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Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit

Die Krisen und Umbrüche der Gegenwart erscheinen in anderem Licht, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Geschichte sieht.

In der Antike herrschte eine skeptische Einschätzung der Arbeit vor, jedenfalls der körperlichen und der kommerziellen. In der jüdisch-christlichen Tradition galt Arbeit als Fluch und Segen, Strafe und göttlicher Auftrag zugleich. Selbst in den entschiedensten Plädoyers für die Anerkennung der Arbeit als göttlich gewollt, so in manchen Mönchsregeln des Mittelalters und den Schriften der Reformatoren, lief immer ein Subtext mit, gemäß dem mit der harten Arbeit auch ein Stück Buße für menschliche Sündhaftigkeit geleistet werden sollte - "im Schweiße deines Angesicht."

In der europäischen Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewann Arbeit dann zentrale Bedeutung. Ehrbare Arbeit war nun Basis genossenschaftlicher Vergesellschaftung und mit Freiheit und Stadtbürgerrecht positiv verknüpft, diametral anders als in der antiken Polis. Arbeit wurde für die entstehende Stadtbürgerkultur prägend. Stadtbürgerliche Kultur wirkte aufwertend auf Arbeit zurück.

Im 17. und 18. Jahrhundert schließlich - in den Schriften der Aufklärer und Nationalökonomen - kam es nachgerade zur emphatischen Aufwertung der Arbeit als Quelle von Eigentum, Reichtum und Zivilität bzw. als Kern menschlicher Selbstverwirklichung In der Konsequenz galt Arbeit als Menschenrecht. Die Langzeitfolgen waren erheblich, sie reichen bis in die gegenwärtige Diskussion über Arbeitslosigkeit hinein.

Der Sieg der Erwerbsarbeit und die Geburt der Arbeitsgesellschaft

Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verengte sich dann der Arbeitsbegriff. Arbeit wurde zu Erwerbsarbeit und als solche zur zentralen Säule der Gesellschaft, die deshalb bisweilen als Arbeitsgesellschaft bezeichnet wird und heute in der Krise zu sein scheint.

  1. Kommodifizierung: Mit der Aufhebung der feudal-ständischen Ordnung avancierte der Kapitalismus zum allgemeinen Prinzip des wirtschaftlichen Lebens, drang auch tief in die Welt der Arbeit ein und prägte sie um: in Richtung marktvermittelter Arbeit. Erst jetzt wurde Arbeit en masse zum Gegenstand marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, zur Ware.
  2. Die Entstehung des Arbeitsplatzes: Mit Industrialisierung und Ver-städterung fand Arbeit immer mehr in Manufakturen und Werkstätten, Fabriken und Bergwerken, Büros und Verwaltungen statt. Insgesamt traten der Arbeitsplatz, an dem Erwerbsarbeit geleistet wurde, und die Sphäre des Hauses/der Familie auseinander. Erwerbsarbeit war früher eng mit sonstigen Arbeiten und Daseinsverrichtungen verknüpft, war eingebettet gewesen. Das änderte sich nun. Der Arbeitsplatz als Ort kontinuierlicher und klar abgrenzbarer Tätigkeit entstand im Grunde erst jetzt. Arbeit hatte nun ihre eigene Zeit, wurde messbarer als je zuvor und auch: umstreitbarer. Damit wurde die Unterscheidung zwischen "Arbeit" und "Nicht-Arbeit" - bald: zwischen Arbeit und "Freizeit" - zur weit verbreiteten Erfahrung. Aber mit "Arbeit" war zunehmend Erwerbsarbeit gemeint, vornehmlich wahrgenommen von Männern, aber nicht auf diese beschränkt. "Nicht-Arbeit" schloss wichtige, jedoch meist ungenannte Elemente von Arbeit ein, die nicht Erwerbsarbeit waren, zum Beispiel Arbeit im Haus und für die Familie, vornehmlich von Frauen wahrgenommen. Eben diese Dichotomisierung prägte auch das öffentliche Reden über Arbeit wie die Begriffe der offiziellen Statistik, in der sich Arbeit weitgehend zu "Erwerbsarbeit" verengte.
  3. Das "Normalarbeitsverhältnis" war selten normal: Für die meisten hatte in vorindustrieller Zeit gegolten, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht aus einer Quelle allein bestritten, sondern aus einer Verknüpfung von mehreren Erwerbsquellen, die im Laufe des Tages, des Jahres und des Lebens wechselten und zusammengefügt wurden. Mit der Industrialisierung nahm nun die Arbeitsteilung zu. Berufsarbeit auf Lebenszeit wurde häufiger. Die Chance wuchs, dass man sein Selbstverständnis und sein soziales Profil auf spezialisierte Erwerbsarbeit gründete. Beruf und Berufsstellung wurden zu verbreiteten Grundlagen der individuellen und sozialen Identität, vor allem für Männer.

Doch das Wirtschaftssystem war auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch rapide und anhaltende Umstrukturierung geprägt. Das "Normalarbeitsverhältnis" war auch damals nur für eine Minderheit von Erwerbstätigen erreichbar. Nur selten reichte z.B. der Verdienst des Mannes, um die Familie allein zu ernähren, in der Regel verdienten unterhalb des Bürgertums die anderen Familienmitglieder mit. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das "Normalarbeitsverhältnis", dessen Erosion gegenwärtig oft konstatiert wird, auch früher eher die Norm als die Normalität gewesen ist.



  1. Arbeitsgesellschaft: Im Zeitalter der Industrialisierung gewann die Arbeit an sozialer, politischer und kultureller Bedeutung. Dazu einige Beispiele: Die größte Protest- und Emanzipationsbewegung der Zeit, die Arbeiterbewegung, fußte auf abhängiger Erwerbsarbeit als Basis.

Auch für die Frauenbewegung des späten 19. und 20. Jahrhunderts war die Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten zentral, um darauf die Forderung nach Emanzipation, Gleichberechtigung und politischem Einfluss zu gründen.

Erwerbsarbeit diente als Basis für die Errichtung des Sozialstaats seit den 1880er Jahren. Die Arbeiter - nicht die Armen - wurden zu Adressaten staatlicher Sozialversicherung. Über die Beiträge der Arbeiter und der Arbeitgeber, nicht aber über Steuern oder Ersparnisse wurde das System in Deutschland finanziert. Erwerbsarbeit und soziale Sicherung wurden aufs engste miteinander verknüpft. Mit den Folgen kämpfen wir heute.

Arbeit bedurfte kaum noch der Rechtfertigung durch anderes. Vielmehr wurde sie selbstbegründend und sinnstiftend. Wer sein Leben erzählte, ging nun fast immer ausführlich auf die getane Arbeit ein. Arbeit definierte persönliche Identität. Arbeit wurde zum zentralen Begriff der entstehenden Sozialwissenschaften.

Der Bürger Werner Siemens endete seine Autobiographie mit der Bibel: "Und wenn es (das Leben) köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen." Auch in der Arbeiterschaft gab es Arbeitsfreude und Arbeitsstolz, diente die Berufung auf geleistete Arbeit als Basis, um den Anspruch auf soziale Anerkennung und politische Mitwirkung zu stellen. Aber als Adolf Levenstein Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Umfragen unter Industriearbeitern veröffentlichte, war wenig von Arbeitslust, dagegen viel von Arbeitsleid zu lesen, verbunden mit der Hoffnung auf mehr freie Zeit und eine ökonomische Situation, die es wenigstens der eigenen Frau erlauben würde, zu Hause zu bleiben statt "zur Arbeit zu gehen". Die Arbeiterbewegung kämpfte für die Verkürzung der Arbeitszeit. Das "Reich der Freiheit", so Friedrich Engels, begann für die abhängig Arbeitenden in der Regel erst jenseits der notwendigen Erwerbsarbeit.

  1. Der Sieg der Erwerbsarbeit und seine Gründe: Soviel zur Arbeitsgesellschaft, wie sie im 19. Jahrhundert entstand und sich im 20. etablierte. Man kann fragen, warum sie sich durchsetzte. Sie setzte sich durch im Kampf gegen herkömmliche Formen der gesellschaftlichen Organisation, die sie verdrängte, ersetzte und marginalisierte - wenn auch niemals zur Gänze. Sie setzte sich durch, weil konkurrierende Organisations- und Sinnbildungsprinzipien - etwa die Religionen - an Kraft verloren und ein zu füllendes Vakuum entstand. Sie setzte sich durch, weil sie - mit dem Prinzip der Erwerbsarbeit - einen überlegenen Allokations- und Distributionsmechanismus besaß.

Überlegen war Erwerbsarbeit in Bezug auf ökonomische Effektivität, denn sie funktionierte nach marktmäßigen Regeln. Im Vergleich zu anderen Formen der Arbeit war Erwerbsarbeit attraktiv, denn sie ermöglichte viel Freiheit. Überlegen war Erwerbsarbeit aber auch unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Arbeitsbedingte Vermögens-, Status- und Machtunterschiede wurden leichter als legitim akzeptiert als solche, die aus Geburt, Eroberung oder Zufall stammten.

Die Erwerbsarbeit war und ist eine zentrale Voraussetzung sozialer Anerkennung und damit für Selbstwert, persönliche Identität und gesellschaftliche Teilhabe. Wer heute für Alternativen zur Erwerbsarbeit plädiert, muss sich mit den historischen Gründen auseinandersetzen, die sie so stark gemacht haben. Sie sind nicht obsolet.

Jenseits von Arbeitsgesellschaft und Erwerbsarbeit?

Aus historischer Sicht verdient die These vom neuartigen, stetigen Rückgang von Arbeitsplätzen Skepsis. Denn die massive Vernichtung herkömmlicher Arbeitsplätze durch technologischen Wandel hat von Anfang an zur Industrialisierung gehört. Doch immer wieder wurde die Vernichtung konkurrenzunfähiger Arbeitsplätze durch die Entstehung von noch mehr neuen Arbeitsplätzen kompensiert. Immer wieder gingen die Beschäftigungskrisen in neue Gleichgewichte über, so prekär diese auch blieben und so wenig sie je auf Dauer Bestand hatten.

Wirtschaftshistoriker bezweifeln, dass dieser mehr als 200 Jahre lang funktionierende Regelungsmechanismus heute zu Ende gekommen ist und dass man daher auf Dauer mit massiver, gar wachsender Erwerbsarbeitslosigkeit rechnen muss. Aus dieser Sicht stellt der gegenwärtige Übergang von der industriellen zur postindustriellen Wirtschaft das Beschäftigungssystem nicht vor härtere Herausforderungen, als es der Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft vor ein bis zwei Jahrhunderten tat, wenngleich der heutige Wandel rascher, umbruchartiger verläuft als der damalige und international vernetzter ist als jener. Wenn es in unserem Teil der Welt einen Epochenwechsel gibt, dann resultiert er nicht aus dem Ende ausreichender Erwerbsarbeit, sondern aus dem demographischen Trendwechsel, der ein Jahrhunderte währendes inneres Bevölkerungswachstum durch innere Bevölkerungsschrumpfung ablöst.

Die Neuartigkeit der Gegenwart

Auf absehbare Zeit zeichnet sich weder das Ende der Erwerbsarbeit ab, noch wäre es zu wünschen. Die Neuartigkeit der Gegenwart erweist sich nicht am Ende, sondern an tiefen Veränderungen der Erwerbsarbeit.

Einerseits wurde Erwerbsarbeit seit langem im Dreieck Markt/Betrieb - Familie/Haushalt - Staat/ Politik reguliert. Aber in diesem Dreieck haben sich in den letzten Jahrzehnten die revolutionärsten Veränderungen vollzogen. Das Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterordnung ändert sich rasch. Eine scharfe Rollentrennung zwischen dem Mann und Vater als demjenigen, der die Familie durch Erwerbsarbeit ernährt, und der Frau und Mutter als zuständig für den Binnenraum von Haushalt und Familie war zwar niemals völlig die Regel. Aber seit den 1970er Jahren erodiert, was davon existierte. Vieles, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert vornehmlich von Frauen im Haus erledigt wurde, ist zum Gegenstand von Erwerbsarbeit oder zur Aufgabe sozialstaatlicher Träger geworden. Der Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl hat die familiären und häuslichen Aufgaben stark reduziert. Die schnell steigende Frauenerwerbsarbeit ist teils Antrieb, teils Folge dieser Entwicklung. Es handelt sich um eine Revolution, die noch nicht abgeschlossen ist. Aber sie führt zur weiteren Verbreitung und Universalisierung von Erwerbsarbeit, nicht zu ihrem Ende.

Andererseits geht es um die tendenzielle Fragmentierung der Arbeit in Raum und Zeit. Während 1970 die Relation zwischen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einerseits und der Summe der Teil- und Kurzzeitbeschäftigten, der befristet und geringfügig Beschäftigten etwa 5 : 1 betrug, verschob sie sich bis 1996 auf 2: l. Die Elastizität der Erwerbsarbeit und die Fluidität der Arbeitsverhältnisse nehmen zu, die örtliche und zeitliche Fragmentierung der Arbeitsplätze schreitet voran. Die Flexibilitätszumutungen an die Einzelnen steigen. Neue Formen partieller und oftmals prekärer Selbständigkeit entstehen, statistisch sinkt der Selbständigenanteil derzeit nicht mehr. Der Arbeitsplatz verliert seine ehemals klare Abgrenzung, löst sich bisweilen auf. Die neuen Kommunikationsmittel erlauben neue Formen der Heimarbeit. Ein neues Zeitregime entsteht in den Grauzonen zwischen Arbeits- und Freizeit, mit Teilzeit und Gleitzeit, mit neuen Freiheitschancen und Abhängigkeiten. Manche dieser Veränderungen seit den 1970er Jahren kehren Trends der letzten zwei Jahrhunderte um!

Auf der einen Seite befürchten einige, dass aus der Flexibilisierung und Fragmentierung der Arbeitsverhältnisse eine bedrohliche Erosion der individuellen Identitäten und des sozialen Zusammenhalts folgt. In der Tat scheint die Bindungskraft, die sozial strukturierende, kulturell verbindende und vergesellschaftende Kraft der Arbeit in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen zu haben. Der viel diskutierte Niedergang der Arbeiterbewegungen legt davon Zeugnis ab.

Auf der anderen Seite enthalten die gegenwärtigen und zu erwartenden Wandlungen auch neue Chancen, beispielsweise zur Verknüpfung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten, zur Verbindung von Arbeit und Freizeit, zur Vereinbarung von Beruf und Familie, auch neue Möglichkeiten, das Verhältnis der Geschlechter zueinander weniger ungleich und produktiver zu gestalten. Jedenfalls werden die Berufsbiographien von Männern und Frauen einander ähnlicher. Die Zeit, die im Durchschnitt eines Lebens für Erwerbsarbeit aufgewendet wird, hat sich seit dem 19. Jahrhundert im Durchschnitt halbiert. Erwerbsarbeit ist heute verbreiteter als früher und ähnlich unverzichtbar wie früher. Aber ihr relatives Gewicht im Leben der einzelnen Menschen nimmt ab: drohender Bindungs- und Sinnverlust oder neue Freiheits- und Gestaltungschance? Man bedenke: Arbeit, speziell abhängige Erwerbsarbeit, war nie nur Selbstverwirklichung und Lust, sondern immer auch Abhängigkeit und Last. Für die meisten Arbeiten gilt das auch heute.

 


Date: 2015-12-11; view: 383


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