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DIE DEUTSCHE PHILOSOPHIE DER GEGENWART VON MAX SCHELER 1 page

Vom "Volksverband der Bücherfreunde" und dem Herausgeber aufgefordert, auf engem Raum ein Bild zu geben von der gegenwärtigen deutschen Philosophie, ist der Verfasser sich bewußt, daß der Gegenstand mehr wie je als ein im Werden befindlicher betrachtet werden muß. Die Tendenz auf Zersprengung vorhandener, lange bewährter Formen, die in den Sphären des sozialen Lebens, der Kunst (Expressionismus) und der Wissenschaft (Relativitätslehre) mit seltsamer Gleichzeitigkeit auftritt, ist auch in der Philosophie der Gegenwart weit größer, als es der erste Augenschein lehrt. Die besondere Absicht, die der sonst solchen Zusammenfassungen wenig geneigte Verfasser mit diesen Zeilen verbindet, ist, einem größeren Bildungskreise die Möglichkeit zu geben, sich durch eigene Gedankenarbeit in diejenigen Leistungen der gegenwärtigen Philosophie tiefer einzuarbeiten, die er nach eigenem philosophischen Urteil für die triebkräftigsten und zukunftsreichsten hält. Die menschliche und nationale Selbstbesinnung nach dem tiefgreifenden Zusammenbruch unseres Staates und unserer bisherigen gesellschaftlichen Ordnungen vollzieht sich in der Philosophie in der höchsten und durchgeistigtsten Form. Richtungen und Wege zu ihr mögen daher indirekt auch auf diesen Blättern mitbezeichnet werden. Es wird dem Verständnis dienlich sein, wenn der Verfasser schon hier am Anfange in vager Weise die formale Gestalt der Art von Philosophie bezeichnet, auf die hin das Beste der gegenwärtigen Arbeit zielt. Insofern behauptet er: Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S a c h philosophie, die auch die metaphysischen Weltanschauungsfragen in den Grenzen, in denen es Philosophie im Unterschied zur Religion allein vermag, in kritischer und vorsichtiger Weise wieder einer Lösung zuzuführen sucht, beginnt sich unter der methodischen Leitung des Satzes vom Primat des Seins vor dem Erkennen in der Gegenwart von den verschiedensten Seiten her aufzuarbeiten. Der Subjektivismus, erkenntnistheoretische Idealismus, Relativismus, Sensualismus, Empirismus und Naturalismus wird im Aufbau dieser Philosophie langsam ü b e r w u n d e n, und es wird wie von selbst eine Wiederanknüpfung der Philosophie stattfinden an die großen Traditionen jenes objektiven Ideenidealismus, der etwa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts das europäisch-christliche Denken immer noch notdürftig zusammenhielt — eine Wiederanknüpfung, die um so wertvoller sein dürfte, als sie ungewollt und aus der schlichten Untersuchung der Sachprobleme der Philosophie selbst sich ergibt: gleichzeitig aber das neue positive Wissen, das die Einzelwissenschaften erarbeitet haben, in sich aufnimmt. Diese Philosophie wird nicht sein wollen die D e s p o t i n der Einzelwissenschaften, wie in der sogenannten "klassischen" Epoche der deutschen Spekulation (z. B. Hegel), noch bloße D i e n e r i n der Einzelwissenschaften (als Erkenntnistheorie und Methodologie), sondern wird in dem daseinsfreien "W e s e n" aller Seinsgebiete der Welt einen selbständigen, n u r der Philosophie zugänglichen G e g e n s t a n d besitzen, den sie mit eigenen Methoden zu erkennen unternimmt.



Will man die Philosophie der Gegenwart verstehen, so wird man sie auf den größeren Hintergrund der Philosophie des 19. Jahrhunderts mit ihren Phasen projizieren müssen. Die Merkmale der G e s a m t g e s t a l t der Philosophie des 19. Jahrhunderts sind gegenüber der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts die folgenden:

Die Philosophie des 19. Jahrhunderts zeigt erstens eine weitgehende n a t i o n a l e Verengung. Der Denkverkehr der europäischen Nationen, wie er uns etwa in einer Figur wie Leibniz gegenwärtig ist, wird durch die steigende Ausbildung des nationalen Selbstbewußtseins und des nationalen Mythos erheblich geschwächt. Besonders in Deutschland wird mit Kant, obzwar dieser große Geist sich selbst noch vollständig als Bürger der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik fühlt, eine Denkrichtung angebahnt, die die deutsche Philosophie in starkem Maße aus der christlich-europäischen Tradition herauslöst und ihr einen national-partikularistischen Charakter auf viele Jahrzehnte hin erteilt.

Ein zweites Merkmal ist die wachsende V i e l h e i t der philosophischen Standpunkte, Schulen, Sekten. Indem die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen vorwiegend geschlossenen S y s t e m charakter annimmt und damit weit mehr als früher persönlich gebundener wird ("Romane der Denker" nannte es Sophie Germaine), in der zweiten Hälfte aber umgekehrt sich in Einzelwissenschaften aufzulösen oder als deren bloße Dienerin zu konstituieren suchte, geht beidemal der Gedanke "einer" s e l b s t ä n d i g e n Philosophie, an der Generationen und Völker g e m e i n s a m zu bauen haben, verloren.

Ein drittes Merkmal, das für die d e u t s c h e Philosophie besonders aufdringlich ist, ist die diskontinuierliche antithetische Entwicklung. Während sich die Philosophie der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert im großen Ganzen, um wenige Grundfragen bemüht, kontinuierlich entfaltete, ist das 19. Jahrhundert von Diskontinuität, Abbruch, plötzlicher Wiederanknüpfung an ältere Gedankenrichtungen durchzogen. Der Zusammenbruch der deutschen Spekulation nach Hegels Tod, die zeitweise Herrschaft des Materialismus in den Jahren von 1840 bis 1860, die Wiederanknüpfung an Kant (Neukantianismus), an Thomas von Aquin (Neuthomismus), später an Fichte und Hegel sind dafür nur die sichtbarsten Beispiele dieser Diskontinuität. Die Reaktions- und Restaurationsphilosophie der Romantik versuchte mit ganz subjektivistischen und unmittelalterlichen Methoden mittelalterliche I n h a l t e und W e r t e wiederzugewinnen, um auf diese Weise rein antithetisch und reaktiv die gewaltige zusammenhängende Vernunfts- und Menschheitskultur des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Bis zu Schopenhauer, Nietzsche, E. Rohde, J. Burckhardt, E. von Hartmann, ja bis zu O. Spengler hat die romantische Bewegung einen tiefgehenden Z w i e s p a l t in das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts hineingelegt, der bis heute unüberbrückt ist. Aller gegenwärtige "Irrationalismus" (Bergson, Theosophie usw.) knüpft wieder an sie an. Aus der Verbindung von Ausläufern der romantischen Bewegung mit der durch die Kenntnis des Sanskrit (in Deutschland zuerst verbreitet durch W. von Humboldt) erschlossenen Weisheit des Ostens (insbesondere Indiens) ist auch das gegenüber der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts gänzlich n e u e Element des metaphysischen, ethischen und geschichtsphilosophischen P e s s i m i s m u s (Schopenhauer, E. von Hartmann, Mainländer, Spir, in anderer Richtung Nietzsche in seiner ersten Phase) hervorgegangen. Auch der zuerst im Pessimismus erfolgende Eintritt der Philosophie des O s t e n s in die Geschichte des europäischen Denkens (in Deutschland besonders durch Paul Deußens "Geschichte der indischen Philosophie" verbreitet), ist ein s p e z i f i s c h e s Merkmal des 19. Jahrhunderts. Durch die im Krieg erfolgte stärkere Berührung der deutschen Bevölkerung mit dem Osten ist diese Bewegung noch gewaltig gefördert worden (Neubuddhismus, Theosophie, Anthroposophie); auch die Überwindung des "Europäismus" in der Geschichtsauffassung (der Hegel und Comte noch gemeinsam ist), das heißt der Methode, an die ganze Entwicklung der Weltgeschichte europäische Maßstäbe und geschichtliche Bewegungsformen anzulegen, ist in dieser Bewegung stark in Frage gesetzt worden. Indem die Romantik ferner das Studium der positiven Religionen in die Sphäre der allgemeinen Bildung hineintrug, hat sie auch die konfessionellen Bindungen des philosophischen Denkens gegenüber dem 18. Jahrhundert wieder bedeutend verstärkt. Sie hat ferner auf viele Jahrzehnte hin die philosophische Arbeit so einseitig auf das Studium der Geschichte der Philosophie hingerichtet, daß ein Mann wie Kuno Fischer sagen konnte: "Geschichte der Philosophie treiben heißt selbst philosophieren." Während Kant noch meinte, das "wäre ein armseliger Kopf, dem die Geschichte der Philosophie seine Philosophie ist", hat der historische R e l a t i v i s m u s in der Philosophie bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein die philosophische Arbeit aufs stärkste niedergehalten. Erst die Philosophie der letzten beiden Jahrzehnte ging daran, diesen Historismus zu überwinden. Freilich nur in maßvoller Weise: denn auch in den Forschern, bei denen sich die Philosophie, abgesehen von Erkenntnistheorie, in bloße Weltanschauungs l e h r e auflöst, d. h. in Typologie und Psychologie der Weltanschauung (W. Dilthey, M. Weber, K. Jaspers, H. Gomperz, O. Spengler) ist der aus der Romantik entsprungene Historismus noch stark gegenwärtig. Und nur in anderer, naturalistischerer Form erscheint er wieder bei den Neupositivisten (E. Mach, Levy-Brühl und anderen), die selbst die Denkformen und Denkgesetze soziologisch aus Traditionen und Erblichkeit herleiten wollen.

Ein letztes Merkmal der Philosophie des 19. Jahrhunderts ist es, daß sie aus Biologie, Geisteswissenschaften und der seit Fechner in die Philosophie eingegangenen Disziplin der experimentellen Psychologie weit stärkere Antriebe empfangen hat als die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Probleme überaus einseitig durch die mathematischen Naturwissenschaften Galileis und Newtons gebunden und bestimmt waren.

Auf diesem allgemeinen Hintergrund der Gestaltung der Philosophie des 19. Jahrhunderts überhaupt gewinnt die gegenwärtige Philosophie Deutschlands ein um so größeres Interesse, als ihre bedeutsamsten Erscheinungen, obzwar weitgehend genährt durch das gesamte Gedankengut der Philosophie des 19. Jahrhunderts, sich in vieler Hinsicht in scharfem Gegensatz zu dieser Gestaltung befinden. Die Philosophie der Gegenwart strebt danach, den mehr oder weniger a n a r c h i s c h e n Zustand zu überwinden, der — diese Merkmale zusammengeschaut — das allgemeinste unterscheidende Moment der Philosophie des 19. Jahrhunderts ausmacht. Dies wird die folgende Darstellung genauer erhellen.

Wir behandeln im folgenden nur die deutsche Philosophie der Gegenwart. Um so mehr müssen wir uns klarmachen, daß die deutsche Philosophie das Übergewicht, das sie vor hundert Jahren in der Welt besaß, längst verloren hatte. Der größte internationale Einfluß ist, wie K. Österreich in Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" I/6, 3. Auflage, treffend bemerkt, von der französischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten ausgegangen. Der Einfluß Bergsons und der Einfluß W. James' läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen. Andererseits wirkt die ältere deutsche Spekulation, insbesondere Hegel, im Ausland (besonders England, Amerika, Rußland, Italien) auch heute noch stärker als irgendein nachhegelscher deutscher Denker — mit Ausnahme vielleicht Nietzsches. Trotzdem waren die internationalen Beziehungen der deutschen Philosophie zum Auslande vor dem Krieg in starker Zunahme begriffen, und es ist aus manchen Anzeichen zu erhoffen, daß sie sich auch bald wiederherstellen werden.

Will man die gegenwärtige deutsche Philosophie zur ersten Übersicht in gewisse G r u p p e n ordnen und zugleich einige ihrer allgemeinen Charakterzüge hervorheben, so sind es vor allem d r e i Gegensätze, nach denen man diese Gruppierung vollziehen kann.

Der erste ist der höchst unerfreuliche Gegensatz einer nur engste Kreise berührenden streng wissenschaftlichen Fach- und Universitätsphilosophie und einer unmethodischen, wenig strengen, mehr oder weniger aphoristischen, aber weiteste Bildungskreise suggestiv in Bann haltenden "philosophischen Literatur". Im Gegensatz zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, zum Zeitalter Kants und Hegels, aber auch noch im Gegensatz zum Zeitalter Fechners und Lotzes, vermochte die akademische Philosophie das geistige Interesse größerer Bildungskreise bis vor kurzem n i c h t zu gewinnen. Um so mehr vermochte das aber eine philosophierende Literatur, deren Hauptexponent und Vorbild Nietzsche gewesen ist, eine Literatur, die ohne Verbindung mit der strengen Wissenschaft unmethodisch und weit unter der Niveauhöhe der großen Philosophie der Vergangenheit, in subjektiv persönlicher Form Meinungen und Werturteil ausspricht. Hierher gehören z. B. Erscheinungen wie R. Steiner, Johannes Müller, O. Spengler, W. Rathenau, Graf Keyserling, H. Blüher, die philosophierenden Mitglieder des George-Kreises und andere mehr. Dieser Z e r f a l l in zwei so gänzlich verschiedenartige Gattungen von "Philosophie" steht in scharfem Gegensatz zu allen philosophisch p r o d u k t i v e n Zeiten, und er muß vor allem aufgehoben werden, wenn die deutsche Philosophie sich aus der Anarchie des 19. Jahrhunderts wieder erheben soll. Das ist nur möglich, wenn zwei Arten von akademischer Philosophie langsam in den Hintergrund treten, die bisher an den deutschen Universitäten noch stark in Herrschaft sind.

1. Die traditionalistischen Standpunkts- und Schulphilosophien. Sie machen sich alle dadurch kenntlich, daß sie ihre eigene Namengebung mit dem Worte "Neu" beginnen (z. B. Neukantianer, Neuthomisten, Neufichteaner, Neuhegelianer), als wollten sie nach dem Gesetz: Lucus a non lucendo damit sagen, daß das, was sie lehren, etwas altes ist. Eigen ist diesen philosophisch-akademischen Richtungen das, was das Wesen jeder "Scholastik" ausmacht: daß man sowohl in der Arbeit an den Sachproblemen in Übereinstimmung mit einer historischen A u t o r i t ä t (wenigstens im "wesentlichen") zu bleiben sucht, andererseits aber die Meinung dieser Autorität immer so interpretiert, daß man noch sagen kann, die eigenen Sachforschungen stimmten mit ihrer Meinung überein. Diese fortgesetzte Angleichung von Sachforschung und historisch-philologisch interpretierter Meinung eines Philosophen h i n d e r t aber ebensowohl echte und reine Sacherkenntnis wie echtes historisches Verständnis. Am weitesten in dieser "scholastischen" Methode sind heute merkwürdigerweise nicht die sogenannten "Neuscholastiker" gegangen, sondern die Neukantianer, deren Sachforschungen wie geschichtliche Leistungen (besonders H. Cohen, P. Natorp, E. Cassirer) trotz ihrer mannigfachen Anregungskraft diesen Charakterzug durchgehends verraten. Eng verbindet sich Schulerstarrung, Anschauungs- und Wirklichkeitsfremdheit und eine geheime verzwickte Terminologie (die alle großen Philosophen der Geschichte n i c h t gekannt haben, und die schon von vornherein eine dicke Wand zwischen Philosophie und Bildung setzt) mit dem bezeichneten "scholastischen" Charakter. Erst mit Edm. Husserls "Logischen Untersuchungen" hat eine standpunkt f r e i e, nicht traditionalistische S a c h philosophie wieder in breiterem Maße eingesetzt, wenn auch Männer wie Franz Brentano, Rehmke, Driesch, B. Erdmann, Stumpf auch schon vor Husserls Auftreten die Philosophie in diese Richtung geleitet haben.

Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der deutschen Philosophie in methodisch strenge Sachphilosophie und "philosophische Literatur" ist in der Tatsache zu sehen, daß die gegenwärtige deutsche Philosophie jahrzehntelang, wie Lotze sich ausdrückte, nur "die Messer zu wetzen pflegte, ohne zu schneiden", daß sie, herausgewachsen aus dem sogenannten Neukantianismus (Otto Liebmann, Albert Lange, H. Cohen, P. Natorp), der nach dem Zusammenbruch der deutschen Spekulation die Philosophie zuerst wieder an deutschen Hochschulen möglich machte, sich aufs einseitigste, auf Erkenntnistheorie und Methodologie beschränkte und sich dabei im Grunde nur als Dienerin der Einzelwissenschaften fühlte. So übertrug sich der Fachcharakter auch auf die Philosophie, deren Wesen es doch gerade ausschließt, ein "Fach" n e b e n anderen zu sein. So gab sie nicht nur ihre zentralste und ihre wesentlichste Disziplin, die Metaphysik, meist völlig preis, sondern hatte außerdem zu dem übrigen geistigen Leben der Nation, zu den Problemen des Staates, der Gesellschaft, zu Kunst und Dichtung, zur Religion und zum Problem der Gestaltung und Bildung der geistigen Persönlichkeit kaum irgendeinen Zugang mehr. Die Übernahme einer großen Anzahl von Lehrstühlen durch Vertreter der "jungen experimentellen Psychologie" befestigten diesen Zustand noch mehr, zumal diese junge und verheißungsvolle neue Wissenschaft sich erst in den letzten Jahren ihrer Entwicklung auch den höheren geistigen Funktionen zuwendete oder doch durch gewisse, in ihr erwachsene Probleme, z. B. durch das Gestaltproblem, wieder stärkeren Anschluß an die philosophischen Fragen gewann. Auf seiten der "philosophischen Literatur" aber wurde der echten Philosophie nicht minder Abbruch getan: einmal dadurch, daß man in ganz unsachlicher und subjektivistischer Weise seinen Einfällen die Zügel schießen ließ, das Geistreiche und Blendende an die Stelle des Wahren, die Suggestion an die Stelle der Überzeugung im sokratischen Sinne setzte; ferner dadurch, daß man in mehr oder weniger gnostischer, die Selbständigkeit der Religion und der Mystik gegenüber der Philosophie total verkennender Weise die Philosophie von aller strengen W i s s e n s c h a f t loslöste und sie zu einer Sache von S e k t e n machte, die, im Gegensatz zu den akademischen Schul- und Standpunktsphilosophien, sich um das rein persönliche, echte oder scheinbare Charisma einer starken Natur gruppierten. So entstanden Sekten aller Art, die besonders zu nennen nicht notwendig ist. So ist es auch verständlich, daß das im 19. Jahrhundert fast verloren gegangene W e s e n der Philosophie in der Gegenwart erst wieder aufgesucht werden mußte (siehe E. Husserl: "Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos Bd. I, Heft I; siehe auch M. Scheler: "Vom Ewigen im Menschen", Bd. I, "Vom Wesen der Philosophie").

Ein zweiter Gegensatz durchquert die gegenwärtige Philosophie in d e r Richtung, ob sie in ihren Problemen mehr geistes- oder naturwissenschaftlich orientiert ist. Das wird in der folgenden Darstellung scharf hervortreten im Gegensatz sowohl der neukantischen und der südwestdeutschen Schule als in den Gegensätzen der einzelnen selbständigen Sachdenker. Auch dieser Gegensatz ist ein Zeichen dafür, daß wir eine u n i v e r s a l e Philosophie noch nicht besitzen: denn eine solche muß b e i d e n großen Daseinsgebieten, und zwar durch Vermittelung des selbständigen Sachgebietes der inneren und äußeren B i o l o g i e, ihr gleichmäßiges Interesse zuwenden und darf sich nicht als bloße "ancilla scientiae" zum einseitigen Vorspann e i n e r dieser Teile der Wissenschaften machen. Überhaupt ist nichts der Philosophie abträglicher als die bis vor kurzem in unserem Lande immer wieder erneuten Versuche, von den Gegebenheiten und Grundbegriffen einer Einzelwissenschaft her, das g a n z e Weltproblem lösen zu wollen. Solches geschah z. B. im sogenannten Psychologismus durch eine gänzlich unberechtigte Ausdehnung der Begriffe, "psychisch" oder "Bewußtsein": in der Energetik Ostwalds durch eine Verabsolutierung des Energiebegriffes, im Empfindungsmonismus Ernst Machs durch eine falsche Verabsolutierung des Empfindungsbegriffes; in gewissen Richtungen der "Lebensphilosophie" in einer falschen Ausdehnung und Verabsolutierung des Begriffes Leben, in der neukantischen Marburger Schule in einer falschen Verengung des Erkenntnisbegriffes auf mathematische Naturwissenschaft. Die Philosophie hat, von einer Lehre über die Grundarten der G e g e n s t ä n d e ausgehend und von dem Satze, daß sich alle Methoden nach der Natur, der Gegenstände zu richten haben (und nicht die Gegenstände nach Methoden), einen wahren Ausgleich zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Interessenrichtungen und methodischen Denkrichtungen herbeizuführen, die Wissenschaften auf dem Boden einer selbständigen philosophischen und allseitigen Erkenntnistheorie zu ordnen und in gegenseitige fruchtbare Beziehung zu setzen. Sie hat nach wie vor zwar nicht eine die Einzelwissenschaften erdrückende Despotin wie zur Zeit Hegels zu sein, noch weniger aber ihre Dienerin, sondern "Königin" in jenem legitimen letzten Sinn, der die wohlerworbenen Rechte der Fachwissenschaften von einem eigenen, eben nur philosophischen Standpunkt aus s e l b s t ä n d i g würdigt und achtet und sie für das Ganze unseres Weltbegriffes und unserer Weltanschauung fruchtbar macht. Die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Philosophie des Descartes und Leibniz vermochte gerade darum so häufig auch den Einzelwissenschaften R i c h t u n g zu geben und ihnen fruchtbare Anregung zu erteilen, weil sie im engen Konnex mit den Wissenschaften (und nicht losgelöst von ihnen, wie unsere Literatenphilosophie) sich nicht einseitig damit zufrieden gab, bloß zu formulieren, was die "Voraussetzungen der Einzelwissenschaften" seien und welche Methoden sie selbst anwenden. Die gegenwärtige Überwindung der Galilei-Newtonschen Naturansicht durch die vier großen naturwissenschaftlichen philosophischen Fermente unserer Zeit die Elektronentheorie, die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Plancksche Quantentheorie und die positiv-wissenschaftlichen und neuvitalistischen Versuche, den Organismus mit übermechanischen Agenzien zu erklären, sollten J e d e m zeigen, was aus einer Philosophie werden muß, die nur objektiv logische Voraussetzungen einer fälschlich verabsolutierten Wissenschaftsstufe zu suchen pflegt. Sie hört mit der Überwindung dieser Wissenschaftsstufe eben auf, irgendeine Bedeutung zu haben. Nur dann, wenn die Philosophie einen e i g e n e n G e g e n s t a n d und eine e i g e n e Methode besitzt allen einzelnen Seinsgebieten gegenüber, die als solche auch die positiven Wissenschaften erforschen, wird sie mehr sein können als die bloße Eule der Minerva der positiven Wissenschaft; und nur, wenn sie die S a c h e n selbst, nicht nur die Wissenschaft über die Sachen als bloße "Erkenntnislehre" sich zum Gegenstand setzt (freilich mit Einschränkung auf ihr daseinsfreies Wesen, ihre e s s e n t i a), kann sie der positiven Wissenschaft auch geben, anstatt bloß von ihr zu nehmen.

In Hinsicht auf einen dritten Gegensatz, der auch die gegenwärtige Philosophie noch unabhängig von einzelnen Sachproblemen bestimmt, nämlich dem Gegensatz der religiösen Traditionen (katholische und protestantische Philosophie), ist das Erfreuliche zu vermelden, daß dieser Gegensatz, der streng genommen in der Philosophie überhaupt keinerlei Rolle zu spielen hätte, auch tatsächlich stark zurückgetreten ist. Kant und seine von der Theologie ausgegangenen spekulativen Nachfolger hatten der deutschen Philosophie einen, geschichtlich gesehen, einseitigst protestantischen Charakter erteilt. Die katholische Philosophie oder, besser gesagt, die Philosophie des katholischen Kulturkreises ging, abgesehen von ganz wenigen Erscheinungen der Romantik (z. B. Franz Baader, Deutinger, Froschammer), ihre Wege völlig für sich, und es bestand bis vor kurzem keinerlei tiefere Berührung zwischen den Forschergruppen beider Konfessionen. Der von der Enzyklika "Aeterni patris" im Jahre 1897 von Leo XIII. angeregte Neuthomismus, der durch die Löwener Schule des belgischen. Kardinals Mercier auch eine für die modernen wissenschaftlichen Probleme etwas geöffnetere Form erhielt, hat den Gegensatz der philosophischen Richtungen beider Kulturkreise für viele Jahre hin noch erheblich gesteigert. Und je mehr die deutsche Philosophie sich durch Kant einseitig bestimmt erwies und die Weisungen Leos XIII. (der wohl an erster Stelle an eine einheitliche philosophische Unterweisung der P r i e st e r gedacht hat und, wie er selbst auf die Frage der Franziskaner versicherte, keineswegs das thomistische System zur allverbindlichen Norm für alle philosophischen Studien erheben wollte) gegen die Absichten des großen Papstes wie eine Art Dogmatisierung der thomistischen Philosophie interpretiert wurden, desto schärfer und unüberbrückbarer wurde der Gegensatz. Von den älteren deutschen Philosophen vermochten nur H e r b a r t in seiner Schule gläubige Anhänger beider Konfessionen zu vereinigen (z. B. Otto Willmann). Dieser Zustand hat sich in der Gegenwart weitgehend verändert. Besonders durch die direkten und indirekten Einflüsse Franz Brentanos und des von E. Husserl wiederentdeckten großen Logikers Bolzano, die beide noch in starker geistiger Kontinuität mit den großen Geistern der Scholastik philosophierten; ferner durch Husserl und die von ihm angeregten Forscher; endlich auch durch den starken Abbau des erkenntnistheoretischen Idealismus und durch das Wiedererwachen des erkenntnistheoretischen Realismus ist ein erfreulicher Denkverkehr zwischen den Philosophen der beiden Konfessionen in Gang gesetzt worden. Auch der Einfluß der österreichischen Philosophie (besonders Martys, Meinongs) auf die deutsche hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Über die stärkere und lebendigere Berührung der Philosophen beider Konfessionen auf metaphysischem und religionsphilosophischem Gebiet wird im einzelnen später noch zu berichten sein. Dagegen hat der Einfluß der naturalistischen und freidenkerischen Weltanschauungsformen auf die Philosophie (die ja nicht minder wie Katholizismus und Protestantismus im 19. Jahrhundert längst "Tradition" geworden sind) in der Philosophie der Gegenwart stark abgenommen. Haeckels und seiner Gesinnungsgenossen Philosophie hat in Deutschland nur in den M a s s e n, nie unter den eigentlichen Philosophen irgendwelche Bedeutung erlangt. Aber auch weit höher gerichtete und freiere Formen der naturalistischen Philosophie haben heute an Bedeutung stark verloren. Die Ostwaldsche Energetik, die in ihrem naturwissenschaftlichen Teile durch die moderne Atomistik wieder vollständig verdrängt ist, hatte für die theoretische Philosophie bedeutende Folgen nicht entwickelt. Der Positivismus, der aus Frankreich und England in gewissen Ausläufern auch zu uns gekommen war (E. Mach, Avenarius, Ziehen), zählt noch einige Anhänger, auf die wir später zurückkommen; er mußte aber der erkenntnistheoretischen realistischen Lehre und der dem Sensualismus und der Assoziationspsychologie ganz entgegengesetzten Entwicklungsrichtung der modernen Psychologie mehr und mehr weichen.

Die gegenwärtige Philosophie enthält zu einem großen Teile die Entwicklungsstadien des 19. Jahrhunderts noch als gegenwärtige Schichten in sich. Das gilt an erster Stelle von den Nachwirkungen älterer philosophischer S y s t e m e. Wir wollen, von den ältesten Schichten beginnend, die gegenwärtige Philosophie nunmehr betrachten, um, von ihnen fortschreitend, bei den neuesten Versuchen zu endigen.

Eines geringen Anhangs und einer steigend geringen Achtung auch bei der heute philosophierenden Jugend erfreut sich der naturalistische Monismus, der geschichtlich an die Zeit von Ludwig Büchners "Kraft und Stoff" (das von 1854 bis 1904 21 Auflagen erlebte) anknüpft. Gleichwohl muß dieses System hier genannt werden, nicht um seiner inneren Bedeutung willen, sondern weil es durch seine kaum abzuschätzende Verbreitung weniger in der deutschen Arbeiterschaft als im kleinen Mittelstand eine große Wirkung auf das deutsche Geistesleben gehabt hat. E r n s t H a e c k e l s "Welträtsel" waren bereits in den Jahren 1899 bis 1914 in mehr als 300 000 Exemplaren verbreitet und in 24 Sprachen übersetzt. Der deutsche Geist war im Ausbau der naturalistischen Philosophie zu allen Zeiten wenig produktiv; während in Frankreich und England die naturalistische Philosophie mit schärfstem Geist und der Form nach in strenger wissenschaftlicher Methode von Männern vertreten wurde, die, meist auf der Höhe der sozialen Stufenleiter stehend, sie in weltmännischer Form und nicht unbedeutendem Stil vertraten, ist der deutsche Materialismus und Monismus meist überaus grob, borniert und unwissenschaftlich gewesen. Seine Vertreter waren meist (wie schon Karl Marx bemerkt hat) "kleinbürgerliche", in Stil und Lebensform untergeordnete, philosophisch dilettierende Ärzte und Naturforscher, die ohne Kenntnis der Geschichte des europäischen Denkens und ohne Überschau über den Kosmos der Wissenschaften, aus der Ecke ihrer zufälligen Interessen herauß sogenannte "Konsequenzen der Naturwissenschaft" zogen. Diese Charakteristik gilt auch für den wirksamsten Vertreter dieser Richtung, Ernst Haeckel (geb. 1834). Seine "Welträtsel" (1899) und seine "Lebenswunder", zuletzt sein Buch über Kristallseelen sind philosophisch so gut wie wertlose Erzeugnisse. Mit Recht sagte Fr. Paulsen in einer Rezension der "Welträtsel", die in den "Preuß. Jahrbüchern" erschien: "Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes." Nicht minder scharf war das Urteil, das E. Adikes mit den Worten fällte: "Haeckel ist eben durch und durch Dogmatiker; darin steht er mit Büchner auf einer Stufe; als Naturforscher überragt er ihn weit, als Philosophen sind beide völlige Nullen." Der russische Physiker Chwolson zeigte in einer besonderen Schrift, wie völlig unfähig Haeckel war, auch nur den Sinn der einfachsten Grundsätze der theoretischen Physik, wie z. B. des Satzes von der Erhaltung der Energie oder gar des zweiten Wärmesatzes (den er einfach "verwirft") zu verstehen. Der bekannte Ameisenforscher Wasmann hat in einer besonderen Schrift, "Haeckel als Kulturgefahr", auch seine entwicklungstheoretischen Leistungen genügsam gekennzeichnet.


Date: 2015-12-11; view: 730


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