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DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 4 page

In einem loseren Verbande mit beiden Kantschulen stand auch Georg Simmel, der sich von einer anfänglich mehr positivistisch eingestellten Denkrichtung über die Problematik Kants hinweg schließlich zu einer "Lebensphilosophie" durchrang, deren Ergebnis er in dem nach seinem Tode im Nachlaß erschienenen Werke "Lebensanschauung, vier metaphysische Kapitel" darstellte. Der Aufsatz "Über den Tod" ist das Tiefste und Reifste, was dieser eigenartige und weit über die deutschen Grenzen hinaus anregende Denker geschrieben hat. Auch sein Aufsatz über "Das individuelle Gesetz", in dem er ähnlich wie Schleiermacher und der Verfasser in seiner "Ethik" neben "allgemeingültigen moralischen Werten" auch "individualgültige", d. h. eine je individuell sittliche Bestimmung des Menschen darzutun sucht, hat die Ethik bedeutend gefördert. Seiner durch Bergson angeregten letzten "Lebensphilosophie" die dunkel, unbestimmt und verworren bleibt, kann ein gleicher Beifall nicht gezollt werden.

Die vierte von Leonhard Nelson begründete Kantschule, die einen reichen Kreis von Forschern aller Disziplinen unter sich vereinigt, hat ihre Ansichten besonders in den zahlreichen Werken ihres Begründers und in den "Abhandlungen zur friesischen Schule" dargelegt. In scharfem Gegensatz zur "transzendentalen" Auffassung des kantischen Apriori, von dem Cohen ausging, wird hier die Lehre vertreten, daß wir nur auf dem Wege anthropologischer Selbstbesinnung mit Hilfe eines Verfahrens der Reduktion der gegebenen Wissenschaften die obersten Grundsätze der Vernunft feststellen können. Von einem "Vertrauen in die Vernunft" ausgehend, das ein rein subjektiver Akt bleibt, müssen die obersten evidenten Einsichten, nach denen wir das Gegebene in mittelbarem, Denken bearbeiten, nicht "erzeugt", sondern nur als ursprünglicher Besitz unseres Geistes enthüllt werden. Die Voraussetzung dieser Schule ist die Existenz einer unmittelbar anschauenden Vernunft, deren Grundsätze teils anschaulich (mathematische Grundsätze), teils unanschaulich (z. B. Kausalprinzip) evident sind, und die durch das reduktive Verfahren weder "deduziert" noch "konstruiert" sondern allein für die Selbstbesinnung als evident enthüllt werden müssen. So muß der apriorische Besitz unseres Geistes nicht auf apriorische, sondern auf aposteriorische Weise gefunden und entdeckt werden. Eine "Erkenntnistheorie" im üblichen Sinne, sofern sie die "Möglichkeit der Erkenntnis" erst aufweisen will, ist nach Nelson ein sinnloses Unternehmen; denn nur auf Grund schon gewonnener evidenter Erkenntnis können wir anderweitige Erkenntnis einer Prüfung und Kritik unterwerfen. Von dieser an Fries anknüpfenden theoretischen Basis aus hat die Schule eine überaus rege und, wie auch derjenige, der ihr fernesteht, sagen muß, s e h r wertvolle, sowohl positiv schöpferische als kritische Tätigkeit entfaltet. Sie hat die Theologie stark befruchtet (siehe Bousset und vor allem Rudolf Otto, dessen ausgezeichnetes Werk über "Das Heilige" von der Schule stark bestimmt ist). Sie hat auf dem Boden der Philosophie, der Mathematik und der exakten Naturwissenschaft eine sehr rege Tätigkeit entfaltet; sie hat in Kronfeld einen Vertreter gefunden, der nach ihren Grundsätzen die Erkenntnislehre der Psychiatrie eingehend bearbeitet und gefördert hat. Vor allem aber hat ihr charaktervoller und geradsinniger Urheber L. Nelson auf dem Boden der Rechts- und Sozialphilosophie achtungswerte Werke hervorgebracht (siehe besonders "Die Rechtswissenschaft ohne Recht"). In überaus scharfsinniger, freilich allzusehr im Formalismus Kants steckenbleibender Art und Weise wird hier mit Reinheit und Mut die Majestät des Rechtsgedankens auf Grund evidenter Vernunfteinsichten gegen alle Verdunkelungen durch Rechtspositivismus und der in der Jurisprudenz stark herkömmlichen Machtlehre vertreten. Auch das große Werk Nelsons "Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" ist besonders in seinen kritischen Teilen von großem Scharfsinn. Gegenüber Kant wird neben dem "Pflichtgemäßen" ein "Verdienstliches" anerkannt, und die Liebe und das Ideal der "schönen Seele" freilich mehr als ästhetischer denn ethischer Wert in die Grundkategorien des menschlich Wertvollen eingefügt. In ihrer politischen Tendenz vertritt die Schule einen radikalen Liberalismus der geistigen Individualität, den sie gerne auch an die konfuzianische Weisheit des chinesischen Ostens anzulehnen sucht.



Überblickt man das Ganze dieser vier Kantschulen, wird man mit Verwunderung vor der Tatsache stehen, die Kantianer immer noch über den Sinn der Lehre ihre Meisters streiten, und noch mehr darüber, daß so grundverschiedene Geistesarten auf demselben Boden des Kantianismus überhaupt möglich sind. Daß aus der Starrheit dieser Schulkreise heraus d i e Philosophie, wie wir sie oben als erstrebenswert bezeichnet hatten, hervorwachsen werde, glauben wir bei allem Wertvollen, das besonders die Marburger und die Friesschule geleistet haben, nicht. Die ungeheuren Literaturmassen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit Interpretation, Fortführung, Neugestaltung der kantischen Philosophie beschäftigt haben, stehen auf alle Fälle zu den Förderungen, welche die Philosophie durch sie erhielt, in gar keinem sinnvollen Verhältnis. Wenn man dazu erwägt, daß die Grundpositionen Kants (ich rechne dazu seinen Ausgangspunkt von der newtonschen Naturlehre, seine Lehre, das Gegebene sei nur ein "Chaos von Empfindungen" und alles, was Ordnung und Beziehung, Einheitsform und Gestalt am Gegenstand der Erfahrung sei, müsse durch funktionsgesetzlich geregelte Verstandestätigkeiten in den Gegenstand erst hineingekommen sein, ferner seine Annahme der prinzipiellen Erklärbarkeit der Natur auf Grund der Prinzipe der Mechanik) heute der schärfsten und nach meiner Meinung der strengsten Widerlegung verfallen sind, so wird man nur von einer neuen untradionalistischen S a c h philosophie — einer Philosophie, die nicht von einer historischen Autorität ausgeht, sondern höchstens retrospektiv auf Grund ihrer gewonnenen Erkenntnisse sich auch einer philosophiegeschichtlichen Tradition eingeordnet weiß, Wertvolles und Dauerndes erwarten dürfen.

Einen weit geringeren Einfluß als die kantische Philosophie übt auf die Philosophie der Gegenwart der Positivismus und sein neuester Ableger, der von den Amerikanern Peirce und W. James und dem Engländer Schiller, in gewissem Sinne auch von Fr. Nietzsche (siehe besonders "Der Wille zur Macht") angeregte, für das engere Gebiet der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie auch von Henri Bergson angenommene sogenannte "Pragmatismus" aus[1]. Der

[1] W. James: "Der Pragmatismus" (Philosophisch-Soziologische

Bücherei Bd. 1): F. C. S. Schillers "Humanismus" (derselben

Sammlung, Bd. 25); ferner W. James: "Das pluralistische

Universum", übersetzt von J. Goldstein (Bd. 33).

europäische Positivismus hat seinen Ursprung und Hauptsitz in Westeuropa; Bacon, D. Hume, D'Alembert, Condorcet, A. Comte, J. St. Mill, H. Spencer, Taine und Buckle waren seine bedeutendsten geistigen Väter. In der gegenwärtigen deutschen Philosophie hat er so wenig wie in der deutschen Philosophie überhaupt eine allseitige, alle Gebiete der Philosophie umfassende Vertretung gefunden. Als strengere Positivisten können unter den Älteren für die Erkenntnistheorie nur E. Mach und Avenarius, in der unmittelbaren Gegenwart der aus der Psychiatrie zur Philosophie gekommene selbständige und originelle Forscher Theodor Ziehen gelten. Eine größere Anzahl von Forschern sind stärker von ihm beeinflußt, so z. B. der kürzlich verstorbene Benno Erdmann (siehe besonders seine "Logik", 1. Band, 2. Auflage). In seinen älteren Arbeiten ist auch A. Riehl, ferner Hans Cornelius, der Humesche und Machsche Gedankengänge mit Kants Erfahrungstheorie eigenartig verquickt hat (siehe Cornelius: "Transzendentale Systematik", 1916), vom Positivismus bestimmt. Als ein dem Pragmatismus, freilich mit mehr Nietzschescher als angelsächsischer Färbung, näherstehendes Werk muß die "Philosophie des Als-ob" von H. Vaihinger angesehen werden. Unter den jüngsten Erkenntnistheoretikern steht Moritz Schlick ("Allgemeine Erkenntnislehre", 1918) freilich mit realistischem Einschlag dem Positivismus vermöge seines extremen Nominalismus (Erkennen sei nur "eindeutiges Bezeichnen und Ordnen der Gegenstände") nahe. In der Ethik und Religionsphilosophie lehrte Jodl einen monistisch modifizierten Positivismus. In der Soziologie und Geschichtsphilosophie steht ihm Müller-Lyer, L. von Wiese, W. Jerusalem (siehe "Die Phasen der Kultur", "Einleitung in die Philosophie") und R. Goldscheid nahe. Wesentlichste Basis des deutschen Positivismus ist eine sensualistische Erkenntnistheorie und ein Versuch, die Denkkategorien psychologisch oder soziologisch geschichtlich herzuleiten. Die Auffassung, daß die kategorialen Formen nicht Seinsformen, die Denkgesetze nicht Seinsgesetze seien, teilt der Positivismus mit den Kantianern. Während aber jene die apriorische Struktur unseres Denkens nur auffinden oder, wie die Marburger, immer neu aus ursprünglicher Denkfunktion rein erzeugen wollen, bemüht sich der Positivismus nach humeschem Muster, sie auf dem Boden einer beschreibenden (oder bei manchen selbst genetischen) Psychologie und Soziologie zu verstehen. Die sensualistische Auffassung, daß der gesamte Inhalt der natürlichen und wissenschaftlichen Erfahrung auf Sensationen und deren Residuen, resp. auf die Verknüpfung dieser Residuen nach den Assoziationsgesetzen zurückführbar sei, das Denken aber auf Zeichengebung und Abfolge ähnlicher Vorstellungsbilder in letzter Linie beruhe, macht die eigentliche erkenntnistheoretische These des Positivismus aus. Ihr entspricht dann die F o r d e r u n g, aus der Wissenschaft alles das auszuscheiden, was über aufweisbare Empfindungselemente und über die Funktionalbeziehungen von deren Komplexen hinausgehe. Jeder asensuelle und übersensuelle u r s p r ü n g l i c h e Bestand im Gegebenen der Erfahrung, der nur durch ein ursprüngliches, von Bildern nicht ableitbares eigengesetzmäßiges D e n k e n (oder andere geistige Funktionen, wie Intuition, kognitives Fühlen usw.) zu erfassen wäre, wird bestritten. Alle "Substanzen" und "Kräfte" und alle sinnlich nicht aufweisbaren Inhalte und Realsetzungen solcher müssen aus der Wissenschaft in letzter Linie ausgeschieden werden: sofern man aber mit Substanz- und Kraftbegriffen in ihr operiert, kommt diesen Operationen genau so wie den in der Wissenschaft verwandten allgemeinen Begriffen und Gesetzen nur die ökonomische Bedeutung zu, mit Bildvorstellungen zu sparen ("Prinzip der Denkökonomie"). Mit dieser Auffassung verbindet sich eine streng nominalistische Lehre vom begrifflichen Denken, die in Deutschland am schärfsten durch H. Cornelius ("Einleitung in die Psychologie"), E. von Aster und neuerdings von Schlich durchgeführt worden ist (zur Kritik dieser Lehre vergleiche E. Husserl: "Logische Untersuchungen", Band 2). In der Realitätsfrage hat sich der deutsche Positivismus (mit Ausnahme von Schlick) im Unterschied von jenem Spencers im wesentlichen ablehnend verhalten. Die Existenz der Welt ist ihm nur der "geordnete Inbegriff ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten". Avenarius hatte die Gegenstände, Bewußtsein, Seele, Ich auf eine ursprüngliche Täuschung zurückgeführt, die durch Introjektion eines Umgebungsbestandteils (z. B. wahrgenommener Baum) in den Mitmenschen (als "immaterielles Abbild" des Baumes) und erst sekundär auch in das erkennende Ausgangssubjekt noch einmal "hineinverlegt" worden sei (s. Avenarius: "Der natürliche Weltbegriff"). E. Mach, der mehr von idealistischer Seite her kam, nahm letzte qualitative Seinselemente an (blau, rot, hart, Ton usw.), die, wenn sie in ihrem gegenseitigen Zusammenhang und in den Abhängigkeiten ihrer möglichen Komplexveränderungen untereinander betrachtet werden, "Natur" heißen; "Empfindungen" aber, wenn sie und ihre Komplexänderungen betrachtet werden in Abhängigheit von den physiologischen Vorgängen des Organismus. Auch das "Ich" ist ihm nur ein solcher relativ konstanter Komplex von Seinselementen. Eine vorzügliche Kritik dieser "Ich"-lehre gibt K. Österreich in seinem Buch "Phänomenologie des Ich". Der Unterschied von Psychisch und Physisch soll hiernach kein Unterschied der Materie und der Gegenstände sein, sondern nur ein Unterschied in der Betrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Seinselementen. Mach hat diese Lehre in seinen großen Werken zur Geschichte der Naturwissenschaft (Geschichte der Mechanik, des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, der Wärmelehre) und in seinem letzten, sehr wertvollen und lehrreichen Werke "Erkenntnis und Irrtum" auch geschichtlich zu unterbauen gesucht. Die moderne mechanische Naturansicht hat nach seiner Meinung nur in dem historischen Z u f a l l ihren Grund, daß man die Bewegungserscheinungen fester Körper zeitlich zuerst studierte (Galilei), um dann, nach dem Prinzip: Erklären heiße nur "relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes" zurückzuführen, auch die übrigen Naturerscheinungen auf Bewegungsgesetze fester Dinge zurückzuführen. Tatsächlich aber bestehe kein Seinsunterschied zwischen "primären" und "sekundären" Qualitäten. Besonders die Bedeutung denkökonomischer A n a l o g i e n und Bilder für den wissenschaftlichen Fortschritt hob er nach dem Vorgang englischer Physiker (Maxwell, Lord Kelorn, Clifford) in seinen geschichtlichen Werken und in "Erkenntnis und Irrtum" stark hervor. Aber alle diese "Bilder" müssen zugunsten strenger, rein mathematisch formulierter Funktionsgesetze eines Tages wieder aus der Wissenschaft ausgeschieden werden, wenn sie den neuen Beobachtungen nicht mehr genügen. Auch der modernen Relativitätstheorie Einsteins hat E. Mach durch seine Kritik Newtons, besonders seiner Lehre von der absoluten Bewegung vorgearbeitet (siehe Geschichte der Mechanik). Diese Auffassung der Arbeit der Naturwissenschaft ist in neuester Zeit von Planck ("Einheit des physikalischen Weltbildes"), Stumpf, Külpe, ferner von allen realistischen und kantischen Schulen mit Recht scharf bekämpft worden (siehe besonders C. Stumpfs Akademieabhandlung: "Zur Einteilung der Wissenschaften", 1906). Vor allem aber war es Ed. Husserl, der die nominalistischen Begriffstheorien des Positivismus in den "Logischen Untersuchungen", Band 2, einer überaus einschneidenden Kritik unterzog. Die ernstesten Versuche, die Gegner des Nominalismus und Sensualismus, die heute den Positivismus immer mehr zurückgedrängt haben, zu widerlegen, haben von diesem Standort aus Ziehen in seiner "Psychophysiologichen Erkenntnistheorie" und seinem kürzlich erschienenen sehr wertvollen "Lehrbuch der Logik" (1920) und E. von Aster unternommen. Daß es ihnen aber geglückt sei, die positivistischen Positionen zu halten, glaubten wir nicht. Der schärfste Gegner ist dem Positivismus neuerdings entstanden in der "Phänomenologie", obzwar diese Denkrichtung mit ihm das Gemeinsame hat, den Aufweis aller Begriffe in letztfundierenden Anschauungsgegebenheiten zu fordern. Aber eben dabei erwies es sich, daß der Gehalt des originär Anschaubaren unvergleichlich r e i c h e r ist als dasjenige, was durch sensuelle Inhalte und ihr Derivate (und deren fernere psychische Verarbeitung) an ihm denkbar sein mag. Zu welchen gewagten Annahmen und immer verwickelter werdenden Hypothesen der Positivismus greifen muß, um seine Lehre durchzuführen, zeigt auch das letzte scharfsinnige Werk Benno Erdmanns über "Grundzüge der Reproduktionspsychologie" (1920).

Wenn der Positivismus im Erkennen nur ein zweckmäßiges mäßiges Bezeichnen gegebener Sachen sieht, so geht der P r a g m a t i s m u s von einer etwas anderen Auffassung aus. Er behauptet, daß alles Erkennen nur die Bedeutung habe, ein Bild der Dinge zu geben, so geartet, daß seine "Folgen" uns zu Handlungen führen, die bestimmte praktische Bedürfnisse befriedigen. Der "Sinn" eines Gedankens falle zusammen mit dem Inbegriff aller möglichen praktischen Verhaltungsweisen, die er "leiten" und "führen" könne; und "wahr" sei ein Gedankengebilde dann, wenn diese Reaktionen gattungsnützlich seien und uns in der praktischen Beherrschung der Dinge weiterführen. Peirces "Erkenntnis" wird hier ähnlich wie bei den Marburgern selbst zu einem "Formen" und "Gestalten" einer zunächst völlig indifferenten chaotischen Masse von Gegebenheiten (James, Schiller). Der letzte Beweis z. B. für den Wahrheitswert der Naturwissenschaft ist die M a c h t, die sie uns über die Natur gibt, also Technik und Industrie; die Arbeit an den Dingen gehe überall der Erkenntnis vorher und die Erkenntnis zeige in letzter Linie nur die R e g e l n auf, nach denen unsere Bearbeitung der Welt praktisch reüssiere. In Deutschland ist diese völlig unhaltbare, allen Wahrheitsernst untergrabende amerikanistische Theorie — besonders widerlich, wenn sie zur Rechtfertigung des Daseins Gottes und der Religion angewandt wird, wie sie in W. James' "Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" — mit einer eigenartigen Modifikation, die von Nietzsche herrührt (siehe besonders "Wille zur Macht"), von Hans Vaihinger vertreten wurde. Die "Modifikation" besteht in folgendem: Während die angelsächsische Theorie des "Pragmatismus" die Lautverbindung "wahr" geradezu als "praktisch brauchbar" definiert, hält Vaihinger im Grunde den a l t e n Wahrheitsbegriff fest, schränkt aber das unmittelbar "Wahre" ein auf das, was an einer Wortintention nur in reinen Empfindungen gedeckt ist. Alles, was darüber hinausragt — seien es Kategorien, Grenzbegriffe (z. B. ideales Gas, Adam Smiths "eigensüchtiges Wirtschaftssubjekt" usw.), seien es unanschauliche theoretische Setzungen (z. B. Äther, aber auch Gott, unsterbliche Seele), das heißt das denkbar Verschiedenartigste und logisch Verschiedenwertigste — faßt Vaihinger unter den Begriff "Fiktion" zusammen; so ergibt sich in letzter Linie die Lehre, daß die F i k t i o n sozusagen der tragende Grund und Sinn der Welt selber sei, und daß zwischen Erkenntnis und Dichtung (Vaihinger war von A. Lange ausgegangen und erweitert im Grunde nur dessen an Fr. Schillers philosophischen Gedichten gewonnene "Begriffsdichtungs" gedanken von der Metaphysik auch auf die exakte Wissenschaft) im letzten Grunde nur der einzige Unterschied sei, daß die e i n e Fiktion praktisch brauchbar sei, die andere nicht und nur der Betrachtung und dem ästhetischen Genusse diene. Dazu trat, wie gesagt, der Einfluß Nietzsches. Dies ist der einzige konstatierbare Einfluß, den Nietzsche, der ja auch den "Wert der Wahrheit" in Frage gezogen hatte (siehe schon "Unzeitgemäße Betrachtungen") und im Willen zur Wahrheit nur eine Abart des "Willens zur Macht" sah, auf die rein theoretische Philosophie in Deutschland ausgeübt hat. In einzelnen wissenschaftstheoretischen Ausführungen ist Vaihingers Werk sehr anregend. Die Art, wie es die bekannten kantischen Als-ob-Wendungen und insbesondere die religionsphilosophische Postulatenlehre Kants interpretiert, halten wir mit W. Windelband für historisch grundirrig. Nach unserer Meinung haben diese Wendungen (z. B. man solle auf den kategorischen Imperativ hören, "als ob" er ein göttliches Gebot wäre) nur den Sinn, die sittlich praktische M o t i v i e r u n g der Realsetzung Gottes von Motivierung durch theoretische Begründung scharf zu unterscheiden. Die Realsetzung selbst ist aber auf diesem Wege bei Kant genau so ernst gemeint wie die Realsetzungen durch theoretische Erkenntnis; ja noch ernster — nämlich im Sinne von metaphysischer, nicht nur empirischer Realität; der Gedanke der "Fiktion" oder gar bewußter Fiktion liegt unseres Erachtens Kant völlig fern. Als Ganzes stellt nach unserer Meinung das Werk Vaihingers den größten Mißgriff dar, den die deutsche Philosophie in den letzten Jahrzehnten getan hat. Um so interessanter ist seine starke Verbreitung — ein wenig erfreulicher Ausdruck für die Mentalität weiter Kreise.

Den neukantischen und positivistischen Schulen hat sich in den letzten Jahren eine im Wachsen befindliche r e a l i s t i s c h e erkenntnistheoretische Richtung entgegengestellt, die zugleich den Übergang bildet zu einer Reihe höchst bedeutsamer Versuche der W i e d e r e r w e c k u n g d e r M e t a p h y s i k (siehe dazu Peter Wust: "die Auferstehung der Metaphysik"). Diese Erscheinung ist nicht nur auf Deutschland beschränkt; auch in Frankreich, England und Amerika sieht sich der erkenntnistheoretische Idealismus und der positivistische Sensualismus immer mehr in den H i n t e r g r u n d gedrängt. (Vgl. dazu K. Oesterreich [sic]: "Die philosophischen Strömungen der Gegenwart".) Die neurealistischen Richtungen (einen Übergang zu ihnen bilden Riehl, Volkelt und E. v. Hartmann) gehen in ihrer Art der Begründung des Realismus freilich noch weit auseinander. Im großen ganzen lassen sich unterscheiden die Formen des altscholastischcn Realismus, des kritischen Realismus und des intuitiven und voluntativen Realismus. Gerade die historisch älteste dieser realistischen Formen, der scholastische Realismus, gewinnt in gewissem Sinne gegenwärtig wieder neues Interesse. Wie ich schon sagte, ist es ein eigentümliches Zeichen der letzten Philosophie, daß überhaupt die scholastische Philosophie in lebendigen Denkverkehr mit der modernen Philosophie getreten ist. Ein Grund dafür ist, daß die moderne Philosophie auf ganz verschiedenen Punkten rein aus sich selbst heraus auf manche scholastische Positionen gekommen ist. So gleicht zL. B. der Versuch Bergsons, in seinem Buche "Gedächtnis und Materie" zu zeigen, wie ein ursprünglich unmittelbar gegebenes S e i n in die Menschenerfahrung erst eingeht, um in ihr nach einer Reihe von Richtungen deformiert zu werden; gleichen ferner die amerikanischen neurealistischen Versuche (F. J. E. Woodbridge, E. B. Mc Gilvary u. a.) methodisch dem altscholastischen Vorgehen, die Erkenntnis ihrem Wesen nach auf ein Seinsverhältnis, d. h. die Teilnahme eines Seienden an einem anderen, zurückzuführen. Bergsons und anderer Versuche (auch Meinong und H. Schwarz in seinem Buche "Die Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen" wären hier zu nennen), die Lehre von der O b j e k t i v i t ä t der Sinnesqualitäten wieder neu zu begründen, haben gleichfalls erkenntnistheoretisch in die Nähe der scholastischen Positionen geführt. H. Driesch kam durch seine modifizierte Wiedereinführung des aristotelischen Entelechiebegriffs in der Bearbeitung der Probleme des organischen Lebens gleichfalls der Scholastik weit entgegen. Andererseits hat die scholastische Philosophie in den letzten Jahren auch in unserem Lande Vertreter gefunden, die es wohl verstanden, sich der modernen Probleme von ihrem Standort aus scharfsinnig zu bemächtigen. Abgesehen von den neuen Erschließungen und Interpretationen bisher unbekannter Teile der mittelalterlichen Philosophie, die wir an erster Stelle Grabmann (siehe besonders seine höchst wertvolle "Geschichte der scholastiscben Methode" und seine Neueditionen) und den Forschungen Baeumkers und Baumgartens und dieser beider Schüler verdanken, sind auch selbständigere systematische Denker auf scholastischem Boden neuerdings hervorgetreten, so z. B. der verdiente E. L. Fischer, ferner Lehmen und besonders J. Geyser, der in seinen der Psychologie, der Logik, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik gewidmeten Arbeiten, ferner in seinem Buche über Husserl und eine Verknüpfung ("Neue und alte Wege der Philosophie") der scholastischen Lehre mit der modernen Philosophie anstrebt. Das große psychologische Sammelwerk von Fröbes und die Arbeiten des aus der Külpeschen Schule hervorgegangenen Experimentalpsychologen Lindworsky (besonders "Das schlußfolgernde Denken", 1916, "Experimentelle Psychologie", 1921) haben ferner die scholastischen Positionen mit der ganzen Experimentalpsychologie eng verknüpft. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind freilich die Neuscholastiker in Deutschland mehr dem sogenannten "kritischen Realismus", der eine reale Welt erst mittels schließender Denkakte gewinnen will, zugeneigt, als dem altscholastischen Standpunkt, der schon in der Sinneswahrnehmung eine unmittelbare Erfassung realer Gegenstände erblickt und der überdies auf das Problem der modernen Philosophie: "Wie kommen wir zu einer realen Außenwelt?" von seinem Ausgangspunkte im Grunde gar nicht kommen kann, da er im Gegensatz zur modernen Philosophie (seit Descartes) von der primären Gegebenheit eines Seienden ausgeht und von ihm auch erst durch die Scheidung das ens reale vom ens intentionale die Möglichkeit von Bewußtsein und Erkenntnis verständlich machen möchte. Aber auch der altscholastische Realismus hat gegenwärtig eine alle wesentlichen Tatsachen der Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie und alle bisher für die sogenannte sekundäre Natur aller oder einiger Sinnesqualitäten vorgebrachten Argumente berücksichtigende, sehr scharfsinnige und beachtenswerte Darstellung gefunden in Josef Gredts beiden Büchern: "De cognitione sensuum externorum", Rom 1913, und in deutscher Sprache in dem kürzlich erschienenen "Unsere Außenwelt, eine Untersuchung über den gegenständlichen Wert unserer Sinneserkenntnis" (1921). Der vom Verfasser vertretenen realistisch gerichteten Phänomenolgie ist trotz verschiedenen Ausgangspunktes der Standpunkt Gredts, nach dem auch der kritische Realismus, wenn er einmal die Gegenständlichkeit und Realität der unmittelbaren Sinneserkenntnis leugnet, notwendig in die Konsequenzen des vollständigen Idealismus getrieben werde, ähnlicher als der sogenannte "kritische Realismus" vieler Neuscholastiker (z. B. Mercier, Hertling und Geyser). Schon Otto Liebmann hatte einmal bemerkt, daß alle Ergebnisse der Naturforschung im Begriffssystem der aristotelischtn Metaphysik und Erkenntnislehre Platz hätten. Und in der Tat ist es ein großes Vorurteil, zu meinen, die Fortschritte einer ihrer Grenzen eingedenken positiven Wissenschaft könnten o h n e Zuhilfenahme rein philosophischer Wesenuntersuchungen über metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen überhaupt etwas Letztes entscheiden. Der ausgezeichnete französische mathematische Physiker und Historiker der theoretischen Physik, Pierre Duhem (sein Werk: "Geschichte der physikalischen Theorien", ist mit einer Vorrede von E. Mach auch in deutscher Sprache erschienen), hat Liebmanns Gedanken gewissermaßen in großem Maßstabe ausgeführt. Duhem suchte zu zeigen, daß gerade bei einer strengen mathematischen Formalisierung der theoretischen Physik die aristotelische Metaphysik mit der modernen Physik wohl vereinbar sei. Er hat stark auf den auch philosophisch bei uns wirksamen französischen Mathematiker H. Poincaré gewirkt ("Wissenschaft und Hypothese", "Der Wert der Wissenschaft"), ist aber, mit ihm verglichen, der weitaus tiefere erkenntnistheoretische Denker.

Den k r i t i s c h e n Realismus haben mit sehr verschiedenartiger Begründung in neuester Zeit eine große Reihe von deutschen Forschern neu zu begründen gesucht. Es seien hier genannt B. Erdmann, Meinong, Stumpf, Dürr, Oesterreich [sic], Messer, Störring, Freytag, Schlick, Becher, Troeltsch und vor allem O. Külpe in seinem zweibändigen (der zweite Band ist 1920 aus dem Nachlaß von Messer herausgegeben worden) Werke "Die Realisierung, ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften"; ein dritter Band steht noch in Aussicht. Der Külpesche Versuch ist ohne Zweifel der ausgedehnteste, eingehendste und strengste, der seitens der kritischen Realisten zur Begründung ihrer These unternommen worden ist. Külpe gliedert die Hauptfrage in vier Unterfragen, deren Beantwortung er je einen Band widmen wollte: 1. Ist eine Setzung von Realem möglich? 2. Wie ist eine Setzung von Realem möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem möglich? 4. Wie ist eine Bestimmung von Realem möglich? Nach einer ausgezeichneten und tiefdringenden kritischen Durchmusterung und Widerlegung der verschiedenen Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus und positivistischen "Wirklichkeitsstandpunktes" im ersten Band untersucht Külpe im zweiten Band die in der Wahrnehmung und die in rationalen Grundsätzen und ihrer denkenden Anwendung gelegenen Gründe und endlich die "gemischten Gründe" für die Setzung einer Realität. De Prüfung der sechs rationalen Gründe ergibt deren Insuffizienz. Man kann weder von der induktiven Regelmäßigkeitsvoraussetzung (wie z. B. Becher), noch durch Schluß auf eine transzendente Ursache unserer Wahrnehmung, noch vom Ich auf ein vermeintlich begrifflich notwendig dazugehöriges Nichtich, noch von der bloßen (gegen Berkeley und W. Schuppe festgehaltenen) Widerspruchslosigkeit des Gedankens einer bewußtseinsunabhängigen Welt, noch vor dem Transzendenzbewußtsein unserer Denkakte (z. B. auch Erinnerungsakte) aus (wie es W. Freytag versuchte), noch von der ökonomischen Zweckmäßigkeit der Annahme einer realen Außenwelt auf deren Existenz schließen. Auch die in der Wahrnehmung im Unterschiede zu den "Vorstellungen" gelegenen immanenten Merkmale lassen nicht ohne weiteres eine reale Welt annehmen (wie es der altscholastische Realismus will); erst die "gemischten Gründe" sollen zum Ziel führen. Die Außenwelt müsse gesetzt werden: erstens als "Bedingung des von dem psychophysischen Subjekt in der Wahrnehmung Unabhängigen und als das Substrat der vorgefundenen selbständigen Gesetzlichkeit der Wahrnehmungen". Külpes Versuch bezieht sich nicht nur auf die Realität der Natursetzung, sondern umfaßt auch das Problem einer von der Beschreibung der Bewußtseinserlebnisse verschiedenen Realpsychologie, ferner auch das Problem der Realität des Vergangenheits- und Fremdbewußtseins und damit auch des Realitätsproblems in den Geisteswissenschaften. Wie immer man zu Külpes Werk im einzelnen stehen mag (der Verfasser kann sich nicht überzeugen, daß, wenn w e d e r in der Wahrnehmung für sich noch im Denken für sich Gründe zur Annahme einer realen Welt gelegen sind, sie in einer bloßen "Mischung" beider Momente gelegen sein könne), so verdient die ausgezeichnete Arbeit des vortrefflichen, für die Wissenschaft viel zu früh heimgegangenen Forschers doch die allerernsteste Beachtung und Würdigung.


Date: 2015-12-11; view: 825


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