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Briefe von niemandem

 

Die Flucht der brasilianischen Boa constrictor hatte Harry die bisher längste Strafe eingebracht. Als er den Schrank wieder verlassen durfte, hatten die Sommerferien begonnen. Dudley hatte seine neue Videokamera schon längst zertrümmert und sein ferngesteuertes Flugzeug zu Bruch geflogen. Bei seiner ersten Fahrt mit dem Rennrad hatte er die alte Mrs. Figg, die gerade auf ihre Krücken gestützt den Ligusterweg überquerte, über den Haufen geradelt.

Harry war froh, dass die Schule zu Ende war, doch Dudleys Bande, die das Haus Tag für Tag heimsuchte, konnte er nicht entkommen. Piers, Dennis, Malcolm und Gorden waren allesamt groß und dumm, doch weil Dudley der Dümmste von allen war, war er ihr Anführer. Die andern schlossen sich mit ausgesprochenem Vergnügen Dudleys Lieblingssport an: Harry Jagen.

Deshalb verbrachte Harry möglichst viel Zeit außer Haus und wanderte durch die Straßen. Das baldige Ende der Ferien war ein kleiner Hoffnungsschimmer. Im September würde er auf die höhere Schule kommen und zum ersten Mal im Leben nicht mehr mit Dudley zusammen sein. Dudley hatte einen Platz an Onkel Vernons alter Schule, Smeltings. Auch Piers Polkiss ging dorthin. Harry dagegen kam in die Stonewall High Scheel, die Gesamtschule in der Nachbarschaft. Dudley fand das sehr lustig.

»In Stonewall stecken sie den Neuen am ersten Tag den


 

 

Kopf ins Klo«, eröffnete er Harry. weilst du mit hochkommen und schon mal üben?«

»Nein, danke«, sagte Harry. »Das arme Klo hat noch nie etwas so Fürchterliches wie deinen Kopf geschluckt - vielleicht wird ihm schlecht davon.« Dann rannte er los, bevor sich Dudley einen Reim daraus machen konnte.

Eines Tages im Juli nahm Tante Petunia Dudley mit nach London, um dort die Schuluniforrn für Smeltings zu kaufen, und ließ Harry bei Mrs. Figg zurück. Mrs. Figg war nicht mehr so übel wie früher. Harry erfuhr, dass sie sich den Fuß gebrochen hatte, als sie über eine ihrer Katzen gestolpert war, und inzwischen schien sie von ihnen nicht mehr ganz so begeistert zu sein. Sie ließ Harry fernsehen und reichte ihm ein Stück Schokoladenkuchen, der schmeckte, als hätte sie ihn schon etliche Jahre aufbewahrt.

An diesem Abend stolzierte Dudley in seiner neuen Uniform unter den Augen der Eltern im Wohnzimmer umher. Die Jungen in Smeltings trugen kastanienbraune Fräcke, orangefarbene Knickerbocker-Hosen und flache Strohhüte, die sie »Kreissägen« nannten. Außerdem hatten sie knorrige Holzstöcke, mit denen sie sich, wenn die Lehrer nicht hinsahen, gegenseitig Hiebe versetzten. Das galt als gute Übung fürs spätere Leben.

Onkel Vernon musterte Dudley in den neuen Knicker- bockern und grummelte etwas vom stolzesten Augenblick seines Lebens. Tante Petunia brach in Tränen aus und sagte, sie könne es einfach nicht fassen, dass dies ihr süßer kleiner Dudleyspatz sei, so hübsch und erwachsen wie er aussehe. Harry wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Womöglich hatte er sich schon zwei Rippen angeknackst vor lauter Anstrengung, nicht loszulachen.



Am nächsten Morgen, als Harry zum Frühstück in die Küche kam, schlug ihm ein fürchterlicher Gestank entge-


 

 

gen. Offenbar kam er von einer großen Emailschüssel in der Spüle. Er trat näher, um sich die Sache anzusehen. in dem grauen Wasser der Schüssel schwamm etwas, das aussah wie ein Bündel schmutziger Lumpen.

»Was ist das denn?«, fragte er Tante Petunia. Sie kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn er eine Frage zu stellen wagte.

»Deine neue Schuluniform«, sagte sie. Harry warf noch einen Blick in die Schüssel.

»Aha«, sagte er, »ich wusste nicht, dass sie so nass sein muss.«

»Stell dich nicht so dumm an«, keifte Tante Petunia. »Ich färbe ein paar alte Sachen grau für dich. Die sehen dann genauso aus wie die der andern.«

Das bezweifelte Harry ernsthaft, er hielt es aber für besser, ihr nicht zu widersprechen. Er setzte sich an den Tisch und versuchte nicht daran zu denken, wie er an seinem ersten Schultag in der Stonewall High aussehen würde -vermutlich wie einer, der ein paar Fetzen alter Elefantenhaut trug.

Dudley und Onkel Vernon kamen herein und beide hielten sich beim Gestank von Harrys neuer Uniform die Nase zu. Onkel Vernon schlug wie immer seine Zeitung auf und Dudley knallte seinen Smelting-Stock, den er immer bei sich trug, auf den Tisch.

Die Klappe des Briefschlitzes quietschte und die Post klatschte auf die Türmatte.

»Hol die Post, Dudley«, sagte Onkel Vernon hinter seiner Zeitung hervor.

»Soll doch Harry sie holen.«

»Hol die Post, Harry.«

»Soll doch Dudley sie holen.«

»Knuff ihn mal mit deinem Smelting-Stock, Dudley.«


 

 

Harry wich dem Stock aus und ging hinaus, um die Post zu holen. Dreierlei lag auf der Türmatte: eine Postkarte von Onkel Vernons Schwester Marge, die Ferien auf der Isle of Wight machte, ein brauner Umschlag, der wohl eine Rechnung enthielt, und - ein Brief für Harry.

Harry hob ihn auf und starrte auf den Umschlag. Sein Herz schwirrte wie ein riesiges Gummiband. Niemand hatte ihm Je in seinem ganzen Leben einen Brief geschrieben. Wer konnte es sein? Er hatte keine Freunde, keine anderen Verwandten - er war nicht in der Bücherei angemeldet und hatte deshalb auch nie unhöfliche Aufforderungen erhalten, Bücher zurückzubringen. Doch hier war er, ein Brief, so klar adressiert, dass ein Fehler ausgeschlossen war:

 

Mr. H. Potter

Im Schrank unter der Treppe Ligusterweg 4

Little Whinging Surrey

 

Dick und schwer war der Umschlag, aus gelblichem Per- gament, und die Adresse war mit smaragdgrüner Tinte ge- schrieben. Eine Briefmarke war nicht draufgeklebt.

Mit zitternder Hand drehte Harry den Brief um und sah ein purpurnes Siegel aus Wachs, auf das ein Wappenschild eingeprägt war: ein Löwe, ein Adler, ein Dachs und eine Schlange, die einen Kreis um den Buchstaben »H« schlossen.

»Beeil dich, Junge!«, rief Onkel Vernon aus der Küche.

»Was machst du da draußen eigentlich, Briefbombenkontrolle?« Er gluckste über seinen eigenen Scherz. Harry kam in die Küche zurück, den Blick unverwandt auf den Brief


 

 

gerichtet. Er reichte Onkel Vernon die Rechnung und die Postkarte, setzte sich und begann langsam den gelben Umschlag zu öffnen.

Onkel Vernon riss den Brief mit der Rechnung auf, schnaubte vor Abscheu, und überflog die Postkarte.

»Marge ist krank«, teilte er Tante Petunia mit. »Hat eine faule Wellhornschnecke gegessen ...«

»Dad!«, sagte Dudley plötzlich. »Dad, Harry hat etwas!«

Harry war gerade dabei, den Brief zu entfalten, der aus demselben schweren Pergament bestand wie der Umschlag, als Onkel Vernon ihm das Blatt aus der Hand riss.

»Das ist für mich!«, rief Harry und versuchte Onkel Vernon den Brief wegzuschnappen.

»Wer sollte dir denn schreiben?«, höhnte Onkel Vernon, schüttelte das zusammengefaltete Blatt mit einer Hand auseinander und begann zu lesen. Sein Gesicht wechselte schneller von Rot zu Grün als eine Verkehrsampel. Und es blieb nicht bei Grün. Nach ein paar Sekunden war es gräulich-weiß wie alter Haferschleim.

»P-P-Petunia!«, stieß er keuchend hervor.

Dudley grabschte nach dem Brief, um ihn zu lesen, aber Onkel Vernon hielt ihn hoch, so dass er ihn nicht zu fassen bekam. Tante Petunia nahm ihn neugierig in die Hand und las die erste Zeile. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie in Ohnmacht fallen. Sie griff sich an den Hals und gab ein würgendes Geräusch von sich.

»Vernon! Ach du lieber Gott - Vernon!«

Sie starrten einander an, als hätten sie vergessen, dass Harry und Dudley immer noch in der Küche waren. Dudley war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Mit dem Smelting-Stock versetzte er seinem Vater einen kurzen schmerzhaften Hieb auf den Kopf

»Ich will diesen Brief lesen«, sagte er laut.

 


 

 

»Ich will ihn lesen«, sagte Harry wütend, »es ist nämlich

meiner.«

»Raus hier, beide«, krächzte Onkel Vernon und stopfte den Brief in den Umschlag zurück.

Harry rührte sich nicht vom Fleck.

»ICH WILL MEINEN BRIEF!«. rief er.

»Lass mich sehen!«, verlangte Dudley.

»RAUS!«, brüllte Onkel Vernon, packte Harry und Dudley am Genick, warf sie hinaus in den Flur und knallte die Küchentür hinter ihnen zu. Prompt lieferten sich Harry und Dudley einen erbitterten, aber stummen Kampf darum, wer am Schlüsselloch lauschen durfte. Dudley gewann, und so legte sich Harry, die Brille von einem Ohr herabhängend, flach auf den Bauch und lauschte an dem Spalt zwischen Tür und Fußboden.

»Vernon«, sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme,

»schau dir die Adresse an - wie können sie denn nur wissen, wo er schläft? Sie beobachten doch nicht etwa unser Haus?«

»Beobachten - spionieren - vielleicht folgen sie uns«, murmelte Onkel Vernon verwirrt.

»Aber was sollen wir tun, Vernon? Sollen wir vielleicht antworten? Ihnen sagen, wir wollen nicht -«

Harry konnte Onkel Vernons glänzende schwarze Schuhe die Küche auf und ab schreiten sehen.

»Nein«, sagte er endlich. »Nein, wir tun so, als ob nichts wäre. Wenn sie keine Antwort bekommen ... Ja, das ist das Beste

... Wir tun gar nichts ...«

»Aber -«

»Ich will keinen davon im Haus haben, Petunia! Als wir ihn aufnahmen, haben wir uns da nicht geschworen, diesen gefährlichen Unsinn auszumerzen?«

 


 

 

Als Onkel Vernon an diesem Abend vom Büro zurückkam, tat er etwas, was er nie zuvor getan hatte: er besuchte Harry in seinem Schrank.

»Wo ist mein Brief?«, sagte Harry, kaum hatte sich Onkel Vernon durch die Tür gezwängt. »Wer schreibt an mich?«

»Niemand. Er war nur versehentlich an dich adressiert sagte Onkel Vernon kurz angebunden. »Ich habe ihn verbrannt.«

»Es war kein Versehen«, rief Harry zornig, »mein Schrank stand drauf«

»RUHE!«, schrie Onkel Vernon, und ein paar Spinnen fielen von der Decke. Er holte ein paar Mal tief Luft und zwang dann sein Gesicht zu einem recht schmerzhaft wirkenden Lächeln.

»Ahm -ja, Harry - wegen dieses Schranks hier. Deine Tante und ich haben darüber nachgedacht ... Du wirst allmählich wirklich etwas zu groß dafür ... Wir meinen, es wäre doch nett, wenn du in Dudleys zweites Schlafzimmer ziehen würdest.«

»Warum?«, sagte Harry.

»Keine dummen Fragen!«, fuhr ihn der Onkel an. »Bring dieses Zeug nach oben, aber sofort.«

Das Haus der Dursleys hatte vier Schlafzimmer: eines für Onkel Vernon und Tante Petunia, eines für Besucher (meist Onkel Vernons Schwester Marge), eines, in dem Dudley schlief, und eines, in dem Dudley all seine Spielsachen und die Dinge aufbewahrte, die nicht mehr in sein erstes Schlafzimmer passten. Harry musste nur einmal nach oben gehen und schon hatte er all seine Sachen aus dem Schrank in das neue Zimmer gebracht. Er setzte sich aufs Bett und ließ den Blick kreisen. Fast alles hier drin war kaputt. Die einen Monat alte Videokamera lag auf einem kleinen, noch funktionierenden Panzer, den Dudley ein-

 


 

 

mal über den Hund der Nachbarn gefahren hatte. in der Ecke stand Dudleys erster Fernseher. Als seine Lieblingssendung abgesetzt wurde, hatte er den Fuß durch den Bildschirm gerammt. Auch ein großer Vogelkäfig stand da, in dem einmal ein Papagei gelebt hatte, den Dudley in der Schule gegen ein echtes Luftgewehr getauscht hatte. Es lag mit durchgebogenem Lauf auf einem Regal, denn Dudley hatte sich darauf niedergelassen. Andere Regale standen voller Bücher. Das waren die einzigen Dinge in dem Zimmer, die aussahen, als wären sie nie angerührt worden.

Von unten war Dudley zu hören, wie er seine Mutter anbrüllte. »Ich will ihn nicht da drin haben ... Ich brauche dieses Zimmer . ~. Er soll wieder ausziehen . -«

Harry seufzte und streckte sich auf dem Bett aus. Gestern noch hätte er alles darum gegeben, hier oben zu sein. Heute wäre er lieber wieder in seinem Schrank mit dem Brief in der Hand statt hier oben ohne ihn.

Am nächsten Morgen beim Frühstück waren alle recht schweigsam. Dudley stand unter Schock. Er hatte geschrien, seinen Vater mit dem Smelting-Stock geschlagen, sich absichtlich übergeben, seine Mutter getreten und seine Schildkröte durch das Dach des Gewächshauses geworfen, aber sein Zimmer hatte er trotzdem nicht zurückbekommen. Harry dachte darüber nach, was gestern beim Frühstück geschehen war. Hätte er den Brief doch nur schon im Flur geöffnet, dachte er voll Bitterkeit.

Onkel Vernon und Tante Petunia sahen sich unablässig mit düsterer Miene an.

Die Post kam, und Onkel Vernon, der offenbar versuchte nett zu Harry zu sein, ließ Dudley aufstehen und sie holen. Sie konnten ihn hören, wie er den ganzen Flur entlang mit seinem Smelting-Stock mal hierhin, mal dorthin schlug. Dann rief er:

 


 

 

»Da ist schon wieder einer! Mr. H. Potter, Das kleinste Schlafzimmer, Ligusterweg 4 -«

Mit einem erstickten Schrei sprang Onkel Vernon von seinem Stuhl hoch und rannte den Flur entlang, Harry dicht hinter ihm - Onkel Vernon musste Dudley zu Boden ringen, um ihm den Brief zu entwinden, was schwierig war, weil Harry Onkel Vernon von hinten um den Hals gepackt hatte. Nach einem kurzen Gerangel, bei dem Jeder ein paar saftige Schläge mit dem Smelting-Stock einstecken musste, richtete sich Onkel Vernon nach Luft ringend auf und hielt Harrys Brief in der Hand.

»Verschwinde in deinen Schrank - ich meine, dein Zimmer«, Japste er Harry zu. »Dudley - geh - ich bitte dich, geh.«

 

Oben in seinem neuen Zimmer ging Harry auf und ab, auf und ab. Jemand wusste, dass er aus dem Schrank ausgezogen war, und offenbar auch, dass er den ersten Brief nicht erhalten hatte. Das bedeutete doch gewiss, dass sie es wieder versuchen würden? Und das nächste Mal würde er dafür sorgen, dass es klappte. Er hatte einen Plan ausgeheckt.

 

Um sechs Uhr am nächsten Morgen klingelte der reparierte Wecker. Harry brachte ihn rasch zum Verstummen und zog sich leise an. Er durfte die Dursleys nicht aufwecken. Ohne Licht zu machen, stahl er sich die Treppe hinunter.

Er würde an der Ecke des Ligusterwegs auf den Postboten warten und sich die Briefe für Nummer 4 gleich geben lassen. Mit laut pochendem Herzen stahl er sich durch den dunklen Flur zur Haustür -

»AAAAAUUUUUH!«

Harry machte einen Sprung in die Luft - er war auf et-

 


 

 

was Großes und Matschiges getreten, das auf der Türmatte lag - etwas Lebendiges!

Im ersten Stock gingen Lichter an, und mit einem furcht- baren Schreck wurde Harry klar, dass das große matschige Etwas das Gesicht seines Onkels war. Onkel Vernon hatte in einem Schlafsack vor der Tür gelegen, und zwar genau deshalb, um Harry daran zu hindern, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Er schrie Harry etwa eine halbe Stunde lang an und befahl ihm dann, Tee zu kochen. Niedergeschlagen schlurfte Harry in die Küche, und als er zurückkam, war die Post schon eingeworfen worden, mitten auf den Schoß von Onkel Vernon. Harry konnte drei mit grüner Tinte beschriftete Briefe erkennen.

»Ich will -«, begann er, doch Onkel Vernon zerriss die Briefe vor seinen Augen in kleine Fetzen.

An diesem Tag ging Onkel Vernon nicht zur Arbeit. Er blieb zu Hause und nagelte den Briefschlitz zu.

»Weißt du«, erklärte er Tante Petunia mit dem Mund voller Nägel, »wenn sie die Briefe nicht zustellen können, werden sie es einfach bleiben lassen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das klappt, Vernon.«

»Oh, diese Leute haben eine ganz merkwürdige Art zu denken, Petunia, sie sind nicht wie du und ich«, sagte Onkel Vernon und versuchte einen Nagel mit dem Stück Obstkuchen einzuschlagen, den ihm Tante Petunia soeben gebracht hatte.

 

Am Freitag kamen nicht weniger als zwölf Briefe für Harry. Da sie nicht in den Briefschlitz gingen, waren sie unter der Tür durchgeschoben, zwischen Tür und Rahmen geklemmt oder durch das kleine Fenster der Toilette im Erdgeschoss gezwängt worden.

 


 

 

Wieder blieb Onkel Vernon zu Hause. Nachdem er alle Briefe verbrannt hatte, holte er sich Hammer, Nägel und Leisten und nagelte die Spalten an Vorder- und Hintertür zu, so dass niemand hinausgehen konnte. Beim Arbeiten summte er

»Bi-Ba-Butzemann« und zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen.

 

Am Sonnabend gerieten die Dinge außer Kontrolle. Vier- undzwanzig Briefe für Harry fanden den Weg ins Haus, zusammengerollt im Innern der zwei Dutzend Eier versteckt, die der völlig verdatterte Milchmann Tante Petunia durch das Wohnzimmerfenster hineingereicht hatte. Während Onkel Vernon wütend beim Postamt und bei der Molkerei anrief und versuchte Jemanden aufzutreiben, bei dem er sich beschweren konnte, zerschnitzelte Tante Petunia die Briefe in ihrem Küchenmixer.

»Wer zum Teufel will so dringend mit dir sprechen?«, fragte Dudley Harry ganz verdutzt.

 

Als sich Onkel Vernon am Sonntagmorgen an den Früh- stückstisch setzte, sah er müde und ziemlich erschöpft, aber glücklich aus.

»Keine Post an Sonntagen«, gemahnte er sie fröhlich, während er seine Zeitung mit Marmelade bestrich, #keine verfluchten Briefe heute -e

Während er sprach, kam etwas pfeifend den Küchenkamin heruntergesaust und knallte gegen seinen Hinterkopf Einen Augenblick später kamen dreißig oder vierzig Briefe wie Kugeln aus dem Kamin geschossen. Die Dursleys gingen in Deckung, doch Harry hüpfte in der Küche umher und versuchte einen Brief zu fangen.

»Raus! RAUS!«

Onkel Vernon packte Harry um die Hüfte und warf ihn

 


 

 

hinaus in den Flur. Als Tante Petunia und Dudley mit den Armen über dem Gesicht hinausgerannt waren, knallte Onkel Vernon die Tür zu. Sie konnten die Briefe immer noch in die Küche rauschen und gegen die Wände und den Fußboden klatschen hören.

»Das reicht«, sagte Onkel Vernon. Er versuchte ruhig zu sprechen, zog Jedoch gleichzeitig große Haarbüschel aus seinem Schnurrbart. »Ich möchte, dass ihr euch alle in fünf Minuten hier einfindet, bereit zur Abreise. Wir gehen. Packt ein paar Sachen ein. Und keine Widerrede!«

Mit nur einem halben Schnurrbart sah er so gefährlich aus, dass niemand ein Wort zu sagen wagte. Zehn Minuten später hatten sie sich durch die brettervernagelten Türen gezwängt, saßen im Wagen und sausten in Richtung Autobahn davon. Auf dem Rücksitz wimmerte Dudley vor sich hin; sein Vater hatte ihm links und rechts eine geknallt, weil er sie aufgehalten hatte mit dem Versuch, seinen Fernseher, den Videorecorder und den Computer in seine Sporttasche zu packen.

Sie fuhren. Und sie fuhren. Selbst Tante Petunia wagte nicht zu fragen, wo sie denn hinfuhren. Hin und wieder machte Onkel Vernon scharf kehrt und fuhr dann eine Weile in die entgegengesetzte Richtung.

»Schüttel sie ab ... schüttel sie ab«, murmelte er immer dann, wenn er umkehrte.

Den ganzen Tag über hielten sie nicht einmal an, um etwas zu essen oder zu trinken. Als die Nacht hereinbrach, war Dudley am Brüllen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen so schlechten Tag gehabt. Er war hungrig, er hatte fünf seiner Lieblingssendungen im Fernsehen verpasst, und er hatte noch nie so lange Zeit verbracht, ohne am Computer einen Außerirdischen in die Luft zu Jagen.

Endlich machte Onkel Vernon vor einem düster aus-

 


 

 

sehenden Hotel am Rande einer großen Stadt Halt. Dudley und Harry teilten sich ein Zimmer mit Doppelbett und feuchten, niedrigen Decken. Dudley schnarchte, aber Harry blieb wach. Er saß an der Fensterbank, blickte hinunter auf die Lichter der vorbeifahrenden Autos und dachte lange nach ...

Am nächsten Morgen frühstückten sie muffige Cornflakes und kalte Dosentomaten auf Toast. Kaum waren sie fertig, trat die Besitzerin des Hotels an ihren Tisch.

»Verzeihn Sie, aber ist einer von Ihnen Mr. H. Potter? Es ist nur - ich hab ungefähr hundert von diesen Dingern am Empfangsschalter.«

Sie hielt einen Brief hoch, so dass sie die mit grüner Tinte geschriebene Adresse lesen konnten:

 

Mr. H. Potter Zimmer 17

Hotel zum Bahnblick Cokeworth

 

Harry schnappte nach dem Brief doch Onkel Vernon schlug seine Hand weg. Die Frau starrte sie an.

»Ich nehme sie«, sagte Onkel Vernon, stand rasch auf und folgte ihr aus dem Speisezimmer.

 

»Wäre es nicht besser, wenn wir einfach nach Hause fahren würden, Schatz?«, schlug Tante Petunia einige Stunden später mit schüchterner Stimme vor. Doch Onkel Vernon schien sie nicht zu hören. Keiner von ihnen wusste, wonach genau er suchte. Er fuhr sie in einen Wald hinein, stieg aus, sah sich um, schüttelte den Kopf, setzte sich wieder ins Auto, und weiter ging's. Dasselbe geschah inmitten eines umgepflügten Ackers, auf halbem Weg über

 


 

 

eine Hängebrücke und auf der obersten Ebene eines mehr- stöckigen Parkhauses.

»Daddy ist verrückt geworden, nicht wahr?«, fragte Dudley spät am Nachmittag mit dumpfer Stimme Tante Petunia. Onkel Vernon hatte an der Küste geparkt, sie alle im Wagen eingeschlossen und war verschwunden.

Es begann zu regnen. Große Tropfen klatschten auf das Wagendach. Dudley schniefte.

»Es ist Montag«, erklärte er seiner Mutter »Heute kommt der Große Humberto. Ich will dahin, wo sie einen Fernseher haben.«

Montag. Das erinnerte Harry an etwas. Wenn es Montag war

- und meist konnte man sich auf Dudley verlassen, wenn es um die Wochentage ging, und zwar wegen des Fernsehens -, dann war morgen Dienstag, Harrys elfter Geburtstag. Natürlich waren seine Geburtstage nie besonders lustig gewesen - letztes Jahr hatten ihm die Dursleys einen Kleiderbügel und ein Paar alte Socken von Onkel Vernon geschenkt. Trotzdem, man wird nicht Jeden Tag elf.

Onkel Vernon kam zurück mit einem Lächeln auf dem Gesicht. In den Händen trog er ein langes, schmales Paket, doch auf Tante Petunias Frage, was er gekauft habe, antwortete er nicht.

»Ich habe den idealen Platz gefunden!«, sagte er. »Kommt!

Alle aussteigen!«

Draußen war es sehr kalt. Onkel Vernon wies hinaus aufs Meer, wo in der Ferne ein großer Felsen zu erkennen war. Auf diesem Felsen thronte die schäbigste kleine Hütte, die man sich vorstellen kann. Eins war sicher, einen Fernseher gab es dort nicht.

»Sturmwarnung für heute Nacht!«, sagte Onkel Vernon schadenfroh und klatschte in die Hände. »Und dieser

 


 

 

Gentleman hier hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns sein Boot zu leihen!«

Ein zahnloser alter Mann kam auf sie zugehumpelt und deutete mit einem recht verschmitzten Grinsen auf ein altes Ruderboot im stahlgrauen Wasser unter ihnen.

»Ich hab uns schon einige Futterrationen besorgt«, sagte Onkel Vernon, »also alles an Bord!«

Im Boot war es bitterkalt. Eisige Gischt und Regentropfen krochen ihnen die Rücken hinunter und ein frostiger Wind peitschte über ihre Gesichter Nach Stunden, so kam es ihnen vor, erreichten sie den Fels, wo sie Onkel Vernon rutschend und schlitternd zu dem heruntergekommenen Haus führte.

Innen sah es fürchterlich aus; es stank durchdringend nach Seetang, der Wind pfiff durch die Ritzen der Holzwände und die Feuerstelle war nass und leer. Es gab nur zwei Räume.

Onkel Vernons Rationen stellten sich als eine Packung Kräcker für Jeden und vier Bananen heraus. Er versuchte ein Feuer zu machen, doch die leeren Kräcker-Schachteln gaben nur Rauch von sich und schrumpelten zusammen.

»Jetzt könnte ich ausnahmsweise mal einen dieser Briefe gebrauchen, Leute«, sagte er fröhlich.

Er war bester Laune. Offenbar glaubte er, niemand hätte eine Chance, sie hier im Sturm zu erreichen und die Post zuzustellen. Harry dachte im Stillen das Gleiche, doch der Gedanke munterte ihn überhaupt nicht auf

Als die Nacht hereinbrach, kam der versprochene Sturm um sie herum mächtig in Fahrt. Gischt von den hohen Wellen spritzte gegen die Wände der Hütte und ein zorniger Wind rüttelte an den schmutzigen Fenstern. Tante Petunia fand ein paar nach Aal riechende Leintücher und machte Dudley auf dem mottenzerfressenen Sofa ein Bett

 


 

 

zurecht. Sie und Onkel Vernon gingen ins zerlumpte Bett nebenan, und Harry musste sich das weichste Stück Fußboden suchen und sich unter der dünnsten, zerrissensten Decke zusammenkauern.

Die Nacht rückte vor und immer wütender blies der Sturm. Harry konnte nicht schlafen. Er bibberte und wälzte sich hin und her, um es sich bequemer zu machen, und sein Magen röhrte vor Hunger. Dudleys Schnarchen ging im rollenden Donnern unter, das um Mitternacht anhob. Der Leuchtzeiger von Dudleys Uhr, die an seinem dicken Handgelenk vom Sofarand herunterbaumelte, sagte Harry, dass er in zehn Minuten elf Jahre alt sein würde. Er lag da und sah zu, wie sein Geburtstag tickend näher rückte. Ob die Dursleys überhaupt an ihn denken würden?, fragte er sich. Wo der Briefeschreiber Jetzt wohl war?

Noch fünf Minuten. Harry hörte draußen etwas knacken. Hoffentlich kam das Dach nicht herunter, auch wenn ihm dann vielleicht wärmer sein würde. Noch vier Minuten. Vielleicht war das Haus am Ligusterweg, wenn sie zurückkamen, so voll gestopft mit Briefen, dass er auf die eine oder andere Weise einen davon stibitzen konnte.

Noch drei Minuten. War es das Meer, das so hart gegen die Felsen schlug? und (noch zwei Minuten) was war das für ein komisches, mahnendes Geräusch? Zerbrach der Fels und stürzte ins Meer?

Noch eine Minute und er war elf Dreißig Sekunden ... zwanzig ... zehn ... neun - vielleicht sollte er Dudley aufwecken, einfach um ihn zu ärgern - drei ... zwei ... eine -

BUMM BUMM.

Die ganze Hütte erzitterte. Mit einem Mal saß Harry kerzengerade da und starrte auf die Tür. Da draußen war Jemand und klopfte.

 


 

 


Date: 2015-12-11; view: 762


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