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Ein Junge Überlebt

 

Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.

Mr. Dursley war Direktor einer Firma namens Grunnings, die Bohrmaschinen herstellte. Er war groß und bullig und hatte fast keinen Hals, dafür aber einen sehr großen Schnurrbart. Mrs. Dursley war dünn und blond und besaß doppelt so viel Hals, wie notwendig gewesen wäre, was allerdings sehr nützlich war, denn so konnte sie den Hals über den Gartenzaun recken und zu den Nachbarn hinüberspähen. Die Dursleys hatten einen kleinen Sohn namens Dudley und in ihren Augen gab es nirgendwo einen prächtigeren Jungen.

Die Dursleys besaßen alles, was sie wollten, doch sie hatten auch ein Geheimnis, und dass es Jemand aufdecken könnte, war ihre größte Sorge. Einfach unerträglich wäre es, wenn die Sache mit den Potters herauskommen würde. Mrs. Potter war die Schwester von Mrs. Dursley; doch die beiden hatten sich schon seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen. Mrs. Dursley behauptete sogar, dass sie gar keine Schwester hätte, denn diese und deren Nichtsnutz von einem Mann waren so undursleyhaft, wie man es sich nur denken konnte. Was würden bloß die Nachbarn sagen,

 


 

 

sollten die Potters eines Tages in ihrer Straße aufkreuzen? Die Dursleys wussten, dass auch die Potters einen kleinen Sohn hatten, doch den hatten sie nie gesehen. Auch dieser Junge war ein guter Grund, sich von den Potters fernzuhalten; mit einem solchen Kind sollte ihr Dudley nicht in Berührung kommen.

Als Mr. und Mrs. Dursley an dem trüben und grauen Dienstag, an dem unsere Geschichte beginnt, die Augen aufschlugen, war an dem wolkenverhangenen Himmel draußen kein Vorzeichen der merkwürdigen und geheimnisvollen Dinge zu erkennen, die bald Überall im Land geschehen sollten. Mr. Dursley summte vor sich hin und suchte sich für die Arbeit seine langweiligste Krawatte aus, und Mrs. Dursley schwatzte munter vor sich hin, während sie mit dem schreienden Dudley rangelte und ihn in seinen Hochstuhl zwängte.

Keiner von ihnen sah den riesigen Waldkauz am Fenster vorbeifliegen.

Um halb neun griff Mr. Dursley nach der Aktentasche, gab seiner Frau einen Schmatz auf die Wange und versuchte es auch bei Dudley mit einem Abschiedskuss. Der ging Jedoch daneben, weil Dudley gerade einen Wutanfall hatte und die Wände mit seinem Haferbrei bewarf »Kleiner Schlingel«, gluckste Mt Dursley, während er nach draußen ging. Er setzte sich in den Wagen und fuhr rückwärts die Einfahrt zu Nummer 4 hinaus.

An der Straßenecke fiel ihm zum ersten Mal etwas Merk- würdiges auf - eine Katze, die eine Straßenkarte studierte. Einen Moment war Mr. Dursley nicht klar, was er gesehen hatte - dann wandte er rasch den Kopf zurück, um noch einmal hinzuschauen. An der Einbiegung zum Ligusterweg stand eine getigerte Katze, aber eine Straßenkarte war nicht zu sehen. Woran er nur wieder gedacht hatte! Das




 

 

musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Mr. Dursley blinzelte und starrte die Katze an. Die Katze starrte zurück. Während Mr. Dursley um die Ecke bog und die Straße ent- langfuhr, beobachtete er die Katze im Rückspiegel. Jetzt las sie das Schild mit dem Namen Ligusterweg - nein, sie blickte auf das Schild. Katzen konnten weder Karten noch Schilder lesen. Mr. Dursley gab sich einen kleinen Ruck und verjagte die Katze aus seinen Gedanken. Während er in Richtung Stadt fuhr, hatte er nur noch den großen Auftrag für Bohrmaschinen im Sinn, der heute hoffentlich eintreffen würde.

Doch am Stadtrand wurden die Bohrmaschinen von etwas anderem aus seinen Gedanken verdrängt. Er saß im üblichen morgendlichen Stau fest und konnte nicht wohin zu bemerken, dass offenbar eine Menge seltsam gekleideter Menschen unterwegs waren. Menschen in langen und weiten Umhängen. Mr. Dursley konnte Leute nicht ausstehen, die sich komisch anzogen - wie sich die Jungen Leute herausputzten! Das musste wohl irgendeine dumme neue Mode sein. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und sein Blick fiel auf eine Ansammlung dieser merkwürdigen Gestalten nicht weit von ihm. Ganz aufgeregt flüsterten sie miteinander. Erzürnt stellte Mr. Dursley fest, dass einige von ihnen überhaupt nicht Jung waren; nanu, dieser Mann dort musste älter sein als er und trug einen smaragdgrünen Umhang! Der hatte vielleicht Nerven! Doch dann fiel Mr. Dursley plötzlich ein, dass dies wohl eine verrückte Verkleidung sein musste - die Leute sammelten offenbar für irgendetwas ... Ja, so musste es sein. Die Autoschlange bewegte sich, und ein paar Minuten später fuhr Mr. Dursley auf den Parkplatz seiner Firma, die Gedanken wieder bei den Bohrern.

In seinem Büro im neunten Stock saß Mr. Dursley im-


 

 

mer mit dem Rücken zum Fenster. Andernfalls wäre es ihm an diesem Morgen schwer gefallen, sich auf die Bohrer zu konzentrieren. Er bemerkte die Eulen nicht, die am helllichten Tage vorbeischossen, wohl aber die Leute unten auf der Straße; sie deuteten in die Lüfte und verfolgten mit offenen Mündern, wie eine Eule nach der andern über ihre Köpfe hinwegflog. Die meisten von ihnen hatten überhaupt noch nie eine gesehen, nicht einmal nachts. Mr. Dursley Jedoch verbrachte einen ganz gewöhnlichen, eulenfreien Morgen. Er machte fünf verschiedene Leute zur Schnecke. Er führte mehrere wichtige Telefongesprä- che und schrie dabei noch ein wenig lauter. Bis zur Mittagspause war er glänzender Laune und wollte sich nun ein wenig die Beine vertreten und beim Bäcker über der Straße einen Krapfen holen.

Die Leute in der merkwürdigen Aufmachung hatte er schon längst vergessen, doch nun, auf dem Weg zum Bäcker, begegnete er einigen dieser Gestalten. Im Vorbeigehen warf er ihnen zornige Blicke zu. Er wusste nicht, warum, aber sie bereiteten ihm Unbehagen. Auch dieses Pack hier tuschelte ganz aufgeregt, und eine Sammelbüchse war nirgends zu sehen. Auf dem Weg zurück vom Bäcker, eine Tüte mit einem großen Schokoladenkringel in der Hand, schnappte er ein paar Worte von ihnen auf

»Die Potters, das stimmt, das hab ich gehört

»-ja, ihr Sohn, Harry -«

Mr. Dursley blieb wie angewurzelt stehen. Angst überkam ihn. Er wandte sich nach den Flüsterern um, als ob er ihnen etwas sagen wollte, besann sich dann aber eines Besseren.

Hastig überquerte er die Straße, stürmte hoch ins Büro, fauchte seine Sekretärin an, er wolle nicht gestört werden, griff nach dem Telefon und hatte schon fast die Nummer


 

 

von daheim gewählt, als er es sich anders überlegte. Er legte den Hörer auf die Gabel und strich sich über den Schnurrbart. Nein, dachte er, ich bin dumm. Potter war kein besonders ungewöhnlicher Name. Sicher gab es eine Menge Leute, die Potter hießen und einen Sohn namens Harry hatten. Nun, da er darüber nachdachte, war er sich nicht einmal mehr sicher, ob sein Neffe wirklich Harry hieß. Er hatte den Jungen noch nicht einmal gesehen. Er konnte auch Harvey heißen. Es hatte keinen Sinn, Mrs. Dursley zu beunruhigen, sie geriet immer so außer sich, wenn man ihre Schwester auch nur erwähnte. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf - wenn er eine solche Schwester hätte

Und dennoch, diese Leute in den Umhängen ...

An diesem Nachmittag fiel es ihm um einiges schwerer, seine Gedanken auf die Bohrer zu richten, und als er das Büro um fünf Uhr verließ, war er immer noch so voller Sorge, dass er beim ersten Schritt nach draußen gleich mit Jemandem zusammenprallte.

»Verzeihung«, grummelte er, als der kleine alte Mann ins Stolpern kam und beinahe hinfiel. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte Mr. Dursley, dass der Mann einen violetten Umhang trug. Dass er ihn fast umgestoßen hatte, schien ihn gar nicht weiter zu ärgern. Im Gegenteil, auf seinem Gesicht öffnete sich ein breites Lächeln, und die Leute, die vorbeigingen, blickten auf, als er mit piepsiger Stimme sagte: »Heute verzeih ich alles, mein lieber Herr, heute kann mich nichts aus der Bahn werfen! Freuen wir uns, denn Du-weißt-schon-wer ist endlich von uns gegangen! Selbst Muggel wie Sie sollten diesen freudigen, freudigen Tag feiern!«

Und der alte Mann umarmte Mr. Dursley ungefähr in Bauchhöhe und ging von dannen.

Mr. Dursley stand da wie angewurzelt. Ein völlig Fremder 9


 

 

hatte ihn umarmt. Auch hatte er ihn wohl einen Muggel genannt, was immer das sein mochte. Völlig durcheinander eilte er zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Er hoffte, sich diese Dinge nur einzubilden, und das war neu für ihn, denn von Einbildungskraft Welt er normalerweise gar nichts.

Als er in die Auffahrt von Nummer 4 einbog, fiel sein Blick als Erstes - und das besserte seine Laune nicht gerade - auf die getigerte Katze, die er am Morgen schon gesehen hatte. Sie saß Jetzt auf seiner Gartenmauer. Gewiss war es dieselbe Katze; sie hatte dasselbe Muster um die Augen.

»Schhhh!«, zischte Mr. Dursley laut.

Die Katze regte sich nicht. Sie blickte ihn nur aus ernsten Augen an. War so etwas denn normal für Katzen, fragte sich Mn Dursley. Er versuchte sich zusammenzureißen und öffnete die Haustür. Immer noch war er entschlossen, nichts von alledem seiner Frau zu sagen.

Mrs. Dursley hatte einen netten, gewöhnlichen Tag hinter sich. Beim Abendessen erzählte sie ihm alles über Frau Nachbarins Probleme mit deren Tochter und dass Dudley ein neues Wort gelernt hatte (»pfui«). Mr. Dursley versuchte sich ganz wie immer zu geben. Er brachte Dudley zu Bett und ging dann ins Wohnzimmer, wo er sich das Neueste in den Abendnachrichten ansah.

»Und hier noch eine Meldung. Wie die Vogelkundler im ganzen Land berichten, haben sich unsere Eulen heute sehr ungewöhnlich verhalten. Obwohl Eulen normalerweise nachts Jagen und tagsüber kaum gesichtet werden, wurden diese Vögel seit Sonnenaufgang hunderte Male beobachtet, wie sie kreuz und quer über das Land hinwegflogen. Die Fachleute können sich nicht erklären, warum die Eulen plötzlich ihre Gewohnheiten geändert haben.« Der Nachrichtensprecher erlaubte sich ein Grinsen. »Sehr mys-

 


 

 

teriös. Und nun zu Jim McGuffin mit dem Wetter. Sind heute Abend noch weitere Eulenschauer zu erwarten, Jim?«

»Nun, Ted«, meinte der Wetteransager, »das kann ich nicht sagen, aber es sind nicht nur die Eulen, die sich heute seltsam verhalten haben. Zuschauer aus so entfernten Gegenden wie Kent, Yorkshire und Dundee haben mich heute angerufen und berichtet, dass anstelle des Regens, den ich gestern versprochen hatte, ganze Schauer von Sternschnuppen niedergegangen sind! Vielleicht haben die Leute zu früh Silvester gefeiert - das ist noch eine Weile hin, meine Damen und Herren! Aber ich kann Ihnen für heute eine regnerische Nacht versprechen.«

Mr. Dursley saß starr wie ein Eiszapfen in seinem Sessel. Sternschnuppen über ganz Großbritannien? Eulen, die bei Tage flogen? Allerorten geheimnisvolle Leute in sonderbarer Kleidung? Und ein Tuscheln, ein Tuscheln über die Potters ...

Mrs. Dursley kam mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer. Es hatte keinen Zweck. Er musste ihr etwas sagen. Nervös räusperte er sich. »Ahm - Petunia, Liebes - du hast in letzter Zeit nichts von deiner Schwester gehört, oder?«

Wie er befürchtet hatte, blickte ihn Mrs. Dursley entsetzt und wütend an. Schließlich taten sie für gewöhnlich so, als hätte sie keine Schwester.

»Nein«, sagte sie scharf. »Warum?«

»Komisches Zeug in den Nachrichten«, murmelte Mr. Dursley. »Eulen ... Sternschnuppen ... und heute waren eine Menge komisch aussehender Leute in der Stadt ...«

»Und?«, fuhr ihn Mrs. Dursley an.

»Nun, ich dachte nur . .. vielleicht ... hat es etwas zu tun mit

... du weißt ... ihrem Klüngel.«

Mrs. Dursley nippte mit geschützten Lippen an ihrem Tee.

Konnte er es wagen, ihr zu sagen, dass er den Namen


 

 

»Potter« gehört hatte? Nein, das konnte er nicht. Stattdessen bemerkte er so beiläufig, wie er nur konnte: »Ihr Sohn - er wäre ungefähr in Dudleys Alter, oder?«

»Ich nehme an«, sagte Mrs. Dursley steif

»Wie war noch mal sein Name? Howard, nicht wahr?«

»Harry. Ein hässlicher, gewöhnlicher Name, wenn du mich fragst.«

»O Ja, sagte Mr. Dursley, und das Herz rutschte ihm in die Hose. »Ja, da bin ich ganz deiner Meinung.«

Bis es Zeit zum Schlafen war und sie nach oben gingen, verlor er kein Wort mehr darüber. Während Mrs. Dursley im Bad war, schlich sich Mr. Dursley zum Schlafzimmerfenster und spähte hinunter in den Vorgarten. Die Katze war immer noch da. Sie starrte auf den Ligusterweg, als ob sie auf etwas wartete.

Bildete er sich das alles nur ein? Konnte all dies etwas mit den Potters zu tun haben? Wenn es so war ... und wenn herauskäme, dass sie verwandt waren mit einem Paar von - nein, das würde er einfach nicht ertragen können.

Die Dursleys gingen zu Bett. Mrs. Dursley schlief rasch ein, doch Mr. Dursley lag wach und wälzte alles noch einmal im Kopf hin und her. Bevor er einschlief, kam ihm ein letzter, tröstender Gedanke. Selbst wenn die Potters wirklich mit dieser Geschichte zu tun hatten, gab es keinen Grund, warum sie bei ihm und Mrs. Dursley auftauchen sollten. Die Potters wussten sehr wohl, was Petunia von ihnen und ihresgleichen hielt ... Er konnte sich nicht denken, wie er und Petunia in irgendetwas hineingeraten sollten, was dort draußen vor sich ging - er gähnte und drehte sich auf die Seite -. damit würden er und seine Frau Jedenfalls nichts zu tun haben ...

Wie sehr er sich täuschte.

Mr. Dursley mochte in einen unruhigen Schlaf hinü-


 

 

bergeglitten sein, doch die Katze draußen auf der Mauer zeigte keine Spur von Müdigkeit. Sie saß noch immer da wie eine Statue, die Augen ohne zu blinzeln auf die weiter entfernte Ecke des Ligusterwegs gerichtet. Kein Härchen regte sich, als eine Straße weiter eine Autotür zugeknallt wurde oder als zwei Eulen über ihren Kopf hinwegschwirrten. In der Tat war es fast Mitternacht, als die Katze sich zum ersten Mal rührte.

An der Ecke, die sie beobachtet hatte, erschien ein Mann, so Jäh und lautlos, als wäre er geradewegs aus dem Boden gewachsen. Der Schwanz der Katze zuckte und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

Einen Mann wie diesen hatte man im Ligusterweg noch nie gesehen. Er war groß, dünn und sehr alt, Jedenfalls der silbernen Farbe seines Haares und Bartes nach zu schließen, die beide so lang waren, dass sie in seinem Gürtel steckten. Er trug eine lange Robe, einen purpurroten Umhang, der den Boden streifte, und Schnallenstiefel mit hohen Hacken. Seine blauen Augen leuchteten funkelnd hinter den halbmondförmigen Brillengläsern hervor, und seine Nase war sehr lang und krumm, als ob sie mindestens zweimal gebrochen wäre. Der Name dieses Mannes war Albus Dumbledore.

Albus Dumbledore schien nicht zu bemerken, dass er soeben in einer Straße aufgetaucht war, in der alles an ihm, von seinem Namen bis zu seinen Stiefeln, keineswegs willkommen war. Gedankenverloren durchstöberte er die Taschen seines Umhangs. Doch offenbar bemerkte er, dass er beobachtet wurde, denn plötzlich sah er zu der Katze hinüber, die ihn vom andern Ende der Straße her immer noch anstarrte. Aus irgendeinem Grunde schien ihn der Anblick der Katze zu belustigen. Er gluckste vergnügt und murmelte: »Ich hätte es wissen müssen.«

 


 

 

In seiner Innentasche hatte er gefunden, wonach er suchte. Es sah aus wie ein silbernes Feuerzeug. Er ließ den Deckel aufschnappen, hielt es hoch in die Luft und ließ es knipsen. Mit einem leisen »Plop« ging eine Straßenlaterne in der Nähe aus. Er knipste noch mal - und die nächste Laterne flackerte und erlosch. Zwölfmal knipste er mit dem Ausmacher, bis die einzigen Lichter, die in der ganzen Straße noch zu sehen waren, zwei kleine Stecknadelköpfe in der Ferne waren, und das waren die Augen der Katze, die ihn beobachtete. Niemand, der Jetzt aus dem Fenster geschaut hätte, auch nicht die scharfäugige Mrs. Dursley, hätte nun irgendetwas von dem mitbekommen, was unten auf dem Bürgersteig geschah. Dumbledore ließ den Aus- macher in die Umhangtasche gleiten und machte sich auf den Weg die Straße entlang zu Nummer 4, wo er sich auf die Mauer neben die Katze setzte. Er sah sie nicht an, doch nach einer Weile sprach er mit ihr.

»Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Professor McGonagall.«

Mit einem Lächeln wandte er sich zur Seite, doch die Tigerkatze war verschwunden. Statt ihrer lächelte er einer ziemlich ernst dreinblickenden Frau mit Brille zu, deren Gläser quadratisch waren wie das Muster um die Augen der Katze. Auch sie trug einen Umhang, einen smaragdgrünen. Ihr schwarzes Haar war zu einem festen Knoten zu- sammengebunden. Sie sah recht verwirrt aus.

»Woher wussten Sie, dass ich es war?«, fragte sie.

»Mein lieber Professor, ich habe noch nie eine Katze so steif dasitzen sehen.«

»Sie wären auch steif, wenn Sie den ganzen Tag auf einer Backsteinmauer gesessen hätten«, sagte Professor McGonagall.

»Den ganzen Tag? Wo Sie doch hätten feiern können?

 


 

 

»Ich muss auf dem Weg an mindestens einem Dutzend Feste und Partys vorbeigekommen sein.«

Verärgert schnaubte Professor McGonagall durch die Nase.

»O Ja, alle Welt feiert, sehr schön«, sagte sie ungeduldig.

»Man sollte meinen, sie könnten ein bisschen vorsichtiger sein, aber nein - selbst die Muggel haben bemerkt, dass etwas los ist. Sie haben es in ihren Nachrichten gebracht.« Mit einem Kopfrucken deutete sie auf das dunkle Wohnzimmerfenster der Dursleys. »Ich habe es gehört. Ganze Schwärme von Eulen ... Sternschnuppen ... Nun, ganz dumm sind sie auch wieder nicht. Sie mussten einfach irgendetwas bemerken. Sternschnuppen unten in Kent - ich wette, das war Dädalus Diggel. Der war noch nie besonders vernünftig.«

»Sie können ihnen keinen Vorwurf machen«, sagte Dumbledore sanft. »Elf Jahre lang haben wir herzlich wenig zu feiern gehabt.«

»Das weiß ich«, sagte Professor McGonagall gereizt. »Aber das ist kein Grund, den Kopf zu verlieren. Die Leute sind einfach unvorsichtig, wenn sie sich am helllichten Tage draußen auf den Straßen herumtreiben und Gerüchte zum Besten geben. Wenigstens könnten sie Muggelsachen anziehen.«

Dabei wandte sie sich mit scharfem Blick Dumbledore zu, als hoffte sie, er würde ihr etwas mitteilen. Doch er schwieg, und sie fuhr fort: »Das wäre eine schöne Bescherung, wenn ausgerechnet an dem Tag, da Du-weißt-schon-wer endlich verschwindet, die Muggel alles über uns herausfinden würden. Ich nehme an, er ist wirklich verschwunden, Dumbledore?«

»Es sieht ganz danach aus«, sagte Dumbledore. »Wir müs- sen für vieles dankbar sein. Möchten Sie ein Brausebonbon?«

 


 

 

»Ein was?«

»Ein Zitronenbrausebonbon. Eine Nascherei der Muggel, auf die ich ganz scharf bin.«

»Nein, danke«, sagte Professor McGonagall kühl, als sei Jetzt nicht der richtige Moment für Zitronenbrausebonbons.

»Wie ich schon sagte, selbst wenn Du-weißt-schon-wer wirklich fort ist -«

»Mein lieber Professor, eine vernünftige Person wie Sie kann ihn doch sicher beim Namen nennen? Der ganze Unsinn mit

>Du-weißt-schon-wer< - seit elf Jahren versuche ich die Leute dazu zu bringen, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen: Voldemort.« Professor McGonagall zuckte zurück, doch Dumbledore, der zwei weitere Bonbons aus der Tüte fischte, schien davon keine Notiz zu nehmen. »Es verwirrt doch nur, wenn wir dauernd >Du-weißt-schon-wen< sagen. ich habe nie eingesehen, warum ich Angst davor haben sollte, Voldemorts Namen auszusprechen.«

»Das weiß ich wohl«, sagte Professor McGonagall halb aufgebracht, halb bewundernd. »Doch Sie sind anders. Alle wissen, dass Sie der Einzige sind, den Du-weißt- ... ahm, na gut, Voldemort fürchtete.«

»Sie schmeicheln mir«, sagte Dumbledore leise. »Voldemort hatte Kräfte, die ich nie besitzen werde.«

»Nur weil Sie zu -ja - nobel sind, um sie einzusetzen.«

»Ein Glück, dass es dunkel ist. So rot bin ich nicht mehr geworden, seit Madam Pomfrey mir gesagt hat, ihr gefielen meine neuen Ohrenschützer.«

Professor McGonagall sah Dumbledore scharf an und sagte:

»Die Eulen sind nichts gegen die Gerüchte, die umherfliegen. Wissen Sie, was alle sagen? Warum er verschwunden ist? Was ihn endlich aufgehalten hat?«

Offenbar hatte Professor McGonagall den Punkt erreicht,


 

 

über den sie unbedingt reden wollte, den wirklichen Grund, warum sie den ganzen Tag auf einer kalten, harten Mauer gewartet hatte, denn weder als Katze noch als Frau hatte sie Dumbledore mit einem so durchdringenden Blick festgenagelt wie Jetzt. Was auch immer »alle« sagen mochten, offensichtlich glaubte sie es nicht, bis sie es aus dem Mund von Dumbledore gehört hatte. Der Jedoch nahm sich ein weiteres Zitronenbrausebonbon und schwieg.

»Was sie sagen«, drängte sie weiter, »ist nämlich, dass Vol- demort letzte Nacht in Godric's Hollow auftauchte. Er war auf der Suche nach den Potters. Dem Gerücht zufolge sind Lily und James Potter - sie sind - tot.«

Dumbledore senkte langsam den Kopf. Professor Mc- Gonagall stockte der Atem.

»Lily und James ... Ich kann es nicht glauben ... Ich wollte es nicht glauben ... Oh, Albus ...«

Dumbledore streckte die Hand aus und klopfte ihr sanft auf die Schultern. »Ich weiß ... ich weiß ...«, sagte er mit belegter Stimme.

Professor McGonagall fuhr mit zitternder Stimme fort: »Das ist nicht alles. Es heißt, er habe versucht, Potters Sohn Harry zu töten. Aber - er konnte es nicht. Er konnte diesen kleinen Jungen nicht töten. Keiner weiß, warum, oder wie, aber es heißt, als er Harry Potter nicht töten konnte, fiel Voldemorts Macht in sich zusammen - und deshalb ist er verschwunden.«

Dumbledore nickte mit düsterer Miene.

»Ist das - wahr?«, stammelte Professor McGonagall. »Nach all dem, was er getan hat - nach all den Menschen, die er umgebracht hat -, konnte er einen kleinen Jungen nicht töten? Das ist einfach unglaublich ... ausgerechnet das setzt ihm ein Ende ... aber wie um Himmels willen konnte Harry das überleben?«


 

 

»Wir können nur mutmaßen«, sagte Dumbledore. »Vielleicht werden wir es nie wissen.«

Professor McGonagall zog ein Spitzentaschentuch hervor und betupfte die Augen unter der Brille. Dumbledore zog eine goldene Uhr aus der Tasche und gab ein langes Schniefen von sich. Es war eine sehr merkwürdige Uhr. Sie hatte zwölf Zeiger, aber keine Ziffern; stattdessen drehten sich kleine Planeten in ihrem Rund. Dumbledore Jedenfalls musste diese Uhr etwas mitteilen, denn er steckte sie zurück in die Tasche und sagte:

»Hagrid verspätet sich. Übrigens nehme ich an, er hat Ihnen erzählt, dass ich hierher kommen würde?«

»Ja«, sagte Professor McGonagall. »Und ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen werden, warum Sie ausgerechnet hier sind?«

»Ich bin gekommen, um Harry zu seiner Tante und seinem Onkel zu bringen. Sie sind die Einzigen aus der Familie, die ihm noch geblieben sind.«

»Sie meinen doch nicht - Sie können einfach nicht die Leute meinen, die hier wohnen?«, rief Professor McGonagall, sprang auf und deutete auf Nummer 4. »Dumbledore - das geht nicht. Ich habe sie den ganzen Tag beobachtet. Sie könnten keine zwei Menschen finden, die uns weniger ähneln. Und sie haben diesen Jungen -ich habe gesehen, wie er seine Mutter den ganzen Weg die Straße entlang gequält und nach Süßigkeiten geschrien hat. Harry Potter und hier leben?«

»Das ist der beste Platz für ihn«, sagte Dumbledore bestimmt. »Onkel und Tante werden ihm alles erklären können, wenn er älter ist. Ich habe ihnen einen Brief geschrieben.«

»Einen Brief«, wiederholte Professor McGonagall mit erlahmender Stimme und setzte sich wieder auf die Mauer.

 


 

 

»wirklich, Dumbledore, glauben Sie, dass Sie all das in einem Brief erklären können? Diese Leute werden ihn nie verstehen! Er wird berühmt werden - eine Legende -, es würde mich nicht wundern, wenn der heutige Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt - ganze Bücher wird man über Harry schreiben -jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen!«

»Genau«, sagte Dumbledore und blickte sehr ernst über die Halbmonde seiner Lesebrille. »Das Würde reichen, um Jedem Jungen den Kopf zu verdrehen. Berühmt, bevor er gehen und sprechen kann! Berühmt für etwas, an das er sichnicht einmal erinnern wird! Sehen Sie nicht, wie viel besser es für ihn wäre, wenn er weit weg von alledem aufwächst, bis er bereit ist, es zu begreifen?«

Professor McGonagall öffnete den Mund, änderte ihre Meinung, schluckte und sagte: »Ja-ja, Sie haben Recht, natürlich. Doch wie kommt der Junge hierher, Dumbledore?« Plötzlich musterte sie seinen Umhang, als dachte sie, er verstecke vielleicht den kleinen Harry darunter.

»Hagrid bringt ihn mit.«

»Sie halten es für - klug, Hagrid etwas so Wichtiges anzu- vertrauen?«

»Ich würde Hagrid mein Leben anvertrauen«, sagte Dumbledore.

>Ich behaupte nicht, dass sein Herz nicht am rechten Fleck ist«, grummelte Professor McGonagall, »doch Sie können nicht so tun, als ob er besonders umsichtig wäre. Er neigt dazu - was war das?«

Ein tiefes Brummen hatte die Stille um sie her zerbrochen. Immer lauter wurde es, und sie schauten links und rechts die Straße hinunter, ob vielleicht ein Scheinwerfer auftauchte. Der Lärm schwoll zu einem Dröhnen an, und als sie beide zum Himmel blickten - da fiel ein riesiges

 


 

 

Motorrad aus den Lüften und landete auf der Straße vor ihnen.

Schon das Motorrad war gewaltig, doch nichts im Vergleich zu dem Mann, der breitbeinig darauf saß. Er war fast zweimal so groß wie ein gewöhnlicher Mann und mindestens fünfmal so breit. Er sah einfach verboten dick aus, und so wild - Haar und Bart verdeckten mit langen Strähnen fast sein ganzes Gesicht, er hatte Hände, so groß wie Mülleimerdeckel, und in den Lederstiefeln steckten Füße wie Delphinbabys. In seinen ausladenden, muskelbepackten Armen hielt er ein Bündel aus Leintüchern.

»Hagrid«, sagte Dumbledore mit erleichterter Stimme.

»Endlich. Und wo hast du dieses Motorrad her?«

»Hab es geborgt, Professor Dumbledore, Sir«, sagte der Riese und kletterte vorsichtig von seinem Motorrad. »Der Junge Sirius Black hat es mir geliehen. Ich hab ihn, Sir.«

»Keine Probleme?«

»Nein, Sir - das Haus war fast zerstört, aber ich hab ihn gerade noch herausholen können, bevor die Muggel angeschwirrt kamen. Er ist eingeschlafen, als wir über Bristol flogen.«

Dumbledore und Professor McGonagall neigten ihre Köpfe über das Leintuchbündel. Darin steckte, gerade eben zu sehen, ein kleiner Junge, fast noch ein Baby, in tiefem Schlaf Unter einem Büschel rabenschwarzen Haares auf der Stirn konnten sie einen merkwürdigen Schnitt erkennen, der aussah wie ein Blitz.

»Ist es das, wo -?«, flüsterte Professor McGonagall.

»Ja«, sagte Dumbledore. »Diese Narbe wird ihm immer bleiben.«

»Können Sie nicht etwas dagegen tun, Dumbledore?«

»Selbst wenn ich es könnte, ich würde es nicht. Narben können recht nützlich sein. Ich selbst habe eine oberhalb

 


 

 

des linken Knies, und die ist ein tadelloser Plan der Londoner U- Bahn. Nun denn - gib ihn mir, Hagrid -, wir bringen es besser hinter uns.«

Dumbledore nahm Harry in die Arme und wandte sich dem Haus der Dursleys zu.

»Könnte ich ... könnte ich ihm adieu sagen, Sir?«, fragte Hagrid.

Er beugte seinen großen, struppigen Kopf über Harry und gab ihm einen gewiss sehr kratzigen, barthaarigen Kuss. Dann, plötzlich, stieß Hagrid ein Heulen wie ein verletzter Hund aus.

»Schhhh!«. zischte Professor McGonagall, »Sie wecken noch die Muggel auf!«

»V-v-verzeihung«, schluchzte Hagrid, zog ein großes, gepunktetes Taschentuch hervor und vergrub das Gesicht darin.

»Aber ich k-k-kann es einfach nicht fassen - Lily und James tot - und der arme kleine Harry muss Jetzt bei den Muggels leben -«

»Ja, Ja, das ist alles sehr traurig, aber reiß dich zusammen, Hagrid, oder man wird uns entdecken«, flüsterte Professor McGonagall und klopfte Hagrid behutsam auf den Arm, während Dumbledore über die niedrige Gartenmauer stieg und zum Vordereingang trat. Sanft legte er Harry vor die Eingangstür, zog einen Brief aus dem Umhang, steckte ihn zwischen Harrys Leintücher und kehrte dann zu den beiden andern zurück. Eine ganze Minute lang standen die drei da und sahen auf das kleine Bündel; Hagrids Schultern zuckten, Professor McGonagall blin- zelte heftig, und das funkelnde Licht, das sonst immer aus Dumbledores Augen schien, war wohl erloschen.

»Nun«, sagte Dumbledore schließlich, »das war's ... Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Wir sollten lieber ver- schwinden und zu den Feiern gehen.«

 


 

 

»Jaow«, sagte Hagrid mit sehr dumpfer Stimme, »ich bring Sirius seine Kiste zurück. Nacht, Professor McGonagall - Professor Dumbledore, Sir.«

Hagrid wischte sich mit dem Jackenärmel die tropfnassen Augen, schwang sich auf das Motorrad und erweckte die Maschine mit einem Fußkick zum Leben; donnernd erhob sie sich in die Lüfte und verschwand in der Nacht.

»Wir werden uns bald wieder sehen, vermute ich, Professor McGonagall«, sagte Dumbledore und nickte ihr zu. Zur Antwort schnäuzte sich Professor McGonagall die Nase.

Dumbledore drehte sich um und entfernte sich die Straße entlang. An der Ecke blieb er stehen und holte den Ausmacher hervor. Er knipste einmal und zwölf Lichtbälle huschten zurück in ihre Straßenlaternen. Mit einem Mal leuchtete der Ligusterweg in Orange, und er konnte eine kleine Tigerkatze sehen, die am anderen Ende der Straße um die Ecke strich. Auf der Türschwelle von Nummer 4 konnte er gerade noch das Bündel aus Leintüchem erkennen.

»Viel Glück, Harry«, murmelte er. Er drehte sich auf dem Absatz um und mit einem Wehen seines Umhangs war er verschwunden.

Eine Brise kräuselte die sorgfältig geschnittenen Hecken des Ligusterwegs, der still und ordentlich dalag unter dem tintenfarbenen Himmel, und nie wäre man auf den Gedanken gekommen, dass hier etwas Unerhörtes geschehen könnte. In seinen Leintüchern drehte sich Harry Potter auf die Seite, ohne aufzuwachen. Seine kleinen Finger klammerten sich an den Brief neben ihm, und er schlief weiter, nicht wissend, dass er etwas Besonderes war, nicht wissend, dass er berühmt war, nicht wissend, dass in ein paar Stunden, wenn Mrs. Dursley die Haustür öffnen würde, um die Milchflaschen hinauszustellen, ein Schrei

 


 

 

ihn wecken würde, und auch nicht wissend, dass ihn sein Vetter Dudley in den nächsten Wochen peinigen und piesacken würde

... Er konnte nicht wissen, dass in eben diesem Moment überall im Land Versammlungen stattfanden, Gläser erhoben wurden und gedämpfte Stimmen sagten: »Auf Harry Potter - den Jungen, der lebt«

 


 

 


Date: 2015-12-11; view: 858


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