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Ein Fenster Verschwindet

 

Fast zehn Jahre waren vergangen, seit die Dursleys eines Morgens die Haustür geöffnet und auf der Schwelle ihren Neffen gefunden hatten, doch der Ligusterweg hatte sich kaum verändert. Wenn die Sonne aufging, tauchte sie dieselben fein säuberlich gepflegten Vorgarten in ihr Licht und ließ dasselbe Messingschild mit der Nummer 4 über der Tür erglimmen. Schließlich krochen ihre Strahlen ins Wohnzimmer. Dort sah es fast genauso aus wie in Jener Nacht, als Mr. Dursley im Fernsehen den unheilvollen Bericht über die Eulen gesehen hatte. Nur die Fotos auf dem Kaminsims führten einem vor Augen, wie viel Zeit verstrichen war. Zehn Jahre zuvor hatten dort eine Menge Bilder gestanden, auf denen etwas, das an einen großen rosa Strandball erinnerte, zu sehen war und Bommelhüte in verschiedenen Farben trug - doch Dudley Dursley war nun kein Baby mehr und Jetzt zeigten die Fotos einen großen, blonden Jungen, mal auf seinem ersten Fahrrad, mal auf dem Rummelplatz Karussell fahrend, mal beim Computerspiel mit dem Vater und schließlich, wie ihn die Mutter knuddelte und küsste. Nichts in dem Zimmer ließ ahnen, dass in diesem Haus auch noch ein anderer Junge lebte.

Doch Harry Potter war immer noch da, er schlief gerade, aber nicht mehr lange. Seine Tante Petunia war schon wach und ihre schrille Stimme durchbrach die morgendliche Stille.

 


 

 

»Aufstehen, aber dalli!«

Mit einem Schlag war Harry hellwach. Noch einmal trommelte seine Tante gegen die Tür.

»Aufstehen!«, kreischte sie. Harry hörte, wie sie in die Küche ging und dort die Pfanne auf den Herd stellte. Er drehte sich auf den Rücken und versuchte sich an den Traum zu erinnern, den er gerade noch geträumt hatte. Es war ein guter Traum. Ein fliegendes Motorrad war darin vorgekommen. Er hatte das merkwürdige Gefühl, den Traum schon einmal geträumt zu haben.

Draußen vor der Tür stand Jetzt schon wieder seine Tante.

»Bist du schon auf den Beinen?«, fragte sie.

»Fast«, sagte Harry.

»Beeil dich. Ich möchte, dass du auf den Schinken aufpasst. Und lass ihn Ja nicht anbrennen, an Duddys Geburtstag muss alles tipptopp sein.«

Harry stöhnte.

»Was hast du gesagt?«, keifte seine Tante durch die Tür.

»Nichts, nichts ...«

Dudleys Geburtstag - wie konnte er den nur vergessen haben? Langsam kletterte Harry aus dem Bett und begann nach Socken zu suchen. Unter seinem Bett fand er ein Paar, zupfte eine Spinne davon weg und zog sie an. Harry war an Spinnen gewöhnt, weil es im Schrank unter der Treppe von Spinnen wimmelte. Und in diesem Schrank schlief Harry. Als er angezogen war, ging er den Flur entlang und betrat die Küche. Der ganze Tisch war über und über bedeckt mit Geburtstagsgeschenken. Offenbar hatte Dudley den neuen Computer bekommen, den er sich gewünscht hatte, und, der Rede gar nicht wert, auch noch den zweiten Fernseher und das Rennrad. Warum Dudley eigentlich ein Rennrad haben wollte, war Harry ein Rätsel, denn Dudley



 


 

 

war sehr dick und verabscheute Sport - außer natürlich, wenn es darum ging, andern eine reinzuhauen. Dudleys Lieblingsopfer war Harry, doch den bekam er nicht so oft zu fassen. Man sah es Harry zwar nicht an, aber er konnte sehr schnell rennen.

Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in einem dunklen Schrank lebte, Jedenfalls war Harry für sein Alter immer recht klein und dürr gewesen. Er sah sogar noch kleiner und dürrer aus, als er in Wirklichkeit war, denn alles, was er zum Anziehen hatte, waren die abgelegten Klamotten Dudleys, und der war etwa viermal so dick wie Harry. Harry hatte ein schmales Gesicht, knubbelige Knie, schwarzes Haar und hellgrüne Augen. Er trug eine Brille mit runden Gläsern, die, weil Dudley ihn auf die Nase geschlagen hatte, mit viel Klebeband zusammengehalten wurden. Das Einzige, das Harry an seinem Aussehen mochte, war eine sehr feine Narbe auf seiner Stirn, die an einen Blitz erin- nerte. So weit er zurückdenken konnte, war sie da gewesen, und seine allererste Frage an Tante Petunia war gewesen, wie er zu dieser Narbe gekommen war.

»Durch den Autounfall, bei dem deine Eltern starben«, hatte sie gesagt. »Und Jetzt hör auf zu fragen.«

Hör auf zu fragen - das war die erste Regel, wenn man bei den Dursleys ein ruhiges Leben fristen wollte.

Onkel Vernon kam in die Küche, als Harry gerade den Schinken umdrehte.

»Kämm dir die Haare!«, bellte er als Morgengruß.

Etwa einmal die Woche spähte Onkel Vernon über seine Zeitung und rief, Harry müsse endlich einmal zum Friseur. Harry musste öfter beim Friseur gewesen sein als alle Jungen seiner Klasse zusammen, doch es half nichts. Sein Haar wucherte einfach vor sich hin - wie ein wilder Garten.

Harry briet gerade Eier, als Dudley mit seiner Mutter in

 


 

 

die Küche kam. Dudley sah Onkel Vernon auffällig ähnlich. Er hatte ein breites, rosa Gesicht, nicht viel Hals, kleine, wässrige blaue Augen und dichtes blondes Haar das glatt auf seinem runden, fetten Kopf lag. Tante Petunia sagte oft, dass Dudley aussehe wie ein kleiner Engel - Harry sagte oft, Dudley sehe aus wie ein Schwein mit Perücke.

Harry stellte die Teller mit Eiern und Schinken auf den Tisch, was schwierig war, denn viel Platz gab es nicht. Dudley zählte unterdessen seine Geschenke. Er zog eine Schnute.

»Sechsunddreißig«, sagte er und blickte auf zu Mutter und Vater. »Das sind zwei weniger als letztes Jahr.«

»Liebling, du hast Tante Maggies Geschenk nicht mitgezählt, schau, es ist hier unter dem großen von Mummy und Daddy.«

»Na gut, dann eben siebenunddreißig«, sagte Dudley und lief rot an - Harry, der einen gewaltigen Wutanfall nach Art von Dudley kommen sah, schlang seinen Schinken so schnell wie möglich hinunter, für den Fall, dass Dudley den Tisch umkippte.

Auch Tante Petunia witterte offenbar Gefahr, denn rasch sagte sie: »Und heute, wenn wir ausgehen, kaufen wir dir noch zwei Geschenke. Was sagst du nun, Spätzchen?«

Dudley dachte einen Augenblick nach und es sah wie Schwerstarbeit aus. Schließlich sagte er langsam: »Dann habe ich achtund ... achtund ...«

»Neununddreißig, mein Süßer«, sagte Tante Petunia.

»Oh.« Dudley ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und grabschte nach einem Päckchen. »Von mir aus.«

Onkel Vernon gluckste.

»Der kleine Lümmel will was sehen für sein Geld, genau wie sein Vater. Braver Junge, Dudley!« Er fuhr mit der Hand durch Dudleys Haar.

 


 

 

In diesem Moment klingelte das Telefon, und Tante Petunia ging an den Apparat, während Harry und Onkel Vernon Dudley dabei zusahen, wie er das Rennrad, eine Videokamera, ein ferngesteuertes Modellflugzeug, sechzehn neue Computerspiele und einen Videorecorder auspackte. Gerade riss er das Papier von einer goldenen Armbanduhr, als Tante Petunia mit zornigem und besorgtem Blick vom Telefon zurückkam.

»Schlechte Nachrichten, Vernon«, sagte sie. »Mrs. Figg hat sich ein Bein gebrochen. Sie kann ihn nicht nehmen.« Unwirsch nickte sie mit dem Kopf in Harrys Richtung.

Dudley klappte vor Schreck der Mund auf, doch Harrys Herz begann zu hüpfen. Jedes Jahr an Dudleys Geburtstag machten seine Eltern mit ihm und einem Freund einen Ausflug, sie besuchten Abenteuerparks, gingen Hamburger essen oder ins Kino. Jedes Jahr blieb Harry bei Mrs. Figg, einer verrückten alten Dame zwei Straßen weiter. Harry hasste es, dorthin zu gehen. Das ganze Haus roch nach Kohl, und Mrs. Figg bestand darauf dass er sich die Fotos aller Katzen ansah, die sie Je besessen hatte.

»Und nun?«, sagte Tante Petunia und sah Harry so zornig an, als hätte er persönlich diese Unannehmlichkeit ausgeheckt. Harry wusste, es sollte ihm eigentlich Leid tun, dass sich Mrs. Figg ein Bein gebrochen hatte, doch fiel ihm das nicht leicht bei dem Gedanken, sich Tibbles, Snowy, Putty und Tuffy erst wieder in einem Jahr angucken zu müssen.

»Wir könnten Marge anrufen«, schlug Onkel Vernon vor.

»Sei nicht albern, Vernon, sie hasst den Jungen.«

Die Dursleys sprachen oft über Harry, als ob er gar nicht da wäre - oder vielmehr, als ob er etwas ganz Widerwärtiges wäre, das sie nicht verstehen konnten, eine Schnecke vielleicht.

 


 

 

»Was ist mit Wie-heißt-sie-noch-mal, deine Freundin

-Yvonne?«

»Macht Ferien auf Mallorca«, sagte Tante Petunia barsch.

»Ihr könntet mich einfach hier lassen«, schlug Harry hoffnungsvoll vor (dann konnte er zur Abwechslung mal fernsehen, was er wollte, und sich vielleicht sogar einmal aber Dudleys Computer hermachen).

Tante Petunia schaute, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen.

»Und wenn wir zurückkommen, liegt das Haus in Trüm- mern?«. raunzte sie.

»Ich werde das Haus schon nicht in die Luft Jagen«, sagte Harry, aber sie hörten ihm nicht zu.

»Ich denke, wir könnten ihn in den Zoo mitnehmen«, sagte Tante Petunia langsam, »... und ihn im Wagen lassen ...«

»Der Wagen ist neu, kommt nicht in Frage, dass er alleine drinbleibt ...«

Dudley begann laut zu weinen. Er weinte zwar nicht wirklich, seit Jahren hatte er nicht mehr wirklich geweint, aber er wusste, wenn er eine Schnute zog und Jammerte, würde ihm seine Mutter alles geben, was er wollte.

»Mein kleiner Duddybums, weine nicht, Mummy verdirbt dir den Geburtstag nicht!«

»Ich ... will ... nicht ... dass er ... m-m-mitkommt!«, schrie Dudley zwischen den markerschütterndem falschen Schluchzern.

»Er macht immer alles k-k-aputt!« Durch die Arme seiner Mutter hindurch warf er Harry ein gehässiges Grinsen zu.

In diesem Augenblick läutete es an der Tür - »Ach du liebes bisschen, da sind sie«, rief Tante Petunia hellauf entsetzt - und schon marschierte Dudleys bester Freund, Piers Polkiss, in Begleitung seiner Mutter herein. Piers war ein

 


 

 

magerer Junge mit einem Gesicht wie ein Ratte. Meist war es Piers, der den anderen Kindern die Arme auf dem Rücken festhielt, während Dudley auf sie einschlug. Sofort hörte Dudley auf mit seinem falschen Weinen.

Eine halbe Stunde später saß Harry, der sein Glück noch nicht fassen konnte, zusammen mit Piers und Dudley hinten im Wagen, auf dem Weg zum ersten Zoobesuch seines Lebens. Onkel und Tante war einfach nichts Besseres eingefallen, doch bevor sie aufgebrochen waren, hatte Onkel Vernon Harry beiseite genommen.

»Ich warne dich«, hatte er gesagt und war mit seinem großen purpurroten Gesicht dem Harrys ganz nahe gekommen, »ich warne dich Jetzt, Junge - irgendwelche krummen Dinger, auch nur eine Kleinigkeit - und du bleibst von heute bis Weihnachten im Schrank.«

»Ich mach überhaupt nichts«, sagte Harry, »ehrlich ...«

Doch Onkel Vernon glaubte ihm nicht. Nie glaubte ihm Jemand.

Das Problem war, dass oft merkwürdige Dinge um Harry herum geschahen, und es hatte einfach keinen Zweck, den Dursleys zu sagen, dass er nichts dafür konnte.

Einmal, als Harry wieder einmal vom Friseur kam und so aussah, als sei er gar nicht dort gewesen, hatte sich Tante Petunia voll Überdruss eine Küchenschere gegriffen und sein Haar so kurz geschnitten, dass er am Ende fast eine Glatze hatte. Nur über der Stirn hatte sie noch etwas übrig gelassen, um »diese schreckliche Narbe zu verdecken«. Dudley hatte sich dumm und dämlich gelacht bei diesem Anblick, und Harry machte in dieser Nacht keine Auge zu beim Gedanken, wie es ihm am nächsten Tag in der Schule ergehen würde, wo sie ihn ohnehin schon wegen seiner ausgebeulten Sachen und seiner zusammengeklebten Brille hänselten. Am nächsten Morgen Jedoch wachte er auf und

 


 

 

fand sein Haar genauso lang vor, wie es gewesen war, bevor Tante Petunia es ihm abgesäbelt hatte. Dafür hatte er eine Woche Schrank bekommen, obwohl er versucht hatte zu erklären, dass er sich nicht erklären konnte, wie das Haar so rasch wieder gewachsen war.

Ein andermal hatte Tante Petunia versucht, ihn in einen ekligen alten Pulli von Dudley zu zwängen (braun mit orangeroten Bommeln). Je verzweifelter sie sich mühte, ihn über Harrys Kopf zu ziehen, desto enger schien er zu werden, bis er am Ende vielleicht noch einer Babypuppe gepasst hätte, aber sicher nicht Harry Tante Petunia gab sich schließlich mit der Erklärung zufrieden, er müsse wohl beim Waschen eingelaufen sein, und zu Harrys großer Erleichterung bestrafte sie ihn nicht.

Andererseits war er in schreckliche Schwierigkeiten geraten, weil man ihn eines Tages auf dem Dach der Schulküche gefunden hatte. Dudleys Bande hatte ihn wie üblich gejagt, als er auf einmal, und zwar ebenso verdutzt wie alle ändern, auf dem Kamin saß. Die Dursleys bekamen daraufhin in einem sehr wütenden Brief von Harrys Schulleiterin zu lesen, Harry sei das Schulhaus emporgeklettert. Doch alles, was er hatte tun wollen, war (wie er Onkel Vernon durch die verschlossene Tür seines Schranks zurief), hinter die großen Abfalleimer draußen vor der Küchentür zu springen. Vielleicht, überlegte Harry, hatte ihn der Wind mitten im Sprung erfasst und hochgetragen.

Doch heute sollte nichts schief gehen. Um den Tag bloß nicht in der Schule, seinem Schrank oder in Mrs. Figgs nach Kohl riechendem Wohnzimmer verbringen zu müssen, nahm er sogar die Gesellschaft von Dudley und Piers in Kauf

Während der Fahrt beschwerte sich Onkel Vernon bei Tante Petunia. Er beklagte sich gerne: die Leute im Büro,

 


 

 

Harry, der Stadtrat, Harry, die Bank und Harry waren nur einige seiner Lieblingsthemen. Heute Morgen waren es die Motorradfahrer.

»... Jagen hier lang wie die Verrückten, diese Jungen Rowdys«, klagte er, als ein Motorrad sie überholte.

»Ich habe von einem Motorrad geträumt«, sagte Harry, der sich plötzlich wieder daran erinnerte. »Es konnte fliegen.«

Onkel Vernon knallte beinahe in den Vordermann. Er drehte sich auf seinem Sitz ganz nach hinten um, das Gesicht wie eine riesige Scheibe Rote Bete mit Schnurrbart, und schrie Harry an:

»MOTORRÄDER FLIEGEN NICHT!«

Dudley und Piers wieherten.

»Das weiß ich«, sagte Harry. »Es war Ja nur ein Traum.« Hätte er bloß nichts gesagt, dachte er. Wenn es etwas gab,

was die Dursleys noch mehr hassten als seine Fragen, dann waren es seine Geschichten über die Dinge, die sich nicht so verhielten, wie sie sollten, egal ob es nun in einem Traum oder in einem Comic passierte - sie glaubten offenbar, er könnte auf gefährliche Gedanken kommen.

Es war ein sehr sonniger Sonnabend und im Zoo drängelten sich die Familien. Die Dursleys kauften Dudley und Piers am Eingang ein paar große Schoko-Eiskugeln, und weil die Frau im Eiswagen Harry mit einem Lächeln fragte, was denn der Junge Mann bekomme, kauften sie ihm ein billiges Zitroneneis am Stiel. Das war auch nicht schlecht, dachte Harry und lutschte vor sich hin, während sie einem Gorilla zuschauten, der sich am Kopf kratzte und der, auch wenn er nicht blond war, Dudley erstaunlich ähnlich sah.

Es war Harrys bester Morgen seit langem. Umsichtig ging er ein Stück hinter den Dursleys her, damit Dudley

 


 

 

und Piers, die um die Mittagszeit anfingen sich zu langweilen, nicht wieder auf ihre Lieblingsbeschäftigung verfielen, nämlich Harry zu verhauen. Sie aßen im Zoorestaurant, und als Dudley einen Wutanfall bekam, weil sein Eisbecher Hawaii nicht groß genug war, bestellte ihm Onkel Vernon einen neuen, und Harry durfte den ersten aufessen.

Das war des Guten zu viel, und im Nachhinein hatte Harry das Gefühl, er hätte es wissen müssen.

Nach dem Mittagessen gingen sie ins Reptilienhaus. Hier drin war es kühl und dunkel und entlang der Wände waren runde Sichtfenster eingelassen. Hinter dem Glas krabbelten und glitten alle Arten von Echsen und Schlangen über Äste und Steine. Dudley und Piers wollten die riesigen, giftigen Kobras und die Pythonschlangen sehen, die Menschen zerquetschen konnten. Schnell fand Dudley die größte Schlange, die es hier gab. Sie hätte sich zweimal um Onkel Vernons Wagen schlingen und ihn in einen Mülleimer quetschen können - doch offenbar war sie dazu gerade nicht in Stimmung. Tatsächlich döste sie vor sich hin.

Dudley hatte die Nase gegen das Fenster gepresst und starrte wie gebannt auf die glänzenden braunen Windungen.

»Mach, dass sie sich bewegt«, sagte er in quengelndem Ton zu seinem Vater. Onkel Vernon klopfte mit der Faust gegen das Glas, doch die Schlange rührte sich nicht.

»Mach's noch einmal«, befahl Dudley. Onkel Vernon trommelte behände mit den Knöcheln auf das Glas, doch die Schlange schnarchte einfach weiter.

»Wie langweilig«, klagte Dudley und schlurfte davon.

Harry trat vor die Scheibe und ließ den Blick auf der Schlange ruhen. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn auch

 


 

 

sie vor Langeweile gestorben wäre - keine Gesellschaft außer doofen Leuten, die mit den Fingern gegen das Glas trommelten und sie den ganzen Tag lang störten. Das war schlimmer, als einen Schrank als Zimmer zu haben, wo der einzige Besucher Tante Petunia war, die an die Tür hämmerte, um einen aufzuwecken. Doch zumindest bekam er den Rest des Hauses zu sehen.

Die Schlange öffnete plötzlich ihre kleinen Perlaugen. Langsam, ganz allmählich, hob sie den Kopf bis ihre Augen auf einer Höhe mit denen Harrys waren.

Sie zwinkerte.

Harry starrte sie an. Rasch blickte er über die Schulter, ob Jemand zusah. Niemand. Er drehte sich wieder zu der Schlange um und zwinkerte zurück.

Die Schlange stieß mit dem Kopf in Richtung Onkel Vernon und Dudley und rollte die Augen nach oben. Sie sah Harry mit einem Blick an, der eindeutig sagte:

»So was muss ich den ganzen Tag ertragen.«

»Ich weiß«, murmelte Harry durch das Glas, wenn er auch nicht sicher war, ob die Schlange ihn hören konnte. »Das muss dich wirklich auf die Palme bringen.«

Die Schlange nickte lebhaft.

»Weber kommst du eigentlich?«, fragte Harry.

Die Schlange stieß mit ihrem Schwanz gegen ein kleines Schild nahe dem Fenster. Harry spähte auf die Inschrift.

Boa constrictor, Brasilien.

»War es schön dort?«

Wieder stieß die Schlange mit dem Schwanz gegen das Schild, und Harry las weiter: Dieses Exemplar wurde im Zoo ausgebrütet »Oh, ich verstehe, du warst nie in Brasilien?«

Die Schlange schüttelte den Kopf, und plötzlich erschallte hinter Harry ein ohrenbetäubendes Rufen, das sie beide zusammenzucken ließ: »DUDLEY! MR. DURS-

 


 

 

LEY! KOMMT UND SEHT EUCH DIESE SCHLANGE AM DAS GLAUBT IHR NICHT, WAS DIE TUT!«

Dudley kam, so schnell er konnte, auf sie zugewatschelt.

»Aus dem Weg, Mann«, sagte er und stieß Harry in die Rippen. Harry, von dem Schlag ganz überrascht, fiel hart auf den Betonboden. Was nun kam, passierte so schnell, dass niemand sah, wie es geschah: Einen Moment lang drückten sich Piers und Dudley ganz dicht gegen das Glas und im nächsten Moment sprangen sie unter Schreckgeheule zurück.

Harry setzte sich auf und nun stockte ihm der Atem. Die Glasscheibe am Terrarium der Boa constrictor war verschwunden. Die große Schlange entrollte sich im Nu und schlängelte sich heraus auf den Boden. - Im ganzen Reptilienhaus schrien die Menschen und rannten zu den Ausgängen.

Als die Schlange an Harry vorbeiglitt, hätte er schwören können, dass eine leise, zischelnde Stimme sagte: »Brasilien, ich komme . .. tschüsss, Amigo.«

Der Obertierpfleger des Reptilienhauses stand unter Schock.

»Aber das Glas«, murmelte er ständig vor sich hin, »was ist aus dem Glas geworden?«

 

Der Zoodirektor persönlich brühte Tante Petunia eine Tasse starken, süßen Tee und überschlug sich mit seinen Entschuldigungen. Piers und Dudley schnatterten nur noch. Soweit Harry es gesehen hatte, hatte die Schlange nichts getan, außer im vorbeigleiten spielerisch gegen ihre Fersen zu schlenzen, doch als sie alle wieder in Onkel Vernons Wagen saßen, erzählte ihnen Dudley, die Schlange hätte ihm fast das Bein abgebissen, während Piers schwor, sie hätte versucht, ihn totzuquetschen. Doch am schlimmsten

 


 

 

für Harry war, dass Piers, als er sich ein wenig beruhigt hatte, sagte: »Harry hat mit ihr gesprochen, nicht wahr, Harry?«

Onkel Vernon wartete, bis Piers endgültig aus dem Haus war, bevor er sich Harry vorknöpfte. Er war so wütend, dass er kaum ein Wort hervorbrachte. »Geh - Schrank - bleib - kein Essen«, konnte er gerade noch herauswürgen, bevor er auf einem Stuhl zusammensackte und Tante Petunia ihm schleunigst einen großen Cognac bringen musste.

Harry lag noch lange wach in seinem dunklen Schrank. Hätte er doch nur eine Uhr. Er wusste nicht, wie spät es war, und er war sich nicht sicher, ob die Dursleys schon schliefen. Bis es so weit war, konnte er es nicht riskieren, in die Küche zu schleichen und sich etwas zu essen zu holen.

Fast zehn Jahre lebte er nun bei den Dursleys, solange er sich erinnern konnte, und es waren zehn elende Jahre gewesen. Schon als Baby war er zu ihnen gekommen, denn seine Eltern waren bei einem Autounfall gestorben. Er konnte sich nicht erinnern, in diesem Auto gewesen zu sein, als der Unfall passierte. Manchmal, wenn er sich während der langen Stunden im Schrank ganz angestrengt zu erinnern suchte, tauchte eine unheimliches Bild vor seinen Augen auf. ein blendend heller Blitz aus grünem Licht und ein brennender Schmerz auf seiner Stirn. Das musste der Unfall gewesen sein, obwohl er sich nicht erklären konnte, wo all das grüne Licht herkam. Er konnte sich überhaupt nicht an seine Eltern erinnern. Onkel und Tante sprachen nie über sie, und natürlich war es ihm verboten, Fragen zu stellen. Im Haus gab es auch keine Fotos von ihnen.

Als Harry noch Jünger gewesen war, hatte er immer und immer wieder von einem unbekannten Verwandten geträumt, der kommen und ihn mitnehmen würde, aber das


 

 

war nie Wirklichkeit geworden; die Dursleys waren alles, was er noch an Familie hatte. Doch manchmal hatte er den Eindruck (oder vielleicht die Hoffnung), dass Unbekannte auf der Straße ihn zu kennen schienen. Sehr merkwürdige Unbekannte waren das übrigens. Einmal, als er mit Tante Petunia und Dudley beim Einkaufen war, hatte sich ein kleiner Mann mit einem violetten Zylinder vor ihm verneigt. Tante Petunia fragte Harry ganz entsetzt, ob er den Mann kenne, und schubste ihn und Dudley hastig aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Ein andermal hatte ihm eine wild aussehende, ganz in Grün gekleidete alte Frau im Bus fröhlich zugewinkt. Und ein glatzköpfiger Mann mit einem sehr langen, purpurnen Umhang hatte ihm doch tatsächlich mitten auf der Straße die Hand geschüttelt und war dann ohne ein Wort zu sagen weitergegangen. Das Seltsamste an all diesen Leuten war, dass sie zu verschwinden schienen, wenn Harry versuchte sie genauer anzusehen. In der Schule hatte Harry niemanden. Jeder wusste, dass Dudleys Bande diesen komischen Harry Potter mit seinen ausgebeulten alten Klamotten und seiner zerbrochenen Brille nicht ausstehen konnte, und niemand mochte Dudleys Bande in die Quere kommen.

 


 

 


Date: 2015-12-11; view: 1086


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