Home Random Page


CATEGORIES:

BiologyChemistryConstructionCultureEcologyEconomyElectronicsFinanceGeographyHistoryInformaticsLawMathematicsMechanicsMedicineOtherPedagogyPhilosophyPhysicsPolicyPsychologySociologySportTourism






DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 2 page

Über den sachlichen Inhalt seiner Philosophie hier noch einmal zu sprechen, fehlt jeder Anlaß[1].

[1] Vgl. neben den genannten kritischen Werken O. Külpe:

"Philosophie der Gegenwart", 6. Aufl., und A. Messner:

"Philosophie der Gegenwart" (1918).

In Form eines Versuches der Zurückführung alles Wirklichen mit Einschluß des organischen Lebens, des Seelenlebens und der geistigen Tätigkeiten auf letzte qualitative Grundarten der E n e r g i e und ihre Umwandlungsformen vertrat Wilhelm Ostwald (geb. 1855), Professor der physikalischen Chemie, den naturalistischen Monismus. Seine Vorlesungen über "Naturphilosophie" waren, soweit es sich um die Philosophie der anorganischen Natur handelt, überaus anregend. Ostwald versuchte, den Begriff der Materie völlig auszuschalten. Die Masse der Mechanik ist ihm nur ein Kapazitätsfaktor der mechanischen Energie, der gleichgeordnet eine Wärme, ein Licht, eine Gestalt, eine magnetische und elektrische, eine chemische und psychische Energie zur Seite stehen. Diese Energie a r t e n sind nicht, wie es die atomistisch-mechanische Naturansicht wollte, aufeinander zurückzuführen; sie sind ähnlich wie in der qualitativen Elementarlehre des Aristoteles letzte Gegebenheiten, die nur in formal quantitativen Austauschbeziehungen zueinander stehen. "Alles, was wir Materie nennen, ist Energie; denn sie erweist sich als ein Komplex von Schwereenergie, Form und Volumenenergien, sowie chemischen Energien, denen Wärme- und elektrische Energien in veränderlicher Weise anhaften." Trotzdem verfiel Ostwald in den Irrtum, die Energie, einen bloßen dynamisch interpretierten Beziehungsbegriff, selbst zu einer Substanz zu hypostasieren. Nicht minder war es vollständig unbegründet, auch das Psychische in die Energiearten einzureihen, obgleich ihm die Grundvoraussetzung, als natürliche Energieart zu gelten, die Meßbarkeit, fehlt und der ichartige monarchische Aufbau der Bewußtseinserscheinungen im Widerspruch zu dieser Auffassung steht. Völlig ungelöst blieb auch das Problem des organischen Lebens, ebenso ungelöst wie innerhalb der mechanischen Lebenslehre. Aber auch innerhalb des Anorganischen bewährte sich die Energetik auf die Dauer nicht. Die Kritik, die insbesondere Boltzmann und W. Wundt an den "Vorlesungen" geübt haben, ist durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere durch den glänzenden Sieg der Atomistik und der mechanischen Wärmelehre durchaus bestätigt worden. Ganz und gar unzureichend aber sind de Versuche Ostwalds gewesen (s. bes. "Philosophie der Werte"), die Probleme der Ethik, der Gesellschaft, der Zivilisation und Geschichte auf dem Boden der "Energetik" zu verstehen. Daß an die Stelle des kategorischen Imperativs der [sic] energetische Imperativ: "Vergeude keine Energie, verwerte sie" treten soll, mutet fast wie ein schlechter Scherz an. Und nicht minder mutet so an eine Erklärung, die Ostwald auf dem Hamburger Monistenkongreß von 1911 gibt, in der es heißt: "Denn alles, was die Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in den Begriff /Gott/ zusammengedrängt hatte, wird uns von der Wissenschaft erfüllt." Ostwalds rein technologische Betrachtung der Weltgeschichte, die, der deutschen Organisationssucht ein philosophisches Mäntelchen umhängend, jede geschichtliche Aufgabe zu einer "Organisationsaufgabe" macht, ist so kindlich, daß sie eine Kritik kaum verdient; nicht minder seine Meinung, das ästhetische Gefühl und die Kunst hätten nur soweit Bedeutung, als sie der wissenschaftlichen Arbeit Pionierdienste leisten, und es werde darum bei reifender Wissenschaft die Kunst einmal völlig aus der Welt verschwinden. In der Soziologie hat Ostwald einen ernsten Schüler gehabt, de noch stark in die Gegenwart hineinwirkt. Es ist der Wiener Soziologe und Vorsitzende des Österreichischen Monistenbundes R u d o l f G o l d s c h e i d. Sein Werk über "Höherentwicklung" und "Menschenökonomie" hat sowohl der Bevölkerungslehre wie der Sozialpolitik reiche und wertvolle Anregungen vermittelt, wenn auch sein einseitig durchgeführter Versuch, den Menschen selbst (ähnlich wie in der Sklavenwirtschaft) rechnungsmäßig als bloßen Wirtschaftswert einzustellen und eine möglichst sparsame Verwendung dieses "Wertes" zu fordern, soziologisch unhaltbar ist. Eine Auflösung der Ethik in Ökonomie hat Goldscheid nie versucht. Ein bedeutender Vertreter des Monismus, der auch in der Gründung und Entwicklung des Monistenbundes eine große Rolle gespielt hat, war der kürzlich verstorbene Wiener Psychologe und Ethiker Friedrich Jodl. Sowohl sein "Lehrbuch der Psychologie" wie vor allem seine großangelegte "Geschichte der Ethik" sind wertvolle und anregende Bücher, wenn sie auch in einseitiger Weise allen freidenkerischen und antikirchlichen Bestrebungen einen ihnen auch wissenschaftlich nicht zukommenden überragenden Wert beilegen. Wie sehr die ganze philosophische Richtung des Monismus von p o l i t i s c h e n, d. h. außerphilosophischen Tendenzen beherrscht ist, beweist ihr am 1. Januar 1906 erfolgter Zusammenschluß zu der Organisation des "Deutschen Monistenbundes". Ostwald schloß den ersten Hamburger Kongreß mit dem Satze: "Ich eröffne das monistische Jahrhundert"; sein Ehrenvorsitzender war E. Haeckel, sein Vorsitzender der Bremer Pastor Albert Kalthoff, der, stark von Nietzsche angeregt, an den Junghegelianer Bruno Bauer anknüpfend, die historische Existenz Christi in seinen Schriften geleugnet hatte, und in loser Berührung mit den linksliberalen Pastoren Jatho und Traub den christlichen Kirchen eine scharfe Kampfansage stellte. Wider den Monismus gründete [sic] dann im Jahre 1907 der Kieler Naturforscher J. Reinke und E. Dennert den sogenannten "Keplerbund", der sich umgekehrt die Aufgabe setzte, die Vereinbarkeit der modernen Naturwissenschaft mit der theistischen Weltanschauung zu erweisen. Sehr mit Unrecht ist die Verbreitung der monistischen Weltanschauung häufig der Sozialdemokratie und ihren Führern zugeschrieben worden. Geistesgeschichtlich ist diese Auffassung grundfalsch. Die Führer des Monismus standen politisch zumeist den nationalliberalen Anschauungen sehr nahe (z. B. Haeckel selbst), und bei vielen von ihnen findet sich sogar eine ausgeprägte alldeutsche Tonart. Wie tief Karl Marx und Engels auf den Materialismus des deutschen Kleinbürgertums herabblickten, ist aus ihren Äußerungen genugsam bekannt.



Während die monistische naturalistische Denkrichtung eigentlich nur kulturhistorisches und für die deutsche Mentalität vor dem Kriege bestimmendes Interesse bietet, sind die anderen heute noch lebendigen philosophischen Systeme auch rein philosophisch von Bedeutung. Das gilt gleich sehr von der Wirkung Fichtes, Hegels und Schellings wie von jener Lotzes, Fechners, E. von Hartmanns, R. Euckens und W. Wundts. Diese Systeme können hier nicht geschildert werden: nur was sie für die g e g e n w ä r t i g e Philosophie als mitbestimmende Momente noch bedeuten, sei kurz erwähnt. Die geringste Wirkung von all den Genannten hatte merkwürdigerweise in Deutschland der zeitlich nächste letzte große Systematiker der deutschen Philosophie, Wilhelm Wundt. Als Darstellungen seines Systems sind empfehlenswert O. Külpe in der "Philosophie der Gegenwart", E. König: "W. Wundt", 1909 und R. Eisler: "Wundts Philosophie und Psychologie", 1902. Ein Grund für die geringe Wirkung des ausgezeichneten Forschers und Gelehrten in der Philosophie mag darin gelegen sein, daß seine Erkenntnistheorie und seine Metaphysik beiderseits an großer Vagheit und Unbestimmtheit leiden, das Ganze seiner Philosophie aber trotz seiner Überladenheit mit Gelehrsamkeit etwas überaus Farbloses und Blutloses besitzt. Auch ein häufiges Schwanken (z. B. zwischen Idealismus und Realismus in der Erkenntnistheorie, zwischen psychophysischem Parallelismus als metaphysischer Hypothese und methodologischer Maxime, zwischen Relativismus und Absolutismus in der Ethik, Theismus und Willenspantheismus in der Lehre vom Weltgrund) mag gleichfalls zu dieser Unwirksamkeit beigetragen haben.

R u d o l f E u c k e n, der schon an der Grenze steht zwischen wissenschaftlicher Philosophie und jener früher charakterisierten philosophischen Erbauungsliteratur, hat eine weit stärkere Wirkung als Wundt entfaltet sowohl in Deutschland, wie im Auslande; ein deutliches Zeichen davon ist in letzterer Hinsicht der Nobelpreis. Dieser Denker ist von gleichbedeutenden Kritikern sehr verschieden beurteilt worden. Die einen sehen in der Verbindung von Prediger, Metaphysiker und Forscher, von homo religiosus und Denker, die Eucken darstellt, etwas besonders Wertvolles und weisen hin auf den reichen intuitiven Gehalt seines Werkes; die anderen beklagen den Mangel an Anatomie in seinen Gedanken, die Unverbundenheit seiner Philosophie mit den Wissenschaften, die unmethodische Art seines Denkens und die große Unbestimmtheit und Vagheit des eigenartigen persönlichen Stiles seiner Darstellung. Mögen beide in gewissem Maße recht haben, so kommt Eucken vor allem das entschiedene V e r d i e n s t zu, in einer Zeit, da die Philosophie zu einer bloßen Anmerkung zu den positiven Fachwissenschaften zu werden drohte, ihre Ansprüche festgehalten zu haben, eine Metaphysik und gleichzeitig eine den Menschen formende Lebensanschauung zu geben. Ausgegangen von F. A. Trendelenburg (gest. 1872), eine Zeitlang auch Schüler Lotzes, hat Eucken mit starker Anknüpfung an Fichtes Tatidealismus seinen "Idealismus des Geisteslebens" zu begründen unternommem. Sein bedeutendstes Werk (leider am wenigsten gelesen) ist das 1888 erschienene "Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit" in dem er seine personalistisch-theistische Philosophie nicht durch Sachuntersuchungen der philosophischen Probleme, sondern aus einer Kritik des Panlogismus Hegels und des Naturalismus hervorwachsen läßt. In den "Lebensanschauungen der großen Denker" und der "Geistigen Strömungen der Gegenwart" (ursprünglich "Grundbegriffe der Gegenwart"), die der wissenschaftlichen Philosophie noch am nächsten stehen, nimmt er aus der Geschichte der Philosophie das wesentlich "Lebensanschauliche" heraus und legt es im Sinne seiner Philosophie aus. Die Bücher "Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt", "Der Wahrheitsgehalt der Religion", "Erkenntnis und Leben" und "Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" wiederholen in immer neuen Wendungen dieselben Grundgedanken. Das Wertvolle dieser Gedanken ist weniger in ihrer sehr mangelhaften theoretischen Begründung gelegen als in ihrer das Bewußtsein der Selbständigkeit des Geistes trotz aller tiefempfundenen und in der endlichen Erfahrung unlösbaren Konflikte des menschlichen Daseins energisch aufweckenden Kraft. Eucken war in einem überwiegend praktisch-materialistischen Zeitalter einer der stärksten S e e l e n e r w e c k e r, die Deutschland besessen hat. Reinsten germanischen Blutes (Friese), besitzt er in seltener Weise Vorzüge und Fehler des germanischen Geistes: eine ahnungsvolle Intuition übersinnlicher Realitäten, ein energisches Festhalten dieser Realitäten inmitten tiefst empfundener Widerstände der "Welt" gegen die Verwirklichung der geistigen Forderungen; aber auch alle Vagheit und Nebelhaftigkeit, Unbestimmtheit und Dunkelheit nordischen Geistes. Das "Geistesleben", das bei ihm zwischen historischer Realität und metaphysischer Potenz eigenartig in der Mitte schwebt, wird von dem natürlichen Seelenleben, das der Mensch mit dem Tiere teilen soll, scharf unterschieden. Es soll in "noologischer Methode" (eine eigentümliche Erweiterung der Methode Kants) nicht durch Introspektion, sondern an seinen W e r k e n und Systemen des Lebens ("Syntagmen") studiert werden. Es soll nicht nur in jeder Einzelseele, sondern auch in den großen kollektiven Gruppen der Geschichte als selbständig tätig aufgefaßt werden. Trotzdem soll es in scharfem Gegensatz zum Hegelschen Panlogismus nur durch tätige Ergreifung des Einzelmenschen diesen zur "Persönlichkeit" und zur "Wesensbildung" erhöben. So ist Eucken im letzten Grunde mehr theistischer Personalist als Pantheist, obgleich eine starke pantheistische Ader seine Philosophie durchzieht. Mit Methoden, die denen Pascals in den "Pensées" ähnlich sind, sucht Eucken mit starker Heranziehung dessen, was er für den relativen Wahrheitsgehalt der naturalistischen und pessimistischen Systeme hält, zu zeigen, daß dieses "Geistesleben" in der Welt verloren und in letzter Linie bedeutungslos ist, wenn es nicht aus einem geistigen W e l t g r u n d e immer neu schöpferisch herströmend und in die Menschenseelen einquellend verstanden und geschaut wird. Während die ältere Philosophie die Vernunft des Menschen zum Reiche der "Natur" rechnete und ihr das Reich der "Übernatur", der "Gnade" entgegensetzte, wird die zum Geistesleben erweiterte Vernunft des Menschen bei Eucken selbst etwas "Übernatürliches". Das macht den g n o s t i s c h e n Charakter der Euckenschen Philosophie aus, die Religion und Metaphysik in einem für sie beide unstatthaften Sinne vermischt.

Die Philosophie Fechners, der durch seine Begründung der Psychophysik neben Wundt als der eigentliche Begründer der Experimentalpsychologie gelten muß, hat auf die gegenwärtige Philosophie eine nur geringe Wirkung ausgeübt. Sein Versuch, die Empfindung als psychische Größe nachzuweisen und sie durch die Einheit des eben merklichen Empfindungsunterschiedes zu messen, ist sowohl nach seinen methodologischen Voraussetzungen als nach seiner psychologischen Voraussetzung hin (man könne die Empfindung unabhängig von den Aufmerksamkeitsschwankungen überhaupt im Bewußtsein vorfinden) fast allgemein zurückgewiesen worden. Stark wirkte zeitweise seine Lehre vom psychophysischen Parallelismus, die, wie wir noch sehen werden, freilich in der Gegenwart gleichfalls an Einfluß stark verloren hat. Seine eigentliche Metaphysik der "Tagesansicht" und der Allbeseelung hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die ihr meines Erachtens innewohnt. Auch die nächststehenden Forscher, wie Ebbinghaus und Wundt, haben diese Seiten seiner Philosophie meist als bloße "Poesie" und Begriffsdichtung abgelehnt. Was allein bis heute einen Einfluß ausübt, ist der auch von E. von Hartmann aufgenommene Gedanke einer "induktiven Metaphysik". Sie beruht bei Fechner auf den beiden Grundsätzen, daß, was in einem Teile der Welt als unauflösbare Grundart des Seienden enthalten ist, auch im Ganzen enthalten sein müsse (Mikrokosmos- und Makrokosmoslehre), und daß wir vermittels der Analogie in der Lage seien, unser Wissen über das unmittelbar und mittelbar in der Erfahrung Gegebene kontinuierlich zu erweitern. Diesen Gedanken haben auch viele moderne Metaphysiker, so Külpe, Driesch, Stern, Becher, Scheler und andere, aufgenommen. Eine starke Wirkung hatte Fechners teleologische Ganzheitsbetrachtung der E r d e als des besonderen Leibes und Ausdrucksfeldes einer Erdseele in der modernen Geographie. In diesem Sinne sind Ratzels Arbeiten und noch mehr die gegenwärtigen Arbeiten des Wiener Kulturgeographen Hanslick stark von Fechner beeinflußt. Wie immer man über Fechners Resultate urteilen mag, es muß als eine recht unerfreuliche Tatsache bezeichnet werden, daß die stets tiefsinnigen und sinnreichen Betrachtungen dieses seltenen Geistes, die dazu in Stil und Ausdruck für weitere Kreise der Gebildeten geschrieben sind, so sehr wenig gelesen werden. Daß ein Haeckel so viel und ein Fechner so wenig in Deutschland gelesen wurde, ist eine für die Mentalität des deutschen Volkes vor dem Kriege recht charakteristische Tatsache.

Hermann Lotze (1817-1881) wirkt in die Gegenwart insbesondere nach zwei Richtungen herein: einmal durch seine "Logik" (auch in der "Philosophischen Bibliothek" erschienen 1912), deren Kapitel "Über die platonische Ideenlehre" auf die neukantischen Schulen und auch auf Husserl stark gewirkt hat, und durch seine Lehre von der psychophysischen Wechselwirkung. Außer diesen beiden Bestandteilen seiner Philosophie und abgesehen von seinen Wirkungen auf die Psychologie (besonders seine Theorie der Lokalzeichen) hat nur noch der metaphysische Gedanke Lotzes eine stärkere Wirkung geäußert, daß eine Wechselwirkung zwischen einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn ein und dasselbe ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende, in allen gemeinsam tätig und von allen gemeinsam reizbar sei. Diesen Gedanken hat z. B. auch Driesch in seine "Wirklichkeitslehre" aufgenommen. Lotzes großes geschichtsphilosophisches Werk "Mikrokosmos" (5. Auflage 1909) hat wohl wegen seines allzu gewundenen ziselierten und koketten Stiles nicht die Wirkung geübt, die ihm vermöge seines Gedankengehaltes zugekommen wäre. Für den Fortschritt einer Philosophie der Biologie waren Lotzes Artikel über "Lebenskraft" und über "Seele und Seelenleben" in Wagners "Handwörterbuch der Physiologie" in denen er für Physiologie und Biologie eine strenge Durchführung der mechanistischen Methode fordert (um dann erst dem Ganzen des Weltmechanismus hinterher eine ideale und teleologische Bedeutung zu geben), nach meiner Ansicht starke Hindernisse. Sie gaben der in unserem Lande besonders stark verbreiteten mechanistischen Lebensauffassung, besonders bei den Naturforschern, ein gutes Gewissen — das eine aufrichtige und genaue Betrachtung der Tatsachen nicht im entferntesten gerechtfertigt hätte. Die stark kokette und süßliche Christlichkeit Lotzes konnte in religiöser und theologischer Hinsicht tiefere Geister nicht gewinnen. Immerhin haben insbesondere seine Lehre von Wert und Werturteil auf die Ritschlsche Theologie und Dogmatik stark eingewirkt, wenn sie sich freilich hier auch meist mit neukantischen und positivistischen Voraussetzungen verbanden. In der Ästhetik endlich wurde Lotze durch seine Lehre von der "Einfühlung" auch auf die letzten bedeutenden Einfühlungsästhetiker der Gegenwart, auf Lipps und Volkelt, erheblich wirksam.

Die einzige Persönlichkeit, deren geistige Spannweite alle philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfaßte und dazu alle Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der einseitigen Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat, war E d u a r d v o n H a r t m a n n (1842-1906). Es ist eine der merkwürdigsten Tatsachen in der deutschen Geistesgeschichte, daß dieses reifste, durchdachteste, alle Wissensgebiete und die Religion umfassendste Gedankensystem, welches die zweite Hälfte des Jahrhunderts überhaupt hervorbrachte, nach anfänglichem Tageserfolg der "Philosophie des Unbewußten" (1869) auf die wissenschaftliche Philosophie zunächst kaum eine Wirkung ausgeübt hat. Der große Denker versuchte vergebens, einen Ruf an eine deutsche Universität zu erhalten. Gewiß besteht der Grund nicht nur in der allgemeinen Metaphysikscheu der Zeit und der einseitigen Herrschaft neukantischer und positivistischer Richtungen; ein Teil der Gründe liegt auch in der Eigenart der Philosophie Hartmanns und der Persönlichkeit ihres Urhebers selbst. Bei aller Kraft logischer Organisation großer Stoffmassen, bei all seinem ungeheueren Wissen und seiner Gelehrsamkeit gebrach dem Forscher ein unmittelbares originäres Verhältnis zur Welt. Seine Philosophie ist mehr eine überaus kunstvolle Verbindung von philosophischen Gegebenheiten (Schelling, Hegel, Schopenhauer, Lotze, moderne Naturwissenschaft und Psychologie) als ein neues Wort. Darin bildet er den größten Gegensatz zu Schopenhauer, der an logisch-synthetischer Kraft ihm weit unterlegen ist, aber, wie er selbst an seinen Verleger schrieb, den unmittelbaren "Eindruck", den die Welt auf ihn gemacht, in seiner Philosophie schon als Jüngling wiedergab. Auf Hartmanns System kann hier nicht eingegangen werden. Sein in Karlsruhe lehrender Schüler Arthur Drews hat die beste Darstellung von ihm gegeben: die bekannten, von Hartmann selbst verfaßten "Grundrisse" führen am besten in es ein. Um so merkwürdiger ist es nun aber, daß die g e g e n w ä r t i g e Philosophie begonnen hat, die großen Werte auszuschöpfen, die in seinem Werke zweifellos vorhanden sind. Abgesehen von den bedeutenden Leistungen seines Schülers A. Drews und einigen Antrieben, die er dem vielversprechenden Leopold Ziegler gegeben hat (vor kurzem hat sich dieser freilich in einer kritischen Schrift, "Hartmanns Weltbild", ganz von Hartmann abgewandt, indem er, ohne dem Denker gerecht zu werden, seine Lehre sehr einseitig an den Ansichten Rickerts mißt), hat sich W. Windelband für die Bedeutung Hartmanns eingesetzt. Besonders ist es seine "K a t e g o r i e n l e h r e", sein subtilstes und gewaltigstes Werk, das sowohl auf Windelband als auf Rickerts Schüler, E. Lask, stark gewirkt hat. Die Unterscheidung der "Reflexionskategorien" von den "Spekulativen Kategorien" die Unterscheidung ferner der drei Wirklichkeitssphären, der phänomenalen, objektiv realen und metaphysischen Sphäre, die Auffassung, daß die Relationskategorie der Ausgangspunkt der Ableitung a l l e r Kategorien sein müsse, die Ansicht, daß die Kategorien die Ergebnisse unterbewußter synthetischer Kategorialfunktionen seien, die nur in ihrem Ergebnis in das Bewußtsein hereinfallen (ihr hat sich auch G. Simmel in seinem Kantbuch angeschlossen), hat stark auf die Kategorienlehre der Gegenwart eingewirkt. Ferner erscheint Hartmann als einer der ersten Vorkämpfer des nunmehr siegreich vordringenden erkenntnistheoretischen R e a l i s m u s gegenüber allen Formen des Bewußtseinsidealismus. Hier war es besonders J. Volkelt, der in seinen Arbeiten "Über Erfahrung und Denken" und "Die Probleme menschlicher Gewißheit" die Hartmannsche Auffassung übernommen hat, daß unsere überall diskontinuierliche und durchbrochene, rein passive Bewußtseinswelt durch die Realsetzung einer außerbewußten Natur und die Setzung unter- und unbewußter psychischer Seins- und Wirksphären gedanklich ergänzt werden müsse, um einen rationellen Zusammenhang zu bilden. So wenig ich diese Richtung der Begründung des Realismus für aussichtsreich halte, scheint mir der gegenwärtige Gang zum Realismus doch von diesen Vorkämpfern stark abhängig. Auf den heute ungemein wirksamen Denker Hans Driesch hat E. von Hartmann in mehreren Richtungen eingewirkt: 1. mit durch Volkelts Vermittlung in erkenntnistheoretischer Hinsicht; 2. in der Auffassung, daß es keine b e w u ß t e n "Akte und Tätigkeiten" gebe, diese vielmehr zu dem rein passiven Bewußtseinsinhalt erst hinzu erschlossen seien (siehe Driesch: "Erkennen und Denken"); 3. in der Lösung des Problems der möglichen Koexistenz der mechanischen Zentralkräfte und Gesetze mit Gestalt und Richtung bestimmenden, mechanischen, unbewußten Oberkräften, durch deren Annahme der gewöhnliche Naturbegriff zwecks Erklärung der Lebenserscheinungen eine Erweiterung erfährt; 4. auch Hartmanns Lehre, daß es einen Parallelismus zwischen bewußten seelischen Erscheinungen, erschlossenen seelischen Tätigkeiten und den die organischen Formen und die Bewegungsreaktion der Organismen bestimmenden Tätigkeiten der vitalen Oberkräfte gebe, ist von Driesch und in einiger Modifikation auch von dem Referenten übernommen worden. Auch die gegenwärtige starke Bewegung zu einer r e a l i s t i s c h e n P s y c h o l o g i e im Unterschiede von bloßer Bewußtseinspsychologie (Külpe, Scheler, M. Geiger, Driesch, in gewissem Sinne auch S. Freud, W. Stern) ist zuerst in E. von Hartmanns Lehre in die Erscheinung getreten. Wesentliches von Hartmann übernommen hat ferner auch W. Stern in seinen originellen und zukunftsreichen Arbeiten "Person und Sache" und "Die menschliche Persönlichkeit". Besonders in der Annahme psychophysisch indifferenter zieltätiger Kausalfaktoren, die sich gleichzeitig in den physiologischen Vorgängen und Reaktionen, wie in den Bewußtseinsprozessen auswirken, steht Stern Hartmann nahe. Die methodische Auffassung der Metaphysik als induktiver und nur wahrscheinlichen Erkenntnis, die nur gradweise über die Realsetzungen der positiven Wissenschaften hinausgeht und das falsche Idol, gegen das Kant kämpft, das Idol einer absolut gewissen und apriorischen Begriffsmetaphysik, verwirft, hat unter den gegenwärtigen Metaphysikern viele Anhänger. Die naturphilosophischen Lehren Hartmanns, besonders soweit sie sich auf die anorganische Welt beziehen, sind dem heutigen Wissensstande der Physik nicht mehr angepaßt; was aber nicht ausschließt, daß seine Kraftzentrenhypothese, nach der aller Stoff nur eine bewußtseinsideale Erscheinung ist, in modifizierter Form wieder zu Ehren kommt. In der Religionsphilosophie hat Hartmann den sogenannten "konkreten Monismus" vertreten, der dem substanzialen Weltgrund ein logisches und alogisch-dynamisches Attribut zuschreibt, aus deren Kooperation und Widerstreit der gesamte Weltprozeß erklärt werden soll. Durch A. Drews sind diese Gedanken auch in die allgemeine m o n i s t i s c h e Bewegung eingeflossen. Den Wert dieser pessimistischen, Hegel, Schopenhauer und den späten Schelling verknüpfenden Metaphysik können wir ebensowenig als zukunftsreich erachten, als die willkürlichen geschichtsphilosophischen Konstruktionen Hartmanns, nach denen Paulus der Stifter des Christentums gewesen sei, und nicht in der Persönlichkeit Christi, sondern in den pantheistisch ausgedeuteten I d e e n d e r Gottmenschheit und der Erlösung das eigentliche Wesen des Christentums getroffen sei. A. Drews ist in seiner "Christusmythe" von diesen Anregungen Hartmanns her dazu gekommen, das Christentum als eine Schöpfung der allgemeinen Religionsgeschichte verstehen zu wollen und die historische Existenz Jesu ganz zu leugnen.

Die zweitälteste Schicht der gegenwärtigen Philosophie besteht in den an K a n t anknüpfenden erkenntnistheoretischen Denkrichtungen. So sehr sich nach meiner Ansicht diese Denkrichtungen in unaufhaltsamem Niedergang befinden, nehmen sie, dem Gesetz der historischen Trägheit folgend, doch noch einen sehr erheblichen Raum in der deutschen akademischen Philosophie ein. Mit Ausnahme der jüngsten, der durch Nelson erfolgten Wiedererweckung der Philosophie des Jenenser Physikers und Philosophen Jakob-Friedrich Fries, stammen sie alle aus der Zeit, da die deutsche Philosophie in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch den Rückgang auf Kant (zuerst O. Liebmann "Zurück zu Kant") sich wieder ein akademisches Existenzrecht zu erwerben suchte. Es sind v i e r Hauptgruppen kantianisierenden Denkens, die unter uns noch lebendig sind. Der neukritizistische Realismus ist besonders von Alois Riehl vertreten worden in seinem Werk "Der philosophische Kritizismus" und in seiner schönen und klaren "Einleitung in die Philosophie der Gegenwart". Das "Ding an sich", das die Marburger und Badener Schule vollständig ausscheiden, wird von Riehl als kausativer Faktor, auf dem die Materie der Empfindung beruhen soll, festgehalten. Unser Verstand erzeugt nicht das Sein der Gegenstände, sondern gibt nur ihrem Gegenstandsein die apriorische Form. Die logisch-synthetische Einheit des Bewußtseins ist nach Riehl die oberste Voraussetzung für die Gegenstände der Erfahrung. Ihm entspricht das synthetische Identitätsprinzip, von dem auch die Kausalität (ähnlich wie bei Herbart und Lipps) nur eine bestimmte Anwendung auf zeitliche Geschehnisse sein soll. Die Zeit- und Raumlehre Kants sucht Riehl mit den modernen empiristischen Theorien der Entstehung des Zeit und Raumbewußtseins zu versöhnen. Die O r d n u n g e n des zeitlichen und räumlichen Auseinander und Nacheinander werden nach ihm nicht durch die Anschauungsformen von Raum und Zeit, sondern durch die Dinge an sich selbst bestimmt.


Date: 2015-12-11; view: 709


<== previous page | next page ==>
DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 1 page | DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 3 page
doclecture.net - lectures - 2014-2024 year. Copyright infringement or personal data (0.007 sec.)