räumen, bevor das nächste Schuljahr anfängt ...

Nun, wie ich es verstehe, muss jetzt dieser Hauspokal überreicht werden, und auf der Tabelle sieht es wie folgt aus: an vierter Stelle Gryffindor mit dreihundertundzwölf Punkten; an dritter Hufflepuff mit dreihundertundzweiundfünfzig; Ravenclaw hat vierhundertundsechsundzwanzig und Slytherin vierhundertundzweiundsiebzig Punkte.«

Vom Tisch der Slytherins brach ein Sturm aus Jubelrufen und Fußgetrappel los. Harry sah Draco Malfoy mit dem Becher auf den Tisch hauen. Von dem Anblick wurde ihm fast schlecht.

»ja, ja, gut gemacht, Slytherin«, sagte Dumbledore. »Al- lerdings müssen auch die jüngsten Ereignisse berücksichtigt werden.«

In der Halle wurde es sehr leise. Das Lächeln auf den Gesichtern der Slytherins verblasste.

»Ähem«, sagte Dumbledore. »Ich habe hier noch ein paar letzte Punkte zu vergeben. Schauen wir mal. ja ...

Zuerst - an Mr. Ronald Weasley ...«

Ron lief purpurrot an; er sah aus wie ein Radieschen mit einem schlimmen Sonnenbrand.

». .. für die beste Schachpartie, die in Hogwarts seit vielen Jahren gespielt wurde, verleihe ich Gryffindor fünfzig Punkte.«

Fast hoben die Jubelschreie der Gryffindors die verzauberte Decke noch höher in die Lüfte; die Sterne über ihren Köpfen schienen zu erzittern. Nicht zu überhören war Percy, der den anderen Vertrauensschülern mitteilte: »Mein Bruder, müsst ihr wissen! Mein jüngster Bruder! Ist durch McGonagalls riesiges Schachspiel gekommen!«

Endlich kehrte wieder Ruhe ein.

 


 

 

»Zweitens - Miss Hermine Granger ... für den Einsatz kühler Logik im Angesicht des Feuers verleihe ich Gryffindor fünfzig Punkte.«

Hermine begrub das Gesicht in den Armen; Harry hatte das sichere Gefühl, dass sie in Tränen ausgebrochen war. Tischauf, tischab waren die Gryffindors vollkommen aus dem Häuschen - sie hatten hundert Punkte mehr.

»Drittens - Mr. Harry Potter ...«, sagte Dumbledore. In der Halle wurde es totenstill. »... für seine Unerschrockenheit und seinen überragenden Mut verleihe ich Gryffindor sechzig Punkte.«

Ein ohrenbetäubendes Tosen brach los. Wer noch rechnen konnte, während er sich heiser schrie, wusste, dass Gryffindor jetzt vierhundertundzweiundsiebzig Punkte hatte - genauso viel wie Slytherin. Sie hatten im Kampf um den Hauspokal Gleichstand erreicht - hätte Dumbledore Harry doch nur einen Punkt mehr gegeben.

Dumbledore hob die Hand. In der Halle wurde es allmählich


still.


 

»Es gibt viele Arten von Mut«, sagte Dumbledore lächelnd.


»Es verlangt enges an Mut, sich seinen Feinden entgegenzustellen, doch genauso viel, den eigenen Freunden in den Weg zu treten. Deshalb vergebe ich zehn Punkte an Mr. Longbottom.«

Jemand draußen vor der Großen Halle wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass eine Explosion stattgefunden hätte, so ohrenbetäubend war der Lärm, der am Tisch der Gryffindors losbrach. Harry, Ron und Hermine standen jubelnd und schreiend auf, als Neville, weiß vor Schreck, unter einem Haufen Leute begraben wurde, die ihn alle umarmen wollten. Noch nie hatte er auch nur einen Punkt für Gryffindor geholt. Harry, immer noch jubelnd, stupste Ron in die Rippen und deutete auf Malfoy,

 


 

 

der so aussah, als hätte ihm gerade jemand die Ganzkör- perklammer auf den Hals gejagt.

»Das heißt«, rief Dumbledore über den stürmischen Applaus hinweg, denn auch die Ravenclaws und die Hufflepuffs feierten den Fall von Slytherin, »wir müssen ein wenig umdekorieren.«

Er klatschte in die Hände. Im Nu waren die grünen Gir- landen scharlachrot und das Silber hatte sich in Gold verwandelt; die riesige Schlange der Slytherins verschwand und ein gewaltiger Gryffindor-Löwe trat an ihre Stelle. Snape schüttelte Professor McGonagall mit einem schrecklich gezwungenen Lächeln die Hand. Er warf einen Blick zu Harry hinüber und Harry wusste sofort, dass sich Snapes Gefühle ihm gegenüber nicht um ein Jota geändert hatten. Besorgt war er deshalb nicht. So würde das Leben nächstes Jahr ganz normal weitergehen, so normal jedenfalls, wie es in Hogwarts eben sein konnte.

Es war der beste Abend in Harrys Leben, besser noch als der Sieg im Quidditch oder Weihnachten oder Bergtrolle erlegen ... niemals würde er diesen Abend vergessen.

 

Fast wäre Harry entfallen, dass die Zeugnisse noch kommen mussten, und sie kamen auch. Zu ihrer großen Überraschung hatten er und Ron mit guten Noten bestanden; Hermine war natürlich die Jahresbeste. Selbst Neville, dessen gute Noten in Kräuterkunde die miserablen in Zaubertränke wettmachten, hatte es mit Hängen und Würgen geschafft. Gehofft hatten sie, dass Goyle, der fast so dumm war wie fies, vielleicht rausfliegen würde, doch auch er schaffte es. jammerschade, doch wie Ron sagte, man kann im Leben nicht alles haben.

Und plötzlich waren ihre Schränke leer, ihre Koffer gepackt, Nevilles Kröte wurde in einer Ecke der Toiletten


 

 

umherkriechend gefunden; alle Schüler bekamen Zettel in die Hand, auf denen sie ermahnt wurden, während der Ferien nicht zu zaubern (»Ich hoffe immer, dass sie diese Zettel mal vergessen«, sagte Fred Weasley enttäuscht); Hagrid stand bereit, um sie zur Bootsflotte hinunterzuführen, mit der er sie über den See fuhr; sie bestiegen den Hogwarts-Express; während sie schwatzten und lachten, wurde das Land allmählich grüner; sie aßen Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung und sahen Muggelstädte vorbeiziehen; sie legten ihre Zaubererumhänge ab und zogen Jacken und Mäntel an; und dann fuhren sie auf Gleis neundreiviertel in den Bahnhof von King's Cross ein.

Es dauerte eine ganze Welle, bis sie alle vom Bahnsteig herunter waren. Ein verhutzelter alter Wachmann stand oben an der Fahrkartenschranke und ließ sie jeweils zu zweit oder zu dritt durch das Tor, so dass sie nicht alle auf einmal aus einer festen Mauer herausgepurzelt kamen und die Muggel erschreckten.

»Ihr müsst uns diesen Sommer über besuchen kommen«, sagte Ron, »ihr beide - ich schick euch eine Eule.«

»Danke«, sagte Harry. »Ich brauche was, auf das ich mich freuen kann.«

Unter Geschubse und Gedrängel näherten sie sich dem Tor zur Muggelwelt. Manche von den anderen Schülern

riefen:

»Tschau, Harry!«

»Bis dann, Potter«

»Immer noch berühmt«, sagte Ron und grinste ihn an.

»Nicht da, wo ich hingehe, das kann ich dir versprechen«, sagte Harry.

Er, Ron und Hermine gingen zusammen durch das Tor.

»Da ist er, Mum, da ist er, schau«


 

 

Es war Ginny Weasley, Rons kleine Schwester, doch sie deutete nicht auf Ron.

»Harry Potter«, kreischte sie. »Schau, Mum! Ich kann ihn sehen -«

»Sei leise, Ginny, und man zeigt nicht mit dem Finger auf Leute.«

Mrs. Weasley lächelte ihnen entgegen.

»Ein anstrengendes Jahr hinter euch?«, sagte sie.

»Sehr«, sagte Harry. »Danke für die Plätzchen und den Pulli, Mrs. Weasley.«

»Ach, gern geschehen, mein Junge.«

»Bist du bereit?«

Es war Onkel Vernon, immer noch purpurrot im Gesicht, immer noch mit Schnurrbart, immer noch wütend darüber, wie Harry nur so gelassen einen Käfig mit einer Eule in einem Bahnhof voller normaler Menschen herumtragen konnte. Hinter ihm standen Tante Petunia und Dudley, entsetzt beim bloßen Anblick von Harry.

»Sie müssen Harrys Familie sein«, sagte Mrs. Weasley.

»Man mag es so ausdrücken«, sagte Onkel Vernon. »Beeil dich, Junge, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er schritt davon.

Harry blieb für ein Abschiedswort bei Ron und Hermine stehen.

»Wir sehen uns dann im Sommer.«

»Ich hoffe, du hast - ähm - schöne Ferien«, sagte Hermine und sah ein wenig zweifelnd Onkel Vernon nach, entsetzt darüber, dass jemand so unfreundlich sein konnte.

»Oh, ganz bestimmt«, sagte Harry, und sie waren überrascht, dass sich ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht breitete.

»Die wissen ja nicht, dass wir zu Hause nicht zaubern dürfen. Ich werde diesen Sommer viel Spaß haben mit Dudley ...«

 


Date: 2015-12-11; view: 708


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